Kompetenzbildung:
Visuelle Kommunikation
1.
In den 70er Jahren profilierte sich das Konzept der "Visuellen
Kommunikation" in Abgrenzung gegen den damals vorherrschenden
Kunstunterricht. Als eine Reaktion auf die Dominanz der Massenmedien
in der Bilderwelt von Schüler/innen insbesondere der
Fernseher war gemeint , wurde es als Aufgabe gesehen, ästhetische
Erziehung an den Alltagserfahrungen der Jugendlichen zu orientieren.
Werbung, Film, Fernsehen, Comic etc. wurden zu Lerninhalten innerhalb
des Kunstunterrichts erhoben. Geprägt von dem Begriff der
Kultur- bzw. Bewusstseinsindustrie (Horkheimer/Adorno und Enzensberger)
sorgte ein medienkritischer Ansatz für die Vermittlung der
gesellschaftlichen Bedeutung von Massenmedien. Der Kunstunterricht
verwandelte sich tendenziell in einen Medienunterricht, da Medien
statt Kunst zum Gegenstand des Unterrichts wurden.
Die 80er Jahre brachten eine Wende in der ästhetischen Erziehung
vom lernorientierten Unterricht zum schülerorientierten "Lernen
mit allen Sinnen". Diese Neuorientierung der Kunstdidaktik
ließ einen medienkritisch begründeten Ansatz weit hinter
sich und setzte vielmehr auf eine handlungs- und erlebnisorientierte
Pädagogik. Zu Beginn der 90er Jahre wurde die aktuelle Kunstentwicklung
wieder als eine Herausforderung für das Unterrichtsfach Kunst
aufgegriffen.
2.
Parallel zu den innerschulischen Entwicklungen entstand in
den 70er Jahren eine Medienbildung außerhalb der Schulen.
Auch in diesem Bereich dominierte Anfangs eine ideologiekritische
Medienpädagogik, die sich jedoch bald in eine "Handlungsorientierte
Medienpädagogik" (Baacke) verwandelte. Frei von der
institutionellen Schwerfälligkeit und curricularen Befangenheiten
einer Schule konnten sich diese außerschulischen Projekte
schnell etablieren. In Jugendarbeit und Erwachsenenbildung wurden
insbesondere durch Film- und Medienhäuser eine Medienkompetenz
durch das Arbeiten mit den neuen Medien vermittelt. Eigene Produktionen
ließen einen Einblick in Produktionsabläufe von Film,
Fernsehen und Radio gewähren und damit den Blick auf die
Medienpräsenz und Meinungsbildung durch Medien schärfen.
Der Rezipient sollte durch die produktive Komponente die Fähigkeit
zur kritischen Haltung gegenüber Massenmedien erlangen. Zugleich
erwarb er eine Kompetenz in der Handhabung der neuen Medien. Als
Herausforderung gegenüber der hochkomplex organisierten Öffentlichkeit
der professionellen Massenmedien wurden in Offenen Kanälen
eine alternative Öffentlichkeit aufgebaut, die als Forum
für die Eigenproduktionen der Medienhäuser dienten und
eine basisbezogene, emanzipatorische und kritische Instanz hervorbringen
sollte.
3.
Nach Druck, Fotografie, Film und Fernsehen ist derzeit eine
neue Kommunikationstechnologie auf dem Weg unsere visuelle Wirklichkeit
zu prägen. Netzkommunikation, und im speziellen Sinne das
Internet, gewinnt durch eine explosionsartige Expansion an gesellschaftlicher
Bedeutung und verändert zugleich die vorherrschende Medienlandschaft.
Der Fernseher als das gesellschaftsprägende Massenmedium
des Bildes wird hierdurch nicht nur einen Wandel erfahren, sondern
Prognosen zufolge weitgehend ersetzt werden oder eine
Symbiose mit den neuen Kommunikationtechnologien eingehen. Internet-TV
ist bereits angedacht und benötigt lediglich einige technologische
Fortschritte und völlig neuartige Finanzierungs- und Distributionsmodelle,
um den Fernseher in seiner bisherigen programmorientierten Form
abzulösen. Nicht unähnlich ergeht es den Printmedien
und der Fotografie, die sich von der ditgitalen Revolution
bereits eingeholt in ihren internen Produktionsabläufen
schon weitgehend in Richtung einer Netzkommunikation verändert
haben. Allgemein nähern sich ehemals getrennte (Bild-)Bereiche
wie Telekommunikation, Massenmedien und Informationstechnologien
mit hoher Geschwindigkeit an. Die visuelle Welt erfährt mit
dem Wandel der Medientechnologien einen Umbruch, der Veränderungsprozesse
in der gesellschaftlichen Kommunikation über und Konstruktion
von Wirklichkeit in Gang setzt.
4.
