Michael Scheibel: Eine Didaktik der Irritation


First Installation: 18.9.2000 Last update: 18.9.2000


Eine Didaktik der Irritation - Lehrkonzept für einen Grundlagenkurs

1.
Aufbauend auf die erste Annäherung an das Forschungsprojekt "Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter" soll an dieser Stelle eine Didaktik und Konzeption eines Grundlagenkurses für die Student/innen der Kunstakademie Stuttgart vorgeschlagen werden. Vorerst werden jedoch in einem Rückblick die wesentlichsten Argumente der ersten Annäherung dargelegt, die in der weiteren Konzeption eine Rolle spielen:
Erstens: Eine Vermittlung visueller Kompetenz als integraler Bestandteil des Unterrichtsfachs Kunst kann auf das Konzept der "Visuellen Kommunikation" aufbauen, dabei die zeitgenössische Kunst als eine "Avantgarde des Medienexperiments" als Anschauungsmaterial einbeziehen und zugleich von der projektorientierten außerschulischen Medienpädagogik didaktische Modelle übernehmen.
Zweitens: Das Konzept des Projektunterrichts besteht in der freien Wahl des Vorhabens in der Gruppe, das dann umgesetzt und im kommunikativen und reflexiven Prozess für den Einzelnen kritisch nachvollzogen werden kann. Nur so wird von vornherein verhindert, dass die Kompetenzvermittlung in eine reine technische Ausbildung mündet, und nur dann wird eine kommunikative Mündigkeit aller Beteiligten von Anbeginn gewährleistet. Der Einzelne wird im Idealfall zu einem selbstbestimmten, entscheidungsfähigen und gestaltungsfähigen Subjekt gegenüber den Medien. Gleichzeitig wird das Subjekt in eine demokratische Praxis eingebunden, die ein demokratisches Lernen im Projekt und mit neuen Kommunikationsmöglichkeiten erlaubt.
Drittens: Das Konzept des Projektunterrichts wird an der Hochschule vorweggenommen und ausprobiert, um daraufhin die Erfahrungen zu sammeln und direkt den Kunsterzieher/innen zu vermitteln. In einer Art Selbstversuch erleben die Studierenden in der Lehrveranstaltung bereits alle Facetten einer Projektmethode.
Viertens: Im Projektunterricht gestaltet sich besonders die Wahl des Vorhabens bzw. die Formulierung eines Ziels in der Gruppe als schwierig und führt allzuoft zu Nachahmungen bereits bekannter Projekte. Anstöße zu andersartigen Ideen werden meist erst dann geliefert, wenn bereits ein Vorwissen über den Gegenstand vorhanden ist. Um dieser Problematik zu entgehen, erweist sich eine theoretische Auseinandersetzung, die vorangeht als sinnvoll. Zudem ist ein Basiswissen über die technische Handhabung unabdingbar.
Genau hier setzen die folgenden Ausführungen an. Es geht um die Ausarbeitung eines Grundlagenkurses, der den Student/innen ein Basiswissen sowohl in der technischen Handhabung wie auch in der wissenschaftlich-theoretischen Reflexion und der kommunikativen Kompetenz vermitteln soll. Dieser Grundlagenkurs wird als wöchentliches Seminar und als einwöchiges Blockseminar entwickelt und durchgeführt. Beide Seminare sind dabei inhaltsgleich. Dies hat zum Vorteil, zwei verschiedene Seminarformen im Vergleich zu haben. Gewöhnlich wird bei technisch aufwendigen Unterrichtsinhalten die Form der Blockveranstaltung vorgezogen. In Schulen ist jedoch meist ein wöchentlicher Unterrichtsrhythmus vorgegeben, der nur selten verlassen werden kann. Indem der Grundlagenkurs an der Kunstakademie in beiden Seminarformen angeboten wird, können die Vorzüge und Nachteile der jeweiligen Veranstaltungsform erkannt und Verbesserungsvorschläge ausgearbeitet werden. Darüber hinaus wird insbesondere die einwöchige Blockveranstaltung als Modell für eine Lehrerfortbildung fungieren.

