Michael Scheibel: Kompetenzbildung - Visuelle Kommunikation


First Installation: 18.9.2000 Last update: 18.9.2000


Kompetenzbildung:
Visuelle Kommunikation

1.
In den 70er Jahren profilierte sich das Konzept der "Visuellen Kommunikation" in Abgrenzung gegen den damals vorherrschenden Kunstunterricht. Als eine Reaktion auf die Dominanz der Massenmedien in der Bilderwelt von Schüler/innen ­ insbesondere der Fernseher war gemeint ­, wurde es als Aufgabe gesehen, ästhetische Erziehung an den Alltagserfahrungen der Jugendlichen zu orientieren. Werbung, Film, Fernsehen, Comic etc. wurden zu Lerninhalten innerhalb des Kunstunterrichts erhoben. Geprägt von dem Begriff der Kultur- bzw. Bewusstseinsindustrie (Horkheimer/Adorno und Enzensberger) sorgte ein medienkritischer Ansatz für die Vermittlung der gesellschaftlichen Bedeutung von Massenmedien. Der Kunstunterricht verwandelte sich tendenziell in einen Medienunterricht, da Medien statt Kunst zum Gegenstand des Unterrichts wurden.
Die 80er Jahre brachten eine Wende in der ästhetischen Erziehung vom lernorientierten Unterricht zum schülerorientierten "Lernen mit allen Sinnen". Diese Neuorientierung der Kunstdidaktik ließ einen medienkritisch begründeten Ansatz weit hinter sich und setzte vielmehr auf eine handlungs- und erlebnisorientierte Pädagogik. Zu Beginn der 90er Jahre wurde die aktuelle Kunstentwicklung wieder als eine Herausforderung für das Unterrichtsfach Kunst aufgegriffen.

 

2.
Parallel zu den innerschulischen Entwicklungen entstand in den 70er Jahren eine Medienbildung außerhalb der Schulen. Auch in diesem Bereich dominierte Anfangs eine ideologiekritische Medienpädagogik, die sich jedoch bald in eine "Handlungsorientierte Medienpädagogik" (Baacke) verwandelte. Frei von der institutionellen Schwerfälligkeit und curricularen Befangenheiten einer Schule konnten sich diese außerschulischen Projekte schnell etablieren. In Jugendarbeit und Erwachsenenbildung wurden insbesondere durch Film- und Medienhäuser eine Medienkompetenz durch das Arbeiten mit den neuen Medien vermittelt. Eigene Produktionen ließen einen Einblick in Produktionsabläufe von Film, Fernsehen und Radio gewähren und damit den Blick auf die Medienpräsenz und Meinungsbildung durch Medien schärfen. Der Rezipient sollte durch die produktive Komponente die Fähigkeit zur kritischen Haltung gegenüber Massenmedien erlangen. Zugleich erwarb er eine Kompetenz in der Handhabung der neuen Medien. Als Herausforderung gegenüber der hochkomplex organisierten Öffentlichkeit der professionellen Massenmedien wurden in Offenen Kanälen eine alternative Öffentlichkeit aufgebaut, die als Forum für die Eigenproduktionen der Medienhäuser dienten und eine basisbezogene, emanzipatorische und kritische Instanz hervorbringen sollte.

 

3.
Nach Druck, Fotografie, Film und Fernsehen ist derzeit eine neue Kommunikationstechnologie auf dem Weg unsere visuelle Wirklichkeit zu prägen. Netzkommunikation, und im speziellen Sinne das Internet, gewinnt durch eine explosionsartige Expansion an gesellschaftlicher Bedeutung und verändert zugleich die vorherrschende Medienlandschaft. Der Fernseher als das gesellschaftsprägende Massenmedium des Bildes wird hierdurch nicht nur einen Wandel erfahren, sondern ­ Prognosen zufolge ­ weitgehend ersetzt werden oder eine Symbiose mit den neuen Kommunikationtechnologien eingehen. Internet-TV ist bereits angedacht und benötigt lediglich einige technologische Fortschritte und völlig neuartige Finanzierungs- und Distributionsmodelle, um den Fernseher in seiner bisherigen programmorientierten Form abzulösen. Nicht unähnlich ergeht es den Printmedien und der Fotografie, die sich ­ von der ditgitalen Revolution bereits eingeholt ­ in ihren internen Produktionsabläufen schon weitgehend in Richtung einer Netzkommunikation verändert haben. Allgemein nähern sich ehemals getrennte (Bild-)Bereiche wie Telekommunikation, Massenmedien und Informationstechnologien mit hoher Geschwindigkeit an. Die visuelle Welt erfährt mit dem Wandel der Medientechnologien einen Umbruch, der Veränderungsprozesse in der gesellschaftlichen Kommunikation über und Konstruktion von Wirklichkeit in Gang setzt.

