Eine Didaktik der Irritation - Lehrkonzept für einen Grundlagenkurs
1.
Aufbauend auf die erste Annäherung
an das Forschungsprojekt "Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter"
soll an dieser Stelle eine Didaktik und Konzeption eines Grundlagenkurses
für die Student/innen der Kunstakademie Stuttgart vorgeschlagen
werden. Vorerst werden jedoch in einem Rückblick die wesentlichsten
Argumente der ersten Annäherung dargelegt, die in der weiteren
Konzeption eine Rolle spielen:
Erstens: Eine Vermittlung visueller Kompetenz als integraler Bestandteil
des Unterrichtsfachs Kunst kann auf das Konzept der "Visuellen
Kommunikation" aufbauen, dabei die zeitgenössische Kunst
als eine "Avantgarde des Medienexperiments" als Anschauungsmaterial
einbeziehen und zugleich von der projektorientierten außerschulischen
Medienpädagogik didaktische Modelle übernehmen.
Zweitens: Das Konzept des Projektunterrichts besteht in der freien
Wahl des Vorhabens in der Gruppe, das dann umgesetzt und im kommunikativen
und reflexiven Prozess für den Einzelnen kritisch nachvollzogen
werden kann. Nur so wird von vornherein verhindert, dass die Kompetenzvermittlung
in eine reine technische Ausbildung mündet, und nur dann
wird eine kommunikative Mündigkeit aller Beteiligten von
Anbeginn gewährleistet. Der Einzelne wird im Idealfall zu
einem selbstbestimmten, entscheidungsfähigen und gestaltungsfähigen
Subjekt gegenüber den Medien. Gleichzeitig wird das Subjekt
in eine demokratische Praxis eingebunden, die ein demokratisches
Lernen im Projekt und mit neuen Kommunikationsmöglichkeiten
erlaubt.
Drittens: Das Konzept des Projektunterrichts wird an der Hochschule
vorweggenommen und ausprobiert, um daraufhin die Erfahrungen zu
sammeln und direkt den Kunsterzieher/innen zu vermitteln. In einer
Art Selbstversuch erleben die Studierenden in der Lehrveranstaltung
bereits alle Facetten einer Projektmethode.
Viertens: Im Projektunterricht gestaltet sich besonders die Wahl
des Vorhabens bzw. die Formulierung eines Ziels in der Gruppe
als schwierig und führt allzuoft zu Nachahmungen bereits
bekannter Projekte. Anstöße zu andersartigen Ideen
werden meist erst dann geliefert, wenn bereits ein Vorwissen über
den Gegenstand vorhanden ist. Um dieser Problematik zu entgehen,
erweist sich eine theoretische Auseinandersetzung, die vorangeht
als sinnvoll. Zudem ist ein Basiswissen über die technische
Handhabung unabdingbar.
Genau hier setzen die folgenden Ausführungen an. Es geht
um die Ausarbeitung eines Grundlagenkurses, der den Student/innen
ein Basiswissen sowohl in der technischen Handhabung wie auch
in der wissenschaftlich-theoretischen Reflexion und der kommunikativen
Kompetenz vermitteln soll. Dieser Grundlagenkurs wird als wöchentliches
Seminar und als einwöchiges Blockseminar entwickelt und durchgeführt.
Beide Seminare sind dabei inhaltsgleich. Dies hat zum Vorteil,
zwei verschiedene Seminarformen im Vergleich zu haben. Gewöhnlich
wird bei technisch aufwendigen Unterrichtsinhalten die Form der
Blockveranstaltung vorgezogen. In Schulen ist jedoch meist ein
wöchentlicher Unterrichtsrhythmus vorgegeben, der nur selten
verlassen werden kann. Indem der Grundlagenkurs an der Kunstakademie
in beiden Seminarformen angeboten wird, können die Vorzüge
und Nachteile der jeweiligen Veranstaltungsform erkannt und Verbesserungsvorschläge
ausgearbeitet werden. Darüber hinaus wird insbesondere die
einwöchige Blockveranstaltung als Modell für eine Lehrerfortbildung
fungieren.