 

2.
Das Themengebiet einer Netzkommunikation innerhalb des Kunstunterrichts besticht durch seine Komplexität. Fragen nach Technik, Theorie, Gestaltung und Wahrnehmung berühren allesamt dieses Feld und zeigen sich für eine Kompetenzbildung der visuellen Kommunikation als unhintergehbar. Es ist ein interdisziplinäres Feld, das sich hier auftut und dem mit einem vielschichtigen Grundlagenkurs Rechnung getragen werden muss.
Drei Komponenten erscheinen für die Grundlegung eines Basiswissens wesentlich: das Erlernen einer technischen Fertigkeit für die Produktion und Kommunikation digitaler Bildinformationen, die wissenschaftlich-theoretische Auseinandersetzung für die Reflexion und Diskussion über Veränderungen in den Kommunikationsprozessen und die visuelle Erfahrung, Rezeption und Analyse bestehender Netzstrukturen. Alle drei Komponenten ­ technische Handhabung, theoretische Bildung, visuelle Erfahrung ­ sollen im Kurs gleichgewichtig aufeinander treffen. Genau genommen sollen sie auf Konfrontation gehen. Wissen, Wahrnehmung und Praxis in einem Konfrontationszustand lassen Widersprüche auftreten, ergeben ein Konfliktpotenzial, wodurch das jeweils eine in einem anderen Licht erscheint. Die Konfrontation der drei Komponenten führt zu Irritationen beim Lernenden, durch die Lernprozesse angeregt werden können. Das Lehrkonzept ist somit weniger ein fixierter, ineinander genau abgestimmter Lehrplan als vielmehr ein Möglichkeitsfeld für selbstlernende Individuen. Hinter dem Lehrkonzept steht die Idee einer "Didaktik der Irritation", die auf das kognitive Entwicklungsmodell Piagets und dem Konstruktivismus zurückgreift.
Kognitive Entwicklung umfasst die Veränderung der Erkenntnisprozesse und des Wissens ­ und damit der Wahrnehmung, des Denkens, der Vorstellung, des Problemlösens. Diese geistige Entwicklung ist nicht 'naturwüchsig', sondern erfahrungsabhängig. Dabei ist nicht jede Erfahrung geeignet, eine Entwicklung neuer Denk-Schemata zu fördern. Vielmehr muss sie den existierenden Schemata im geringen Maße widersprechen, damit eine erfolgreiche kognitive Entwicklung erreichbar erscheint.
Nach Piaget werden sämtliche Informationen aus der Umwelt entweder in das vorhandene Denk-Schemata integriert (Assimilation) oder die Schemata selbst werden verändert, um der Information angemessen zu sein (Akkomodation). Assimilation und Akkomodation unterliegen dabei dem allgemeinen Entwicklungsprinzip: dem Gleichgewichtsmodell bzw. Äquilibrationsmodell. Es sind die Schemata untereinander oder die Schemata und Informationen, die in einem Gleichgewicht bzw. Ungleichgewicht stehen. Entwicklung wird als eine fortlaufende Folge von Gleichgewichts- und Ungleichgewichtszuständen verstanden, wobei das Ungleichgewicht vom Gleichgewicht auf einem höheren Niveau abgelöst wird. Den Anstoß zum Denken gibt die Störung eines Gleichgewichts aus inneren oder äußeren Gründen. Piagets zentrale Idee für die Erklärung der kognitiven Entwicklung besteht darin, dass vorläufig etablierte Gleichgewichte auf einer bestimmten Stufe gestört und auf der nächsthöhreren Stufe in verbesserter Form wieder hergestellt werden. Störungen bewegen dazu, sich mit den Umweltgegebenheiten auseinanderzusetzen und sich neuen Bedingungen anzupassen. Störungen, die Konfliktsituationen für den Lernenden erzeugen, sind von daher wesentliche Faktoren für neue kognitive Konstruktionen im Lernprozess. Lernen heißt, ein Konstrukt von Welt im Lernprozess stets zu verändern und anzupassen.
Irritationen sollen als ein notwendiges Element im Lernprozess angesehen werden. Kognitive Konflikte im Unterricht können durch Widersprüche geschaffen werden und den Lernenden zu einer Lösung des Problems geradezu drängen. Das Hervorbringen von Irritationen ist ein didaktisches Prinzip, das gleichzeitig motivierend wirken kann. Es muss das Ziel der Unterrichtsstruktur sein, die Lernenden ihre eigenen Verfahrensweisen zur Lösung von Problemen erfinden und ein eigenes Netzwerk von Erkenntnisbeziehungen konstruieren zu lassen.
Lernprozesse sind im Kern kommunikativ (Habermas). Eine reflexive Vertiefung individuell gewonnener Einsichten bietet die Diskussion und der Austausch von Argumenten. Der Wissenserwerb in der Unterrichtssituation wird dann zu einem kollektiven Konstruktionsprozess. Die am Lernprozess Beteiligten ­ Lehrende und Lernende ­ werden hierdurch neue Rollen übernehmen und gemeinsam ein dynamisches Lernsystem bilden. Dieses Lernsystem stellt ein Kommunikationsfeld dar, in dem kooperatives Lernen stattfinden kann. Eine Vermittlung der notwendigen Strategien zum Wissensmanagement und zur Selbstregulierung, die für selbstständiges, aktives Lernen notwendig sind, wird ermöglicht.