 

4.
Wünschenswert für den gegenwärtigen und zukünftigen Kunstunterricht ist eine Zusammenführung der inner- und außerschulischen Entwicklungen unter Berücksichtigung neuester Tendenzen im Mediensektor. Eine Vermittlung visueller Kompetenz als integraler Bestandteil des Unterrichtsfachs Kunst kann auf das Konzept der "Visuellen Kommunikation" aufbauen, dabei die zeitgenössische Kunst als eine "Avantgarde des Medienexperiments" als Anschauungsmaterial einbeziehen und zugleich von der projektorientierten außerschulischen Medienpädagogik didaktische Modelle übernehmen.
Gerade die Projektmethode sprengt selbstverständlich den Rahmen des Unterrichtsfachs Kunst, ist aber die sinnvollste Antwort auf die Omnipräsenz der Medien in allen Schulfächern. Schon seit langem ist jedes Schulfach aufgefordert, an der Vermittlung von Medienkompetenz mitzuwirken. Ein großes Handikap dabei ist jedoch das umfangreiche und teure Equipment, das nicht jedem Fach und jeder Schule gleich zur Verfügung stehen kann. Projektunterricht, dem beispielsweise ein Medienzentrum zur Verfügung steht (vielleicht sogar außerhalb der Schule, von mehreren Bildungseinrichtungen genutzt), kann als ein integratives Element den Zusammenhang der herkömmlich getrennten Bereiche unter dem Motto "Visuelle und kommunikative Kompetenz" herstellen. Das Projekt wird zum fächer- und schulübergreifenden Ereignis.
Kompetenzbildung im Projekt umfasst mehr als intentionale, im Lernplan formulierte Akte, ist vielmehr eine offene Plattform für selbstsozialisatorische Prozesse (Luhmann). Diese Plattform stellt mit dem technischen Equipment und der professionellen Anleitung durch Erzieher/innen einen Bedingungsrahmen, in dem nicht nur auf einen Lehrplan reagiert, sondern selbst agiert werden kann. Das Konzept des Projektunterrichts besteht in der freien Wahl des Vorhabens in der Gruppe, das dann umgesetzt und im kommunikativen und reflexiven Prozess für den Einzelnen kritisch nachvollzogen werden kann. Nur so wird von vornherein verhindert, dass die Kompetenzvermittlung in eine reine technische Ausbildung oder in ein Berufskarriere-Wissen mündet. Nur so wird außerdem eine kommunikative Mündigkeit aller Beteiligten von Anbeginn gewährleistet. Visuelle und kommunikative Kompetenzbildung können auf diese Weise bereits im didaktischen Modell verankert sein. Damit wird das Projekt zugleich den Medien gerecht, um die es sich inhaltlich kreist. Bildmedien und Kommunikationstechnologien können in ihrem Charakter, ihren Stärken und Schwächen, ihren Möglichkeiten und Grenzen experimentell innerhalb der Gruppenarbeit erfahrbar gemacht werden. Der Einzelne wird im Idealfall zu einem selbstbestimmten, entscheidungsfähigen und gestaltungsfähigen Subjekt gegenüber den Medien. Gleichzeitig wird das Subjekt in eine demokratische Praxis eingebunden, die ein demokratisches Lernen im Projekt und mit neuen Kommunikationsmöglichkeiten erlaubt.

 

5.
Die Lehre an der Kunstakademie Stuttgart, die sich diesem Forschungsvorhaben widmet, kann sich derselben Projektmethode verschreiben. Hierdurch wird die Lehrveranstaltung zugleich zu einem Experiment über die Art und Weise des Projektunterrichts selbst. Lehre und Forschung greifen somit ineinander: Das Konzept des Projektunterrichts wird an der Hochschule vorweggenommen und ausprobiert, um daraufhin die Erfahrungen zu sammeln und direkt den Kunsterzieher/innen zu vermitteln. In einer Art Selbstversuch erleben die Studierenden in der Lehrveranstaltung bereits alle Facetten einer Projektmethode.
Wie sich in solchen Projekten desöfteren zeigt, gestaltet sich besonders die Wahl des Vorhabens bzw. die Formulierung eines Ziels in der Gruppe als schwierig und führt allzuoft zu Nachahmungen bereits bekannter Projekte. Anstöße zu andersartigen Ideen werden meist erst dann geliefert, wenn bereits ein Vorwissen über den Gegenstand vorhanden ist. Um dieser Problematik zu entgehen, erweist sich eine theoretische Auseinandersetzung, die vorangeht als sinnvoll. In einer breitgefächerten Lektüre- und Diskussionsgruppe können Aspekte gesammelt werden, die dann als Vorhaben im Projekt weitergeführt werden. Eine Lektüre und Diskussion zum Thema "Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter", die am Anfang steht, hat zudem den Vorteil, dass schon hier eine kritische Auseinandersetzung stattfindet, bevor diese im praktischen Erlernen der ausgefeilten Techniken verloren geht. Die Kritik geht dann voran, begleitet das Projekt und kann am Ende in der Rekapitulation des Vorhabens wieder aufgegriffen werden. Dies alles zusammengenommen, kann als ein Lernkomplex viele Dimensionen der Kompetenzbildung in der visuellen Kommunikation mit neuen Medientechnologien berühren: Kritik, Kunde, Nutzung und Gestaltung ­ Analyse, Rezeption, Produktion und Interaktion ­ Wirkung, Ethik, Potenzial und Gefahren.
Auf der Basis der bisherigen Ausführungen lassen sich beispielsweise folgende Themen formulieren, die als Anregungen für Lehrveranstaltungen und nachfolgenden praktischen Projekten dienen können:

