Definition/ Anfangsdebatte


First Installation: 13.05.2000 Last update: 13.05.2000


Matthias Bruhn: Ich gehe nochmals die Definitionsfrage an. Besonders reizt mich die Frage, ob das "Bild" (einer Mikrobe / vom Menschen / des Künstlers / meiner Erinnerung) aus verschiedenen Sprechertraditionen heraus etwas Grundverschiedenes oder überhaupt noch etwas Verbindliches meint.

Ich versuche es mit einem Schichtenmodell (bewußt kein Entwicklungsmodell):

- Es gibt eine Sphäre des Sehens: das Sinnesorgan Auge (das nicht unterscheidet nach Schein oder Realität, schön oder häßlich), die Wahrnehmung (Erinnerung, Auswahl von Gesehenem) und die auf den Eindrücken und ihrer Verarbeitung beruhende weitere Bewußtseinsbildung.

- Hierauf basiert eine Kultur des Sehens, die den Umgang mit dem Sehen meint (das Rahmen, Festhalten, Abbilden, Vergrößern und Verkleinern, aktive Erinnern von Gesehenem), sei es auf Fotos, in mikroskopischen Ansichten, in Gedächtniseinträgen; "Bild" meint hier das Klären, Überhöhen und Bereitstellen visueller Strukturen, etwas 'Eingefaßtes' oder 'Gebildetes' (vgl. 'Begriff' = Begreifen): ein zweckdienliches Mittel zur Erweiterung der visuellen Kompetenz des Menschen in seiner Umwelt.

- Hierauf baut eine Kultur des Bildes auf, die die didaktische Nutzung, die Pflege, traditionelle Weitergabe und Vervielfältigung von Kultbildern, Fotografien, Gemälden oder Netzwerkinhalten betreibt und mit "Bild" etwas Verehrungswürdiges, Erhaltenswertes, Weiterzugebendes meint (sei es als Akt kollektiven Erinnerns, als Kunst, als Archiv, als Bilddatei), das als Erkenntnisinstrument oder als Marktware einen gemeinsam anerkannten Stellenwert hat.

Eine "Bildwissenschaft" könnte wohl nicht umhin, die verschiedenen Sphären zusammenzutragen, was zwar eine herkulische Aufgabe ist, aber bei Themen wie "Kultur", "Erinnerung" oder "Bewußtseinsbildung" zu einer erheblichen Begriffsklärung beitragen dürfte.

Wolfgang Ernst: Im Unterschied zur Bildwissenschaft (Kunstgeschichte, Visualistik, wer auch immer dafür zuständig ist) plädiere ich für eine Bild m e d i e n wissenschaft, die einen radikalen Schnitt gegenüber der Epoche kulturgeschichtlich faßbarer Bildbegriffe setzt (die Zeit diesseits der optischen Medien).

Hans Dieter Huber: Können Sie das ein wenig erläutern? Was ist ihrer Ansicht nach da so radikal anders?

Wolfgang Ernst: Radikal anders - im Sinne eines medienarchäologischen Schnitts, also mit Diskontinuitäten statt mit Entwicklungen rechnend - ist der bildmedienwissenschaftliche Begriff, wenn er die Kopplung von Bild und technischer, d. h. berechenbarer Signalübertragung als das Neue gegenüber den diffusen Prozeduren neurologischer, künstlerischer oder foto-chemischer Bildgeneration zu fassen sucht. "Der Titel Optische Medien soll ein systematisches Problem anzeigen und die allgemeinen Prinzipien der Bilderspeicherung, Bilderübertragung und Bilderberechnung über ihre unterschiedlichen Realisierungen stellen" <Vorlesung Kittler, Ruhr-Universität Bochum, SS 1990>.
Womit ich bei meinem favorisierten subject wäre: erst im Raum digitaler Bilder eröffnet sich die Möglichkeit, Bilder im Medium des Bildes, immediat also, zu behandeln. Es eröffnet sich die Option einer Bildarchivierung jenseits der Verschlagwortung, jenseits der Ikonologie (meine Kritik an ICONCLASS und Foto Marburg), und auf der Ebene der Suchmaschinen das "image-based retrieval" bzw. "content based image retrieval" auf Pixel- und nicht Wortbasis - erst jetzt kommen damit Bilder buchstäblich (oder algorithmisch) zu sich.

