Radikal anders 


First Installation: 13.05.2000 Last update: 13.05.2000


Matthias Bruhn: Gerade wollte ich fragen, ob digitale Bilder wirklich so anders sind als chemische: aber wenn man es von der Erschließung her sieht: Man stelle sich vor, an einem Karteikasten stünde anstelle eines Schlagwortes "nur" ein Schlagbild (frei nach Warburg): Wüßte dann noch jeder, was ihn in der Schublade erwartet? Dies auch als Nachtrag zu Claus' Ökonomielehre, denn wir wählen bei der Gestaltung der Graphischen Benutzerschnittstellen (kurz: bei der Bildschirmgestaltung) ja auch stets den Mittelweg zwischen "Anschaulichkeit" für den Nutzer und "Korrektheit" bei der Wiedergabe der Inhalte und Vorgänge.

Dann aber dennoch eine Frage: Wenn bei digitalen Bildern Algorithmen eine echte Erschließungsarbeit übernehmen, sollte eine Suchmaschine dann auch gar nicht mehr nach Begriffen suchen dürfen und sollten diese nicht als Keywords mit der Datei gespeichert werden (das heißt, ich scanne nur noch das gesuchte Muster ein und sage: gib mir Ähnliche?) Oder soll ich auch sagen dürfen: Gib mir "RAL 6002" oder "großes Haus" und eine Keywordliste sucht erstmal eine Reihe schon verbal erschlossener Thumbnails durch?

Wolfgang Ernst: genau so hat ja, wenn ich mich recht erinnere, Camillos Gedächtnistheater ausgesehen: Icons als Adressen für Schubladen (mit Texten) zumindest würde dann aus dem Schlagwort vom "visual thinking" ein (elektronischer) Funken Wahrheit springen, Das aber bedeutet eine drastische Umorientierung unserer Wissenserschließungskultur, die 2000 Jahre lang dem Diktat der Bibliothek unterworfen war. Schwer zu lösen a) für die Informatik und b) eine Trainingsaufgabe künftiger Ex-Kunstwissenschaften,

Stefan Heidenreich: "Womit ich bei meinem favorisierten subject wäre: erst im Raum digitaler Bilder eröffnet sich die Möglichkeit, Bilder im Medium des Bildes, immediatalso, zu behandeln. Es eröffnet sich die Option einer Bildarchivierung jenseits der Verschlagwortung, jenseits der Ikonologie (meine Kritik an ICONCLASS und Foto Marburg), und auf der Ebene der Suchmaschinen das "image-based retrieval" bzw. "content based image retrieval" auf Pixel- und nicht Wortbasis - erst jetzt kommen damit Bilder buchstäblich (oder algorithmisch) zu sich."

Das hat sich als eine der vielen Informatik-Hoffnungen herausgestellt, die sich nicht ganz erfüllten. Auf der Seite von Simone Santini, der in San Diego forscht, findet sich eine recht brauchbare Links zum Thema. http://vision.ucsd.edu/~ssantini/dbliterature.html

Das heisst allerdings nicht, dass man damit komplett gescheitert ist, sondern eher: dass über die Kompetenzen von Programmieren noch andere gefragt sein könnten, die sich überlegen, warum a) die Ansätze der Informatiker nicht wirklich Früchte tragen und wie man b) vielleicht doch einige der Möglichkeiten einlöst, von denen Wolfgang spricht.

Fragen auf die eine Bildwissenschaft Auskunft geben könnte:

Ich sage absichtlich nicht Bildmedienwissenschaft: weil es mir nicht sinnvoll erscheint, die Trennung die Kittler in der optischen medien-Vorlesung fordert, zur Denkbarriere eine Disziplin zu erheben auch wenn sie methodische erst einmal sinnvoll ist. Diese Barriere würde nämlich unter anderem die Aufklärung der oben genannten Fragenverhindern: warum die programmierten Ansätze des "content based image retrieval" noch nicht weit führen... (wovon sich jeder ein Bild machen kann, der einmal bei http://isurf.interpix.com/ auf die option visual search geht)

Andreas Schelske: Sehr geehrter Herr Bruhn, sehr geehrter Herr Ernst, Ihre kurze Debatte über die Archivierung von Bildern wäre aus meiner Sicht mit einem semiotischen Ansatzpunkt zu differenzieren.

Beispielsweise: Man stelle sich vor, an einem Karteikasten stünde anstelle eines Schlagwortes "nur" ein Schlagbild (frei nach Warburg): Wüßte dann noch jeder, was ihn in der Schublade erwartet? Würde man ein "Schlagbild" nehmen, was ja durchaus praktiziert wird, wäre die Archivierung der syntaktischen Dimension des Bildes verhältnismäßig einsichtig, da Materialität sowie der Stil kulturabhängig katogorisierbar zu sein scheinen. Zweifellos ist aus der Kunstgeschichte bekannt, welche Schwierigkeiten die Kategoriesierung von Bildern bereitet, da die "Ähnlichkeit" zwischen Bildern nicht aussagenlogisch falsifizierbar ist. Unterschieden werden müßte ein Archiv auch in Differenz zum Gedächtnis einer Gesellschaft, denn die Bedeutungen der Bilder lassen sich mit Bildern nur kaum so archivieren, daß sie längerfristig in einem Interpretationskontext bleiben, der der verbalen Sprachsymbole hinsichtlich der Stabilität vergleichbar ist.