 

3.
Wie die Lehrpläne im Anhang zeigen, besteht der Grundlagenkurs in der Hauptsache aus den drei Komponenten Analyse, Theorie und Praxis, die sich im wechselnden Rhythmus wiederholen.
Analyse meint die visuelle Erfahrung des Mediums, das sinnliche Erfassen der Informationsaufbereitung und -wahrnehmung im Netz. Im Sinne einer 'optischen Sinnesschulung' (Moholy-Nagy) soll das Auge für die spezifischen Charakteristika des Internets sensibilisert werden. Ausgewählte Web-Sites und Netzkunst werden präsentiert und auf ihre funktionalen, künstlerischen und gestalterischen Aspekte hin untersucht. Die Zerlegung einzelner Web-Sites in ihre Bestandteile wird nicht nur eine Auseinandersetzung mit der engen Verknüpfung von Form und Inahlt verlangen, sondern zudem die dahinter stehende Struktur, den HTML-Code, den Hypertext etc. aufzeigen. Die Analyse ist dabei ein wesentlicher Baustein, auf den sowohl Theorie wie auch Praxis aufbauen werden.
Die Medien allgemein und das Internet im Besonderen sind Themen einer theoretisch-reflexiven Auseinandersetzung. Die Theorie-Elemente beschäftigen sich mit historischen und gesellschaftlichen Fragestellungen, mit Kommunikations- und Medientheorien und mit der Kritik an den Medien, die in eine Medienethik überführt. Es ist die Absicht in diesen Kurselementen ausgewählte kurze und prägnante Textstellen zu den genannten Themengebieten gemeinsam zu lesen und zu diskutieren. Längere Aufsätze können von den Student/innen in Kurzreferaten in der Gruppe vorgestellt werden. Diese Art eines Lektürekurses kann somit in relativ kurzer Zeit einen breiten Überblick über den wissenschaftlichen Diskurs in den jeweiligen Sachgebieten ermöglichen. Die theoretische Auseinandersetzung bietet ein Fundament für einen reflektierten und kritischen Umgang mit dem Internet.
Innerhalb der Praxis-Komponente erhalten die Student/innen eine Einführung in die wichtigsten Grundlagen der Computer- und Internet-Anwendung. Abhängig vom Vorwissen der Lernenden kann hier der Lehrinhalt variieren. Wünschenswert ist dabei, eine homogene Gruppe von Lernenden zu bilden, die mit ähnlichem Vorwissen in den Grundlagenkurs eintreten. Bei der Einteilung der Kursteilnehmer/innen muss auf diesen Aspekt besondere Rücksicht genommen werden. Bei einem durchschnittlichen Vorwissen sollte nach der Einführung in die Internet-Grundlagen die einfache und fortgeschrittene Gestaltung mit dem HTML-Code gelehrt werden und die Grafik- und Multimedia-Möglichkeiten im Internet demonstriert werden. Die praktische Schulung soll die technische Handhabung mit den Medien auf ein Niveau bringen, dass spätere Projektarbeiten mit vertiefenden Begleitkursen möglich sind.
Die drei Komponenten Analyse, Theorie und Praxis werden in ihrem wechselnden Rhythmus sehr unterschiedliche Lernerfahrungen bieten und damit Reibungsflächen schaffen, die dem Lernenden Widersprüche und Konflikte erkennen lassen. Um diese individuellen Erfahrungen in einen kommunikativen Lernprozess überzuführen, gibt es regelmäßige Diskussionseinheiten, für die keine Themenvorgaben vorgenommen werden. Sie dienen als eine freie Diskussionsplattform für die Rekapitulation des bisher Gelernten und für eine kritische Artikulation gegenüber dem Forschungs- und Lerngegenstand.

