Hans Dieter Huber
Den inneren Bildschirm leer laufen lassen


First Installation:12.04.04 Last Update: 12.04.04


erscheint in: Gottfried Jäger (Hg.): "Kann Fotografie unsere Zeit in Bilder fassen?", Bielefeld: Kerber Verlag 2004

Wenn man eine Frage stellt, erwartet man wahrscheinlich eine Antwort. Manche Fragen aber sind so gestellt, dass sie eher andere Fragen hervorrufen, als Antworten zu liefern. So ist es auch hier. Fragen wir nach. Was heißt „Fotografie“? Welche Fotografie? Schwarzweißfotografie, Farbfotografie, digitale Fotografie, kleine Fotos, große Fotos, Dias, Ektachrome, Einzelbilder, Bilderserien? Alles ist offen gelassen. Es macht einen großen Unterschied aus, ob ich ein kleines Schwarzweißfoto vor mir liegen habe und danach frage, ob es “unsere Zeit in Bilder fasst“ oder ob es sich um mit ein digital projiziertes Farbpixelbild an einer Wand handelt. Was heißt hier „unsere Zeit“? Was ist das – unsere Zeit? Schon alleine der Versuch, zu sagen, was Zeit ist, ist offensichtlich komplett zum Scheitern verurteilt, wie schon Augustinus wusste: „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“ Dann gibt es verschiedene Weisen, wie uns Zeit erscheint. Als Dauer, als Fluss, als gelebte Zeit, als wahrgenommene Zeit, als lineare Zeit, als zyklische Zeit, subjektive Zeit und objektive Zeit.


Hans Dieter Huber: Selbstporträt mit Familie, 2003


Allerdings könnte mit dem Begriff der Zeit auch der Begriff der Epoche, der Gegenwart oder der Zeitgenossenschaft gemeint sein. Aber selbst, wenn ich „unsere Zeit“ auf unsere Gegenwart beziehe, also den Beginn des 21. Jahrhunderts, dann stellen sich immer noch zwei Fragen. Einmal die Frage nach dem Ort „unserer“ Zeit. Ist hier Deutschland gemeint oder nur Süd/Nord/Ost/West-Deutschland? Ist es Europa, ist es die ganz Welt, die mit dem Adjektiv „unsere“ gemeint ist? Kann eine Fotografie „unsere“ Welt in Bilder fassen? Sogleich erkennt man, welcher Unsinn sich hinter einer solchen Frage verbirgt. Welche Welt? Meine, deine, unsere oder eure? Das macht verdammt noch mal einen himmelweiten Unterschied. Meine ist nicht deine, und eure ist nicht unsere. Aber wer seid ihr und wer bin ich? Wenn ich also mit meinem Körper durch die Welt laufe und sie mit meinen Sinnesorganen wahrnehme, kann ich sicherlich sagen: Ok, das ist meine Welt, so wie ich sie jetzt momentan wahrnehme, wie ich sie kenne, wie ich sie erinnere, wie ich sie mir vorstelle und wie ich sie denke. Das ist kein Problem. Meine Welt ist selbstverständlich für mich. Aber wie kann ich einem anderen mitteilen, was meine Welt ist? Kann ich es aussprechen, kann ich es ausdrücken, malen, zeichnen, gestikulieren, tanzen, fotografieren, filmen? Weiß ich überhaupt, was ich tue? Und wenn ja, wo endet mein Wissen von mir und meiner Welt, meiner Zeit? Weiß ich, wo die Grenzen meines Bewusstseins liegen? Wie weiß ich, was ich nicht wissen kann? Kann ich denken, was ich nicht denken kann? Was ist mit unbewusstem Wissen und unbewussten Gefühlen? Weiß ich, dass ich ein unbewusstes Wissen von der Welt und von unserer Zeit habe? Und wenn ja, wie kann ich dieses in einer Fotografie darstellen? Auch unbewusst? Weiß ich überhaupt, ob der andere mich so versteht, wie ich mich selbst verstehe beziehungsweise, wie ich vom Anderen verstanden werden möchte. Versteht er mich so, wie ich selbst verstanden werden möchte? Wie kann ich ihm das signalisieren, dass ich so und nicht anders verstanden werden möchte? Wie versteht er das nun wieder? Oder sollte ich nicht eher von dem Standpunkt einer grundlegenden Fremdheit und Differenz des Anderen ausgehen, dem Standpunkt des grundlegenden Missverstehens in der Kommunikation.