Eine Keywordliste ist bisher ein viel praktizierter Weg gewesen insbesondere im Onlinebereich - um ein Bildarchiv zu erstellen. Auch hier würde ich vorschlagen, daß eine Gliederung der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimension eines Bildzeichens weiterhilft. RAL 6002 wäre dann als ein Qualizeichen, d.h. ein syntaktisches Zeichen der Qualität indessen "großes Haus" ein semantisches Zeichen der ikonischen Bezeichnung eines Hauses wäre. Was großes Haus bedeutet, wäre dann eine pragmatische Dimension, die nur schwer so archivierbar ist, daß sie auch wie gemeint erinnert werden kann.

Ich bin auch der Meinung, daß sich mit den neuen Medien die Möglichkeit eröffnet, ein "content based image retrieval" aufzubauen, dennoch kann ich gegenwärtig noch nicht sehen, ob Pixel die richtige Größe sind. Pixel fungieren semiotisch gesprochen lediglich als Qualizeichen (Zeichen der syntaktischen Qualität). Solche Pixel können sich alle "ähnlich" sein und trotzdem Unterschiedliches bildhaft bezeichnen. Ich würde meinen, daß ein "content based image retrieval" über die singuläre Sytaktik (Sinzeichen) und über den syntaktischen Bildstil (Legizeichen) möglich werden kann. Zudem auf kann auf der semantischen Ebene der bildhaften Bezeichnung die Trias von Ikon (Bezeichnung per bildhafter Ähnlichkeit), Index (Bezeichnung per Hinweis) und Symbol (Bezeichnung per arbiträrer Bezugnahme) eine weitere Archivierung vorgenommen werden, wobei Symbole auf Sprache angewiesen bleiben, sofern sie nicht in Ritualen oder anderen Handlungszusammenhängen stabilisiert wurden.

Eine Frage hätte ich noch, da ich konkret an der Umsetzung eines Online-Bildarchivs arbeite, gibt es ein paar einschlägige Literaturhinweise, die sich mit der Umsetzung von OnlineBildarchiven beschäftigen? Matthias Bruhn: Derzeit gibt es ebensoviele Projekte wie Meinungen zum Thema (Liste kann nachgereicht werden), siehe auch die Übersichten bei

- Getty Institute: http://www.getty.edu/gri/standard/haif/appendices/appendices1.html

- RKD Den Haag: http://www.rkd.nl/default.htm

- eine nach Gegenständen, Technologien usw. sortierte Auflistung von laufenden Projekten bei http://www.uni-koeln.de/~ahz26/zhsf/ - oder zB. die Links auf der Homepage unseres Hamburger Projektes (s. Signature).

Dies hat mehrere Gründe: Neben unterschiedlichen kommerziellen Interessen, Systemen und Investitionsmöglichkeiten vor allem das Zusammenkommen zu vieler Faktoren (Bildverarbeitung, Bibliotheks-und Informationswesen, Urheberrecht, Zielgruppen = Museum ist nicht Bildagentur). Daher gibt es auch Literatur von ganz verschiedener Seite, aber mW. keine

einschlägige (selbst wenn sie es behaupten würde).

Wir hatten zu dem Thema auch eine Tagung in HH, zu der es einen Band geben soll (s.ebenfalls unsere Warburg-Haus-Homepage > Veranstaltungen > frühere V.).

Wozu soll das Online-Archive denn dienen?

Dafür gibt es Empfehlungen zB. des Deutschen Städtetages zur EDV-Inventarisation, des Deutschen/Internationalen Museumsbundes, des Projektes Musealog, des Arbeitskreises Museums- und Kunstbibliotheken AKMB, der Konferenzreihe International Conference on Digitisation of European Cultural Heritage, Utrecht 1999 ("Conclusions and Recommendations"), die Publikationen der Konferenzreihe EVA Europe (Electronic Media and the Visual Arts, siehe http://www.vasari.co.uk/) usw.usw.usw.usw.usw.

Wolfgang Ernst: Gestern [3.5.2000 - die Readktion] sprach an der Ruhr-Uni Bochum im Rahmen der Ringvorlesung "Bildmedienwissenschaften" Dr. Rolf P. Würtz vom Bochumer Institut für Neuroinformatik über "Maschinelles Bildverstehen". Was ich verstanden habe ist u. a., daß die automatisierten Bilderkennungsverfahren (Gesichtserkennung vor laufender Kamera und Echtzeit-Abgleich mit einer angekoppelten Datenbank) keinen Unterschied mehr zwischen Bildgegenwart und Bildarchiv machen. Die Probleme des Datenabgleichs sind dieselben: Segmentierung in Objekte, Invarianzproblem, matching. Und so besteht "kein wesentlicher Unterschied zwischen Bildern und Echtweltszenen" (Würtz) womit die Lösung der digitalen Bildarchivierung und -findung auf den Gebieten zu suchen ist, die derzeit unter MPEG-7 diskutiert werden (als Norm zur i n h a l t l i c h e n ) Beschreibung von Bildern, d. h. Suchworte werden in Bilder übersetzt.

Matthias Bruhn: Das hieße also ganz grob: dem Computer ist es egal, ob er ein Gesicht sieht oder das Foto eines Gesichtes - solange er nur beides nach bestimmten Kriterien abfragen kann?

Wolfgang Ernst: Genau. Denn er verwandelt alles in einen String von Grauwerten, und ihm ist egal, ob wir das Bild nennen oder nicht. Die Frage wäre, ob wir je lernen, solche Werte als Bild zurückzulesen.

[-> Fortsetzung siehe Zurücklesen]


Hans Dieter Huber