Matthias Bruhn: Eine Spezialisierung der Fragestellung und eine Unterscheidung der historischen Epochen tut sicher not, allerdings ist mir aufgefallen, daß der Begriff "Bildmedien" auch in kunsthistorischen Titeln mittlerweile vielfach Verwendung findet, jedoch immer doppeldeutig. Auch bliebe mE. die Frage wichtig, wer sich der 'Epoche kulturgeschichtlich faßbarer Bildbegriffe' widmet; da wäre wohl die Kunstgeschichte im Verein mit anderen Fächern aufgefordert, verstärkt im Sinne einer "historischen Bildwissenschaft" zu argumentieren.

Wolfgang Ernst: Genau. "Historische Bildwissenschaft" im Unterschied zu einer Bildmedienwissenschaft, die unter Bild ein technisches Format und nichts anderes versteht. Vielleicht läßt sich daran eine andere Bildlesekultur ankoppeln: nämlich etwa die Kunst, aus einer Liste von Grauwerten das Bild herauszulesen, das der Computer daraus rechnet.
Oder die mathematische Formel zu entziffern, mit der Bilder fraktal komprimiert werden, und daraus - mental - das Bild zurückrechnen zu können. Bilder also aus Zahlen sehen.


Definition - Anfangsdebatte - Identität - Paradox

Joachim Maier: Sehr spannend finde ich gegenwärtig die doch einigermassen modernistisch angehauchten Versuche, mittels mehr oder weniger mächtigen Unterscheidungen unser Bilder-Phänomen in den Griff zu bekommen -- oder anders einen Startpunkt zur Identitätsentwicklung unseres sozialen Systems zu konstruieren -- post-modernistisch kann man Identitäten als Paradoxien beschreiben, die Handlungsräume eröffnen, die es in allen ihren Konsequenzen [Schizophrenie, Perversion, etc.] auszuhalten gilt -- da Fragen oft interessanter als Antworten sind: "Welches sind die identitätsstiftenden Paradoxien, die uns zusammenfügen + trennen?"

Martin Rost: Identitaeten als Paradoxien zu beschreiben, durchzieht meiner Ansicht nach saemtliche entwickelten philosophischen Formen. Zu unterscheiden waeren stattdessen die Strategien ihrer Entfaltung (, die wiederum vom erreichten Level der gesellschaftlichen Differenzierungen mit ihren unterschiedlichen Verfahren zur Selbstthematisierung abhingen). So loesten chinesische Philosophen Widersprueche nicht auf, sondern feierten diese als solche - was heute einerseits erstaunlich modern anmutet, nach der praxislogischen Wende der Aufklaerung aber ebensogut als naiv-passiv-magisch beurteilt werden kann. Vom Widerspruch auf Nichtexistenz schlossen die Vorsokratiker. Sie kaempften logisch noch mit dem Unterschied von Dilemma und Paradoxie und sozial mit der Thematisierung von Hierarchien. Vom zeitlich hierarchisierbaren Widerspruch als logische Reflexion auf empirische Konflikte als Movens fuer alles, was existiert, gingen Dialektiker aus. Sie kannten letztlich nur Hierarchien als logische Ordnungsmittel. Vom nicht aufzuloesenden Zugleich beider Seiten eines paradoxen Verhaeltnisses starten nunmehr die Postdialektiker und Postpositivisten. Sie entdecken Hierarchien als hochunwahrscheinliche Gebilde und bemuehen sich zugleich um logisch anspruchsvollere Konzepte als die der hierarchischen Anordnung (mehrwertige Logiken a la Gotthard Guenther oder Formenlogik a la Spencer-Brown).