Wünschenswert für den gegenwärtigen und zukünftigen
Kunstunterricht ist eine Zusammenführung der inner- und außerschulischen
Entwicklungen unter Berücksichtigung neuester Tendenzen im
Mediensektor. Eine Vermittlung visueller Kompetenz als integraler
Bestandteil des Unterrichtsfachs Kunst kann auf das Konzept der
"Visuellen Kommunikation" aufbauen, dabei die zeitgenössische
Kunst als eine "Avantgarde des Medienexperiments" als
Anschauungsmaterial einbeziehen und zugleich von der projektorientierten
außerschulischen Medienpädagogik didaktische Modelle
übernehmen.
Gerade die Projektmethode sprengt selbstverständlich den
Rahmen des Unterrichtsfachs Kunst, ist aber die sinnvollste Antwort
auf die Omnipräsenz der Medien in allen Schulfächern.
Schon seit langem ist jedes Schulfach aufgefordert, an der Vermittlung
von Medienkompetenz mitzuwirken. Ein großes Handikap dabei
ist jedoch das umfangreiche und teure Equipment, das nicht jedem
Fach und jeder Schule gleich zur Verfügung stehen kann. Projektunterricht,
dem beispielsweise ein Medienzentrum zur Verfügung steht
(vielleicht sogar außerhalb der Schule, von mehreren Bildungseinrichtungen
genutzt), kann als ein integratives Element den Zusammenhang der
herkömmlich getrennten Bereiche unter dem Motto "Visuelle
und kommunikative Kompetenz" herstellen. Das Projekt wird
zum fächer- und schulübergreifenden Ereignis.
Kompetenzbildung im Projekt umfasst mehr als intentionale, im
Lernplan formulierte Akte, ist vielmehr eine offene Plattform
für selbstsozialisatorische Prozesse (Luhmann). Diese Plattform
stellt mit dem technischen Equipment und der professionellen Anleitung
durch Erzieher/innen einen Bedingungsrahmen, in dem nicht nur
auf einen Lehrplan reagiert, sondern selbst agiert werden kann.
Das Konzept des Projektunterrichts besteht in der freien Wahl
des Vorhabens in der Gruppe, das dann umgesetzt und im kommunikativen
und reflexiven Prozess für den Einzelnen kritisch nachvollzogen
werden kann. Nur so wird von vornherein verhindert, dass die Kompetenzvermittlung
in eine reine technische Ausbildung oder in ein Berufskarriere-Wissen
mündet. Nur so wird außerdem eine kommunikative Mündigkeit
aller Beteiligten von Anbeginn gewährleistet. Visuelle und
kommunikative Kompetenzbildung können auf diese Weise bereits
im didaktischen Modell verankert sein. Damit wird das Projekt
zugleich den Medien gerecht, um die es sich inhaltlich kreist.
Bildmedien und Kommunikationstechnologien können in ihrem
Charakter, ihren Stärken und Schwächen, ihren Möglichkeiten
und Grenzen experimentell innerhalb der Gruppenarbeit erfahrbar
gemacht werden. Der Einzelne wird im Idealfall zu einem selbstbestimmten,
entscheidungsfähigen und gestaltungsfähigen Subjekt
gegenüber den Medien. Gleichzeitig wird das Subjekt in eine
demokratische Praxis eingebunden, die ein demokratisches Lernen
im Projekt und mit neuen Kommunikationsmöglichkeiten erlaubt.
5.
Die Lehre an der Kunstakademie Stuttgart, die sich diesem
Forschungsvorhaben widmet, kann sich derselben Projektmethode
verschreiben. Hierdurch wird die Lehrveranstaltung zugleich zu
einem Experiment über die Art und Weise des Projektunterrichts
selbst. Lehre und Forschung greifen somit ineinander: Das Konzept
des Projektunterrichts wird an der Hochschule vorweggenommen und
ausprobiert, um daraufhin die Erfahrungen zu sammeln und direkt
den Kunsterzieher/innen zu vermitteln. In einer Art Selbstversuch
erleben die Studierenden in der Lehrveranstaltung bereits alle
Facetten einer Projektmethode.
Wie sich in solchen Projekten desöfteren zeigt, gestaltet
sich besonders die Wahl des Vorhabens bzw. die Formulierung eines
Ziels in der Gruppe als schwierig und führt allzuoft zu Nachahmungen
bereits bekannter Projekte. Anstöße zu andersartigen
Ideen werden meist erst dann geliefert, wenn bereits ein Vorwissen
über den Gegenstand vorhanden ist. Um dieser Problematik
zu entgehen, erweist sich eine theoretische Auseinandersetzung,
die vorangeht als sinnvoll. In einer breitgefächerten Lektüre-
und Diskussionsgruppe können Aspekte gesammelt werden, die
dann als Vorhaben im Projekt weitergeführt werden. Eine Lektüre
und Diskussion zum Thema "Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter",
die am Anfang steht, hat zudem den Vorteil, dass schon hier eine
kritische Auseinandersetzung stattfindet, bevor diese im praktischen
Erlernen der ausgefeilten Techniken verloren geht. Die Kritik
geht dann voran, begleitet das Projekt und kann am Ende in der
Rekapitulation des Vorhabens wieder aufgegriffen werden. Dies
alles zusammengenommen, kann als ein Lernkomplex viele Dimensionen
der Kompetenzbildung in der visuellen Kommunikation mit neuen
Medientechnologien berühren: Kritik, Kunde, Nutzung und Gestaltung
Analyse, Rezeption, Produktion und Interaktion Wirkung,
Ethik, Potenzial und Gefahren.