Hans Dieter Huber: Der Ortler auf meinem Powerbook, 2003


Beruht Kommunikation mehr auf Missverstehen als auf Verstehen oder mehr auf Verstehen als Missverstehen? Was heißt also hier „unsere Zeit“? Leicht dahin gesagt. Ist meine Welt wirklich auch deine Welt? Ist meine Zeit wirklich auch deine Zeit? Wann ist sie unsere Welt? Wann ist unsere Welt „unsere Zeit“? Wenn sie geteilt wird, also kommuniziert wird? Ja. Communicare heißt teilen, etwas gemeinsam machen, gemeinsam an etwas teilhaben. Was heißt es, eine Zeit mit jemandem anderen teilen. Heißt das, Lebenszeit mit anderen teilen? Ist das unsere Zeit, die Zeit die ich, Hans Dieter Huber, zum Beispiel mit den anderen Autoren dieses Buches teile? Manche sind älter als ich. Dieses Stück „unserer Zeit“ teile ich nicht mit ihnen. Manche sind jünger als ich. Sie teilen ein bestimmtes Stück Welt und ein bestimmtes Stück Zeit nicht mit mir, nämlich dasjenige vor ihrer Geburt. Diese Zeit musste ich mit anderen Menschen teilen. Wir alle teilen lediglich das Jetzt mit einander, die Gegenwart. Blicken wir in die Zukunft, wird auch klar, dass manche sicherlich länger leben werden als ich, andere kürzer. Ein tödlicher Unfall könnte ein junges Leben jäh beenden. „Unsere Zeit“ ist dann vorbei. Je mehr Menschen man einbezieht, desto weniger Sinn macht es, von unserer Zeit zu sprechen. Also bleibt nur noch die eine Sekunde gemeinsamer Gegenwart aller Menschen auf der Erde. Wie soll man das in einem Bild darstellen können? Durch symbolische Verdichtung, könnte man entgegnen. Die Welt muss also auf eine möglichst verständliche universelle Formel gebracht werden, in eine Weltformel für alle. Die Welt muss auf den Begriff gebracht werden, sonst ist sie keine. Unsere Zeit ist eine universelle Weltformel, in der alles Tatsächliche und alles Mögliche zu einem repräsentativen Bild verdichtet worden ist. Damit erkennt man den utopischen und imaginären Charakter unserer Zeit. Sie ist eine Sozialphantasie, die unsere Gesellschaft braucht, um eine Vorstellung von Gemeinschaft zu erzeugen. Aber was heißt, in Bilder fassen? „Bilder“ ist immerhin schon Mehrzahl. Es ist mehr als eines gemeint. Gut. Also: Wieviele Bilder benötigt man, um die Welt in Bilder zu fassen? Schwer zu sagen. 100, 1000. 10.000, eine Million, eine Milliarde, unendlich viele. Bernhard von Bolzanos Paradoxien des Unendlichen grüßen plötzlich, hämisch grinsend, durch das Fenster herein. Auch Sartres Gedanke in Das Sein und das Nichts, da wir niemals einen Gegenstand vollständig erfassen können, da unsere Lebenszeit begrenzt ist, haben wir immer nur fragmentarische und unvollständige Ansichten ein und desselben Gegenstandes in der Welt.


Hans Dieter Huber: Gernot Böhmes "Atmosphären" auf meiner Teekanne in Müstair, Februar 2004


Was fasst eine Fotografie überhaupt ins Bild? Hängt davon ab, was der Betrachter drauf zu sehen meint, was er zu erkennen meint, was er zu verstehen meint? Ist das, was eine Fotografie in Bilder fasst, wirklich nur von der Meinung des Betrachters abhängig oder gibt es wenigstens eine einzige, winzige Eigenschaft auf der Oberfläche des Fotopapiers, die unsere Zeit physisch fasst? Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen. Der innere Bildschirm ist leer gelaufen. Ich sitze ruhig da und es rauscht. Vor meinem Fenster schneit es. Weiße, dichte Flocken legen einen Teppich aus Stille und Achtung über die Landschaft. Ich gehe nach draußen und verschwinde im Nebel.


Hans Dieter Huber