Dieses soziale System - das wie alle sozialen Systeme aus der Paradoxie der doppelten Kontingenz entsteht und insofern Identitaet ausbildet, als dass bestimmte Kommunikationen anschliessbar werden und andere nicht -, reproduziert zum einen den Organisationszusammenhang Mailinglist qua Teilnahme sowie zum zweiten das Wissensschaftssystem, solange es sich um zu Argumenten zusammengebundene Begriffe bemueht, die vom Code wahr/ falsch organisiert werden. Erst die Referenz auf diese Systeme ermoeglicht die Thematisierung von "Bild" in dessen ganzer begrifflicher Unschaerfe und Fragilitaet bei vermutlich beliebigen psychischen Vorstellungen dazu - ohne dass daraus folgt, dass Konsens erzwungen werden muss. Es ist gerade die Fragilitaet der Kommunikation ueber "Bild", die sich unter diesen Bedingungen integrierend auswirkt.

Zur engeren Themenstellung moechte ich eine weitere Spekulation beisteuern:

Da die Kommunikation ueber Bild unerlaesslich ist, und zwar ueber alle drei Welten hinweg, macht die Suche nach einer plausiblen (und re-entry-faehigen) Differenz, die dem Begriff Bild in allen drei Welten je fuer sich eine Form zu geben vermag, guten Sinn. Ich schlage deshalb vor, den Bildbegriff durch die Differenz Ab-Bild / Vor-Stellung aufzuspannen und dabei zwecks Konturgewinnung den Vergleich zur Schrift zu suchen.

Die Paradoxie des Bildes darin besteht, auf Abbildung zu referenzieren bei gleichzeitiger Freigabe zur beliebigen Projektion, zu einem beliebigen, zumindest mentalen Vor-sich-Hinstellen als konstruktiven Akt. Das Bild entzieht sich der analytischen Aufloesung, es sei denn, es wird dazu in (Fach)Sprache transformiert. Diese Transformation in Sprache bzw. Schrift muss deshalb geschehen, weil es bei Schrift genau umgekehrt ist: Ihr konstruktiver, nicht-abbildender Charakter ist (zumindest heute, in vergleichsweise nach-magischen Zeiten) offensichtlich, der Schriftzug (die 01- oder ASCII-Codierung) Baum laesst sich nicht mit dem Baum auf der Wiese verwechseln. Zugleich verspricht Schrift, trotz (nein: gerade wegen) ihrer Aufloesung auf saemtliche externe Referenz die Beliebigkeit der Projektionen seitens Autor und Leser einzuschraenken, unter ihnen sogar eine von allen geteilte Bestimmtheit zu erreichen. Insofern besteht die Paradoxie der Schrift darin, qua Kuenstlichkeit und vollstaendiger Preisgabe des Ikonenhaften die Kontingenz der Konstruktion zu betonen, bei gleichzeitig bestehendem Anspruch, die Vorstellungen zum Thematisierten konsensuell zur Deckung zu bringen.

Vielleicht laesst sich das formelhaft so fassen: Das Bild schliesst parallel-konkret an, die Schrift seriell-analytisch. Diese Komplementaritaet macht sie fuereinander so attraktiv. Die tragische Seite von Abbild und Konsens besteht darin, dass sie weder tatsaechlich erreicht noch unbestritten in jedem Falle wuenschenswert (weder Abbild aesthetisch noch Konsens sozial), aber trotzdem kommunikativ als Unterstellung unabdingbar sind. Anmerkung 1: Der Computer spielt deshalb auch in dieser Diskussion eine herausragende Rolle, weil er beides, das Analytische und Konkrete auf eine neue Weise synthetisiert. Als man Bilder, die auf Konkretes referenzierten, immer kleiner werden liess, bis der Sprung zu einem Schriftzeichen vollzogen war - und schlagartig die Referenz nicht mehr auf etwas konkret Aeusseres, sondern auf die Stabilisierung, Unterscheidbarkeit und Variabilitaet von Zeichen durch Zeichen wechselte - war der Weg frei zur Verdoppelung der Welt in Schrift, die mehr und anderes als das, auf was sich zeigen liess, enthalten konnte. Mit dem Computer kommt es zu einer neuen Synthese: Mit Hilfe eines Alfabets 01 lassen sich Bilder generieren, die wie Abbilder aussehen (Baum auf einer Wiese), lassen sich Abbilder manipulieren, laesst sich bislang Unsichtbares simulieren.