2.
Das Themengebiet einer Netzkommunikation
innerhalb des Kunstunterrichts besticht durch seine Komplexität.
Fragen nach Technik, Theorie, Gestaltung und Wahrnehmung berühren
allesamt dieses Feld und zeigen sich für eine Kompetenzbildung
der visuellen Kommunikation als unhintergehbar. Es ist ein interdisziplinäres
Feld, das sich hier auftut und dem mit einem vielschichtigen Grundlagenkurs
Rechnung getragen werden muss.
Drei Komponenten erscheinen für die Grundlegung eines Basiswissens
wesentlich: das Erlernen einer technischen Fertigkeit für
die Produktion und Kommunikation digitaler Bildinformationen,
die wissenschaftlich-theoretische Auseinandersetzung für
die Reflexion und Diskussion über Veränderungen in den
Kommunikationsprozessen und die visuelle Erfahrung, Rezeption
und Analyse bestehender Netzstrukturen. Alle drei Komponenten
technische Handhabung, theoretische Bildung, visuelle Erfahrung
sollen im Kurs gleichgewichtig aufeinander treffen. Genau
genommen sollen sie auf Konfrontation gehen. Wissen, Wahrnehmung
und Praxis in einem Konfrontationszustand lassen Widersprüche
auftreten, ergeben ein Konfliktpotenzial, wodurch das jeweils
eine in einem anderen Licht erscheint. Die Konfrontation der drei
Komponenten führt zu Irritationen beim Lernenden, durch die
Lernprozesse angeregt werden können. Das Lehrkonzept ist
somit weniger ein fixierter, ineinander genau abgestimmter Lehrplan
als vielmehr ein Möglichkeitsfeld für selbstlernende
Individuen. Hinter dem Lehrkonzept steht die Idee einer "Didaktik
der Irritation", die auf das kognitive Entwicklungsmodell
Piagets und dem Konstruktivismus zurückgreift.
Kognitive Entwicklung umfasst die Veränderung der Erkenntnisprozesse
und des Wissens und damit der Wahrnehmung, des Denkens,
der Vorstellung, des Problemlösens. Diese geistige Entwicklung
ist nicht 'naturwüchsig', sondern erfahrungsabhängig.
Dabei ist nicht jede Erfahrung geeignet, eine Entwicklung neuer
Denk-Schemata zu fördern. Vielmehr muss sie den existierenden
Schemata im geringen Maße widersprechen, damit eine erfolgreiche
kognitive Entwicklung erreichbar erscheint.
Nach Piaget werden sämtliche Informationen aus der Umwelt
entweder in das vorhandene Denk-Schemata integriert (Assimilation)
oder die Schemata selbst werden verändert, um der Information
angemessen zu sein (Akkomodation). Assimilation und Akkomodation
unterliegen dabei dem allgemeinen Entwicklungsprinzip: dem Gleichgewichtsmodell
bzw. Äquilibrationsmodell. Es sind die Schemata untereinander
oder die Schemata und Informationen, die in einem Gleichgewicht
bzw. Ungleichgewicht stehen. Entwicklung wird als eine fortlaufende
Folge von Gleichgewichts- und Ungleichgewichtszuständen verstanden,
wobei das Ungleichgewicht vom Gleichgewicht auf einem höheren
Niveau abgelöst wird. Den Anstoß zum Denken gibt die
Störung eines Gleichgewichts aus inneren oder äußeren
Gründen. Piagets zentrale Idee für die Erklärung
der kognitiven Entwicklung besteht darin, dass vorläufig
etablierte Gleichgewichte auf einer bestimmten Stufe gestört
und auf der nächsthöhreren Stufe in verbesserter Form
wieder hergestellt werden. Störungen bewegen dazu, sich mit
den Umweltgegebenheiten auseinanderzusetzen und sich neuen Bedingungen
anzupassen. Störungen, die Konfliktsituationen für den
Lernenden erzeugen, sind von daher wesentliche Faktoren für
neue kognitive Konstruktionen im Lernprozess. Lernen heißt,
ein Konstrukt von Welt im Lernprozess stets zu verändern
und anzupassen.