o "Visuelle Inkompetenz" ­ Eine Lektüre- und Diskussionsgruppe
Literatur u.a. zur Kompetenzdiskussion (Chomsky, Habermas, Luhmann, Bourdieu), Medientheorien (McLuhan, Flusser, Rötzer, Kittler, Bolz), Kommunikationstheorien und Konstruktivismus (Schmidt, Goodman, Watzlawik, Luhmann), gesellschaftskritische Ansätze (Horkheimer, Adorno, Benjamin, Enzensberger), medienpädagogische Kontroverse (Baacke, Lenzen, Postman, Hentig), Medienwirkungsforschung, Entwicklungspsychologie (Piaget, Kohlberg, Parsons), Wahrnehmungspsycholgie (Arnheim, Gombrich, Gibson), Neurologie (Roth, Pöppel, Eccles), Bild- und Mediengeschichte (Wenzel, Belting, Faulstich, McLuhan), Bildungsbegriff, Sozialisationsforschung (Hurrelmann, Geulen, Tillmann, Charlton, Schorb, Bonfadelli), Medienethik.
o Dekonstruktion des Wirklichkeitsbegriffs
o Entmaterialisierung des Kunstobjekts
o Netzkommunikation und Demokratisierung
o Der Medienkanzler und die Ästhetisierung der Politik
o Der menschliche Körper im Spannungsfeld zwischen Maschine und Medien
o Medientheorie als Bildungstheorie
o Vermittelte Mittler ­ oder das Verschwinden des Lehrers

 

 

6.
Netzkommunikation erlaubt eine Ausdehnung des Forschungsvorhabens über den Raum der Kunstakademie hinaus. Eine Vernetzung mit gleichartigen Forschungsprojekten anderer Hochschulen ist genauso denkbar wie der Aufbau einer Netzkultur an verschiedenen Schulen. Das Forschungsprojekt an der Kunstakademie Stuttgart kann sich auf diese Weise zu einem umfangreichen Netz- und Kommunikationsprojekt erweitern. Neben den Lehrveranstaltungen in der Hochschule können Modellprojekte an der Schule initiiert werden und auf diese Weise die Forschung vorangetrieben werden. Zum einen ließen sich solche Modellprojekte durch eine Fortbildung von Lehrer/innen und eine Beratung der Schulen realisieren. Die Lehre und Forschung wäre dann nicht nur auf die Kunstakademie und die Ausbildung seiner eigenen Student/innen fixiert. Zum anderen ist eine Nachbetreuung der Student/innen während ihres Referendariats denkbar. Die Referendariatszeit würde als eine Fortführung des Forschungsprojekts in der Schule genutzt und die Erprobung in der Praxis von den angehenden Lehrer/innen innerhalb des zweiten Staatsexamens schriftlich fixiert werden. Beide Wege sorgen für eine schnelle Umsetzung der Forschungsideen im Bildungssystem. Gleichzeitig stehen frühzeitig Ergebnisse zur Operationalisierung zur Verfügung.
Konkret kann solch ein Modellprojekt aus der Vernetzung von mehreren Schulen, der Kunstakademie und Netzkünstler/innen bestehen, die zeitgleich an einem künstlerischen Projekt im und mit dem Internet arbeiten. Dabei muss nicht nur die Verwirklichung des Kunstprojekts auf das Internet fixiert sein, sondern auch die Ziele des Projekts können versuchsweise in der Netzkommunikation abgestimmt werden. Regelmäßige Treffen aller Projektbeteiligten ermöglichen eine face-to-face-Kommunikation und bilden damit ein Forum für eine kritische Diskussion außerhalb der elektronischen Vernetzung. Solcherart Modellprojekte zeigen die Stärken und Schwächen einer im Schulunterricht ­ und damit einer in der Gesellschaft ­ eingebundenen Netzkommunikation. Probleme mit der Handhabung der Techniken treten wahrscheinlich ebenso schnell auf, wie Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Modellprojekts im Schulalltag ­ Ergebnisse, die in die Forschung einfließen. Durch diese Ausweitung des Forschungsprojekts über die Kunstakademie hinaus ist eine wissenschaftliche Absicherung an der Schulpraxis gewährleistet.

Michael Scheibel 31.5.2000


Hans Dieter Huber