 

4.
Der Grundlagenkurs beruht auf der Präsenz des Lernenden. Die Lernumgebung wird durch einen Computerpool vorgegeben, der dem Lernenden die nötige Hard- und Software für die digitale Bildverarbeitung und -kommunikation zur Verfügung stellt. Im Wechsel zwischen der Computeranwendung und der Diskussion über solche Anwendungen sollen in der Gruppe erste Kompetenzen zur visuellen Kommunikation erworben werden. Nach dem Grundlagenkurs können dann in einem zweiten Schritt diese Kompetenzen in einer Online-Phase und einer Projekt-Phase vertieft werden.
Die Online-Phase verzichtet auf die Präsenz des Lernenden. Das Ziel der Online-Phase ist es, auf der fachlichen Ebene das Internet als zusätzliche Ressource für die Arbeitsbereiche zu nutzen sowie das Internet als virtuellen Lern- und Arbeitsort zu erfahren. Die im Grundlagenkurs erworbenen Kompetenzen werden hierfür vorausgesetzt. Möglichkeiten der Online-Phase sind: die Internet-Recherche und das Zusammentragen von Links über relevante Themen des Forschungsprojekts; die regelmäßige Betreuung und Aktualisierung einer eigenen Web-Site; die Fortführung einer Diskussionsplattform im Internet. Diesen Tätigkeiten in der Online-Phase können alle Teilnehmende unabhängig von einem festen Ort und einem festen Termin nachgehen ­ bei einem privaten Netzzugang von zu Hause, ansonsten von den Terminals des Computerpools. Die Online-Phase bietet die Chance, die Nutzung der neuen Kommunikationstechnologien in der eigenen Anwendung zu erproben.
Neben der Online-Phase werden zugleich Projekte angestrebt, die wiederum auf die Präsenz des Lernenden setzen. Die Inhalte dieser Projekte sollen am Ende des Grundlagenkurses erarbeitet werden. Der Grundlagenkurs gibt durch seinen vielschichtigen Aufbau zahlreiche Anregungen, die gesammelt werden und in einer Schlusssitzung zu einzelnen Projekten fixiert werden. Mit diesem Schritt setzt die Phase des Projektunterrichts ein. In Gruppenarbeit werden Kunstprojekte im Netz entwickelt und gestalterische Strategien erprobt oder theoretische Sachverhalte vertieft und didaktische Modelle für den Kunstunterricht ausgearbeitet. Die Projekte bilden dabei stets ein Lernsystem, in dem selbstorganisiertes Lernen die Priorität hat.

Michael Scheibel 8.9.2000


Hans Dieter Huber