Irritationen sollen als ein notwendiges Element im Lernprozess
angesehen werden. Kognitive Konflikte im Unterricht können
durch Widersprüche geschaffen werden und den Lernenden zu
einer Lösung des Problems geradezu drängen. Das Hervorbringen
von Irritationen ist ein didaktisches Prinzip, das gleichzeitig
motivierend wirken kann. Es muss das Ziel der Unterrichtsstruktur
sein, die Lernenden ihre eigenen Verfahrensweisen zur Lösung
von Problemen erfinden und ein eigenes Netzwerk von Erkenntnisbeziehungen
konstruieren zu lassen.
Lernprozesse sind im Kern kommunikativ (Habermas). Eine reflexive
Vertiefung individuell gewonnener Einsichten bietet die Diskussion
und der Austausch von Argumenten. Der Wissenserwerb in der Unterrichtssituation
wird dann zu einem kollektiven Konstruktionsprozess. Die am Lernprozess
Beteiligten Lehrende und Lernende werden hierdurch
neue Rollen übernehmen und gemeinsam ein dynamisches Lernsystem
bilden. Dieses Lernsystem stellt ein Kommunikationsfeld dar, in
dem kooperatives Lernen stattfinden kann. Eine Vermittlung der
notwendigen Strategien zum Wissensmanagement und zur Selbstregulierung,
die für selbstständiges, aktives Lernen notwendig sind,
wird ermöglicht.
3.
Wie die Lehrpläne im Anhang
zeigen, besteht der Grundlagenkurs in der Hauptsache aus den drei
Komponenten Analyse, Theorie und Praxis, die sich im wechselnden
Rhythmus wiederholen.
Analyse meint die visuelle Erfahrung des Mediums, das sinnliche
Erfassen der Informationsaufbereitung und -wahrnehmung im Netz.
Im Sinne einer 'optischen Sinnesschulung' (Moholy-Nagy) soll das
Auge für die spezifischen Charakteristika des Internets sensibilisert
werden. Ausgewählte Web-Sites und Netzkunst werden präsentiert
und auf ihre funktionalen, künstlerischen und gestalterischen
Aspekte hin untersucht. Die Zerlegung einzelner Web-Sites in ihre
Bestandteile wird nicht nur eine Auseinandersetzung mit der engen
Verknüpfung von Form und Inahlt verlangen, sondern zudem
die dahinter stehende Struktur, den HTML-Code, den Hypertext etc.
aufzeigen. Die Analyse ist dabei ein wesentlicher Baustein, auf
den sowohl Theorie wie auch Praxis aufbauen werden.
Die Medien allgemein und das Internet im Besonderen sind Themen
einer theoretisch-reflexiven Auseinandersetzung. Die Theorie-Elemente
beschäftigen sich mit historischen und gesellschaftlichen
Fragestellungen, mit Kommunikations- und Medientheorien und mit
der Kritik an den Medien, die in eine Medienethik überführt.
Es ist die Absicht in diesen Kurselementen ausgewählte kurze
und prägnante Textstellen zu den genannten Themengebieten
gemeinsam zu lesen und zu diskutieren. Längere Aufsätze
können von den Student/innen in Kurzreferaten in der Gruppe
vorgestellt werden. Diese Art eines Lektürekurses kann somit
in relativ kurzer Zeit einen breiten Überblick über
den wissenschaftlichen Diskurs in den jeweiligen Sachgebieten
ermöglichen. Die theoretische Auseinandersetzung bietet ein
Fundament für einen reflektierten und kritischen Umgang mit
dem Internet.
