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First Installation: 13.05.2000 Last update: 13.05.2000


Matthias Bruhn: Das hieße also ganz grob: dem Computer ist es egal, ob er ein Gesicht sieht oder das Foto eines Gesichtes - solange er nur beides nach bestimmten Kriterien abfragen kann?

Wolfgang Ernst: Genau. Denn er verwandelt alles in einen String von Grauwerten, und ihm ist egal, ob wir das Bild nennen oder nicht. Die Frage wäre, ob wir je lernen, solche Werte als Bild zurückzulesen.

Matthias Bruhn: Hier wäre z.B. Platz für die "evolutionäre Erkenntnistheorie", die sich zwar oft genug in Widersprüche verstrickt, aber auch für die "Bilddefinition" interessant wäre: Die menschliche Wahrnehmung erkennt ja einen Unterschied zwischen Bildern und Echtweltszenen unter anderem, weil sie zwischen Gedächtnis und Umwelteindruck unterscheiden kann: Das Gedächtnis ist unscharf und gefiltert: Wie zB. die Abbildung in einem Buch ist ein visueller Erinnerungsschatten von Begleiteindrücken wie Lärm, Geruch usw. befreit (was nicht heißt: Erinnerung = Repro; der Unterschied besteht weiterhin in der Koppelung von Traum und Erinnerung an Stimmungen, Erlebniszusammenhänge usw)

Die Unterscheidung von Bild und Realität, die auch die Selbstdefinition des Menschen befördert, dient aus Sicht einer solchen philos. Richtung also der Überlebensfähigkeit des Menschen, weil sie der Anpassung des Wahrnehmungssystems an die Umwelt entspricht.

Werden solche Funktionen durch Bereitstellung von Informationssystemen aufgeweicht, welche die Automatisierung b e s t i m m t e r Erkennungsmechanismen zum Ziel haben? Eine optimierte Bildtechnologie soll ja bestimmte Muster besser, schneller, objektiver wahrnehmen als das menschliche Auge/Bewußtsein und Prothesen bereitstellen - sie muß andere Faktoren dafür beiseite lassen (eine Brille schärft die Sicht, verändert sie aber auch; ein Fernrohr sieht weiter, ist aber auch lichtschwächer usw.). Damit verändert sie - gewollt oder ungewollt - das Bild im Sinne herkömmlicher Wahrnehmungs- und Gestaltungsbegriffe zugunsten eines apparathaften Bildes.

Die Frage wäre von der Technologie zu beantworten: was ist überhaupt ihr langfristiges Ziel? Soll sie nur bestimmte Muster 'analysieren', die sich automatisieren lassen, dann muß die Frage beantwortet werden: was ist z.B. an einem Gesicht automatisierbar? Diese Frage kann nicht der Ingenieur entscheiden. Oder soll sie im Sinne der KI komplexe Muster 'wahrnehmen', dann wird sie die weichen Faktoren menschlicher Wahrnehmung als Ziel haben, sie nachahmen und am Ende genauso scharf u n d unscharf sehen wie das menschliche Bewußtsein. Eine optimale Bilderkennung kann es also genausowenig geben wie ein optimales Programm, das alles kann, es kann immer nur "Organe" oder "Prothesen" geben. Oder?

Wolfgang Ernst: So daß die Strategie, entgegen der aktuellen Interface-Ästhetik, nicht lauten sollte, die Differenz zwischen menschlicher und maschineller Bildwahrnehmung immer mehr anzugleichen, sondern die Differenz gerade auszustellen, zur Profilierung der gegenseitigen Stärken und Schwächen (maschinelle Privilegierung der Syntax gegenüber der humanen Fixierung auf Semantik). Gebt dem Rechner, was des Rechners ist.


Hans Dieter Huber