Anmerkung 2: Ich vermute, dass sich der Schichtaufbau Wolfgang Ernsts durch diesen Vorschlag rekonstruieren liesse: "Sphäre des Sehens" als objekthafter Aspekt, bei dem die obige Differenz zum einen das Sinnesorgan Auge als auch die neuronalen Prozesse zu thematisieren gestattete (und die Vorstellung eines "Abbilds" so nahe liegt, man sich zugleich aber etwa von Maturana oder Gerhard Roth (Roth, Gerhard, 1988: Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit; in: Schmidt, Siegfried J., 1987: Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, 2. Auflage, 1988, Frankfurt am Main: Suhrkamp.) belehren lassen darf. Bewertungen bzw. Auswahl wuerde ich deshalb in dieser Schicht noch nicht unterbringen. "Kultur des Sehens" finde ich ungluecklich, hier wuerde ich zunaechst eine "Psychologie des Sehens" formulieren, in der Bewusstsein, die Auswahl und Bewertung des Gesehenen zu thematisieren waeren. Auch hier organisierte wieder die Oszillation zwischen Abbild und Vorstellung den Text. Klar, die "Kultur des Bildes" naehme die Sozialaspekte auf, bei denen sich bspw. nach den Gruenden fragen liesse, warum und wie die Malerei die Loesung vom Abbild und die Hinwendung zum Formalen vollzog. Den Eindruck eines hierarchischen Schichtaufbaus wuerde ich theoriebaustrategisch vermeiden, da dadurch Vorstellungen von Anfang und Ende suggeriert und sich bloss bequeme Kurzschluss-Kausalitaeten aufdraengen.)

Frage: Kann ein Bild als Bild ein anderes Bild bestaetigen bzw. einem anderen Bild widersprechen?

Andreas Schelske: Das ist das besondere an Bildern, daß sie die Negation innerhalb der bildhaften Bezeichnung (Ikon) nicht erlauben. Widerspruch oder Bestätigung bedarf aber der Negation, die - soweit ich sehe - nur innerhalb symbolischer oder indexikalischer Verwendungskontexte möglich ist.

Joachim Maier: Fragment einer Antwort ... Über Generationen wurde durch einen dauernden Prozess der Ab-Stimmung ein ´wirkliches Bild´ auch in unserem Denkkollektiv diszipliniert, der uns in Zuständen fiebriger Halluzination bisweilen aufwachen lässt aus dem Traum unserer Geschichten (weil wir den uns motivierenden Traum als (schreckliche) Realität fiebernd wiedererkennen und diesen Traum somit ins Reich der Geschichte (Erfahrungsraum) versenken) ...
Fragment einer Antwort ... schönes Beispiel zum Zwang des Stils bei Gemälden [=sind das bilder?], von dem man sich überzeugen kann, indem man auf ein gutes stilvolles Gemälde einen Ausschnitt eines anderen auflegt: die 2 Teile streiten miteinander, auch wenn man 2 Gemälde zueinander passenden Inhaltes wählt. Jedes Produkt geistiger Schöpfung enthält also Beziehungen, die gar nicht anders sein können und die den zwangsweisen, passiven (mechanisch unbewusst erduldeten) Koppelungen in den wissenschaftlichen Sätzen [=ideologien] entsprechen.


Hans Dieter Huber