Innerhalb der Praxis-Komponente erhalten die Student/innen eine
Einführung in die wichtigsten Grundlagen der Computer- und
Internet-Anwendung. Abhängig vom Vorwissen der Lernenden
kann hier der Lehrinhalt variieren. Wünschenswert ist dabei,
eine homogene Gruppe von Lernenden zu bilden, die mit ähnlichem
Vorwissen in den Grundlagenkurs eintreten. Bei der Einteilung
der Kursteilnehmer/innen muss auf diesen Aspekt besondere Rücksicht
genommen werden. Bei einem durchschnittlichen Vorwissen sollte
nach der Einführung in die Internet-Grundlagen die einfache
und fortgeschrittene Gestaltung mit dem HTML-Code gelehrt werden
und die Grafik- und Multimedia-Möglichkeiten im Internet
demonstriert werden. Die praktische Schulung soll die technische
Handhabung mit den Medien auf ein Niveau bringen, dass spätere
Projektarbeiten mit vertiefenden Begleitkursen möglich sind.
Die drei Komponenten Analyse, Theorie und Praxis werden in ihrem
wechselnden Rhythmus sehr unterschiedliche Lernerfahrungen bieten
und damit Reibungsflächen schaffen, die dem Lernenden Widersprüche
und Konflikte erkennen lassen. Um diese individuellen Erfahrungen
in einen kommunikativen Lernprozess überzuführen, gibt
es regelmäßige Diskussionseinheiten, für die keine
Themenvorgaben vorgenommen werden. Sie dienen als eine freie Diskussionsplattform
für die Rekapitulation des bisher Gelernten und für
eine kritische Artikulation gegenüber dem Forschungs- und
Lerngegenstand.
4.
Der Grundlagenkurs beruht auf
der Präsenz des Lernenden. Die Lernumgebung wird durch einen
Computerpool vorgegeben, der dem Lernenden die nötige Hard-
und Software für die digitale Bildverarbeitung und -kommunikation
zur Verfügung stellt. Im Wechsel zwischen der Computeranwendung
und der Diskussion über solche Anwendungen sollen in der
Gruppe erste Kompetenzen zur visuellen Kommunikation erworben
werden. Nach dem Grundlagenkurs können dann in einem zweiten
Schritt diese Kompetenzen in einer Online-Phase und einer Projekt-Phase
vertieft werden.
Die Online-Phase verzichtet auf die Präsenz des Lernenden.
Das Ziel der Online-Phase ist es, auf der fachlichen Ebene das
Internet als zusätzliche Ressource für die Arbeitsbereiche
zu nutzen sowie das Internet als virtuellen Lern- und Arbeitsort
zu erfahren. Die im Grundlagenkurs erworbenen Kompetenzen werden
hierfür vorausgesetzt. Möglichkeiten der Online-Phase
sind: die Internet-Recherche und das Zusammentragen von Links
über relevante Themen des Forschungsprojekts; die regelmäßige
Betreuung und Aktualisierung einer eigenen Web-Site; die Fortführung
einer Diskussionsplattform im Internet. Diesen Tätigkeiten
in der Online-Phase können alle Teilnehmende unabhängig
von einem festen Ort und einem festen Termin nachgehen bei
einem privaten Netzzugang von zu Hause, ansonsten von den Terminals
des Computerpools. Die Online-Phase bietet die Chance, die Nutzung
der neuen Kommunikationstechnologien in der eigenen Anwendung
zu erproben.
Neben der Online-Phase werden zugleich Projekte angestrebt, die
wiederum auf die Präsenz des Lernenden setzen. Die Inhalte
dieser Projekte sollen am Ende des Grundlagenkurses erarbeitet
werden. Der Grundlagenkurs gibt durch seinen vielschichtigen Aufbau
zahlreiche Anregungen, die gesammelt werden und in einer Schlusssitzung
zu einzelnen Projekten fixiert werden. Mit diesem Schritt setzt
die Phase des Projektunterrichts ein. In Gruppenarbeit werden
Kunstprojekte im Netz entwickelt und gestalterische Strategien
erprobt oder theoretische Sachverhalte vertieft und didaktische
Modelle für den Kunstunterricht ausgearbeitet. Die Projekte
bilden dabei stets ein Lernsystem, in dem selbstorganisiertes
Lernen die Priorität hat.
Michael Scheibel 8.9.2000