Auf der Basis der bisherigen Ausführungen lassen sich beispielsweise
folgende Themen formulieren, die als Anregungen für Lehrveranstaltungen
und nachfolgenden praktischen Projekten dienen können:
o "Visuelle Inkompetenz"
Eine Lektüre- und Diskussionsgruppe
Literatur u.a. zur Kompetenzdiskussion (Chomsky, Habermas, Luhmann,
Bourdieu), Medientheorien (McLuhan, Flusser, Rötzer, Kittler,
Bolz), Kommunikationstheorien und Konstruktivismus (Schmidt, Goodman,
Watzlawik, Luhmann), gesellschaftskritische Ansätze (Horkheimer,
Adorno, Benjamin, Enzensberger), medienpädagogische Kontroverse
(Baacke, Lenzen, Postman, Hentig), Medienwirkungsforschung, Entwicklungspsychologie
(Piaget, Kohlberg, Parsons), Wahrnehmungspsycholgie (Arnheim,
Gombrich, Gibson), Neurologie (Roth, Pöppel, Eccles), Bild-
und Mediengeschichte (Wenzel, Belting, Faulstich, McLuhan), Bildungsbegriff,
Sozialisationsforschung (Hurrelmann, Geulen, Tillmann, Charlton,
Schorb, Bonfadelli), Medienethik.
o Dekonstruktion des Wirklichkeitsbegriffs
o Entmaterialisierung des Kunstobjekts
o Netzkommunikation und Demokratisierung
o Der Medienkanzler und die Ästhetisierung der Politik
o Der menschliche Körper im Spannungsfeld zwischen Maschine
und Medien
o Medientheorie als Bildungstheorie
o Vermittelte Mittler oder das Verschwinden des Lehrers
6.
Netzkommunikation erlaubt eine Ausdehnung des Forschungsvorhabens
über den Raum der Kunstakademie hinaus. Eine Vernetzung mit
gleichartigen Forschungsprojekten anderer Hochschulen ist genauso
denkbar wie der Aufbau einer Netzkultur an verschiedenen Schulen.
Das Forschungsprojekt an der Kunstakademie Stuttgart kann sich
auf diese Weise zu einem umfangreichen Netz- und Kommunikationsprojekt
erweitern. Neben den Lehrveranstaltungen in der Hochschule können
Modellprojekte an der Schule initiiert werden und auf diese Weise
die Forschung vorangetrieben werden. Zum einen ließen sich
solche Modellprojekte durch eine Fortbildung von Lehrer/innen
und eine Beratung der Schulen realisieren. Die Lehre und Forschung
wäre dann nicht nur auf die Kunstakademie und die Ausbildung
seiner eigenen Student/innen fixiert. Zum anderen ist eine Nachbetreuung
der Student/innen während ihres Referendariats denkbar. Die
Referendariatszeit würde als eine Fortführung des Forschungsprojekts
in der Schule genutzt und die Erprobung in der Praxis von den
angehenden Lehrer/innen innerhalb des zweiten Staatsexamens schriftlich
fixiert werden. Beide Wege sorgen für eine schnelle Umsetzung
der Forschungsideen im Bildungssystem. Gleichzeitig stehen frühzeitig
Ergebnisse zur Operationalisierung zur Verfügung.
Konkret kann solch ein Modellprojekt aus der Vernetzung von mehreren
Schulen, der Kunstakademie und Netzkünstler/innen bestehen,
die zeitgleich an einem künstlerischen Projekt im und mit
dem Internet arbeiten. Dabei muss nicht nur die Verwirklichung
des Kunstprojekts auf das Internet fixiert sein, sondern auch
die Ziele des Projekts können versuchsweise in der Netzkommunikation
abgestimmt werden. Regelmäßige Treffen aller Projektbeteiligten
ermöglichen eine face-to-face-Kommunikation und bilden damit
ein Forum für eine kritische Diskussion außerhalb der
elektronischen Vernetzung. Solcherart Modellprojekte zeigen die
Stärken und Schwächen einer im Schulunterricht
und damit einer in der Gesellschaft eingebundenen Netzkommunikation.
Probleme mit der Handhabung der Techniken treten wahrscheinlich
ebenso schnell auf, wie Schwierigkeiten bei der Umsetzung des
Modellprojekts im Schulalltag Ergebnisse, die in die Forschung
einfließen. Durch diese Ausweitung des Forschungsprojekts
über die Kunstakademie hinaus ist eine wissenschaftliche
Absicherung an der Schulpraxis gewährleistet.
Michael Scheibel 31.5.2000