Hans Dieter Huber
Selektivität und Blindheit
Zur Entstehung und Verarbeitung von Bedeutung bei Bildern
 


First Installation: 14.12.99 Last update: 04.08.01

erschienen in: Klaus Rehkämper, Klaus Sachs-Hombach (Hg.). Vom Realismus der Bilder. Interdisziplinäre Forschungen zur Semantik bildlicher Darstellungssysteme. Magdeburg: Scriptum Verlag 2000, 2.247-252

 


Existence is selective blindness.
George Spencer-Brown

Übersicht über das Vorhaben

Zuerst wird zu klären sein, auf welchen Beobachtungsvorgängen Bedeutungskonstruktionen im Falle von Bildern beruhen. Zweitens wird zu klären sein, wie sich die Struktur des Beobachtungserlebnisses im kognitiven System des Beobachters in eine Struktur der Bedeutung übersetzt. Der dritte Schritt beträfe dann die Frage, welche kognitive Funktion die sprachliche Bedeutungsstruktur eines Bildes, die aus dem konkreten Beobachtungsprozeß gewonnen wurde, für die Erfahrungssystematisierung und den Erfahrungsumbau eines kognitiven Systems spielt.


Beobachtung als Unterscheidung und Bezeichnung

Aufgrund der zahlreichen ungelösten Probleme, wie Beobachtung wirklich funktioniert, scheint es vorteilhaft, eine weitgehend abstrakte oder möglichst formale Theorie der Beobachtung zu entwickeln, die möglichst wenig auf spezifisch neurophysiologische oder wahrnehmungspsychologische Annahmen rekurriert. Beobachten kann man in einem ganz allgemeinen und abstrakten Sinne als eine Form von Unterscheidung ansehen. Unterscheidungen sind im Prinzip Zwei-Seiten-Formen, bei denen die eine, beobachtete, Seite der Unterscheidung als markierte Innenseite und die andere als unmarkierte Aussenseite bezeichnet wird. Die unmarkierte Aussenseite läuft als latenter Hintergrund der benutzten Unterscheidung in der Beobachtung mit durch. Ein mögliches Beispiel im visuellen Bereich stellt die Unterscheidung zwischen Figur und Hintergrund dar. Wenn ich die Figur als die bezeichnete Innenseite der Form auffasse, läuft der Hintergrund als unbezeichnete Außenseite der verwendeten Unterscheidung, mit durch. Die unbezeichnete Seite jeder Unterscheidung ist daher als blinder Fleck der Unterscheidung immer mit gegeben. Bezeichnete Innenseite und ausgeblendete Aussenseite zusammen ergeben jeweils die Form der Unterscheidung.
Erst in der tatsächlichen Beobachtungssituation oder konkreten Beobachtungsoperation eines Beobachters entstehen also Elemente, Abgrenzungen, Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Figur und Hintergrund, Fläche und dargestellter Raum, Übergänge, Dichte, Fülle usw. Sie sind keine beobachterunabhängigen, "gegebenen" Eigenschaften, sondern sie entstehen erst als Resultate basaler und komplexer Beobachtungs-, Unterscheidungs- und Bezeichnungsoperationen eines Beobachters.

Der erste Eindruck

Das erste bei der Beobachtung eines Bildes ist "der erste Eindruck". Bereits er ist eine Konstruktion des kognitiven Systems. Er hängt sowohl von den Voreinstellungen, den Beobachtungsgewohnheiten und dem kognitiven Stil des Beobachters ab als auch von besonders auffälligen und herausragenden Bildelementen, sog. attention getters. Unterscheidungstheoretisch gesprochen, präformiert die erste Unterscheidung alle weiteren Differenzierungen oder legt doch zumindest die weitere Richtung der Beobachtung fest. Man kann dies anhand von Aufzeichnungen des rapid eye movement beobachten. Verschiedene Beobachter benutzen dabei durchaus verschiedene Abtaststile. Die kontextuellen Voreinstellungen und Prädispositionen des kognitiven Systems bestimmen also von vorneherein die spezifische Art und Weise des Abtastverhaltens.

Die Selektivität der Beobachtung

Dies bedeutet, daß Beobachtung selektiv ist. Sie führt zu folgenreichen, selektiven Beobachtungsresultaten. Bei Bildern heißt dies, daß in Bezug auf die unterschiedenen Bildelemente und ihren Interaktionsmöglichkeiten mehr übersehen als gesehen wird. Die Frage, wie es von einem beobachteten und im Gehirn strukturierten Beobachtungsresultat zur sprachlichen Etikettierung des Wahrgenommenen kommt, ist bis heute weitgehend ungeklärt. Aber gerade diese Schnittstelle ist der entscheidende Punkt hinsichtlich der Frage, wie Bilder semantische Bedeutungen tragen können. Man kann sich differenztheoretisch damit behelfen, daß man argumentiert, daß die beobachtete Innenseite der Unterscheidung mit einem oder mehreren verschiedenen, sprachlichen Begriffen versehen wird.

Die Zeitlichkeit der Beobachtung

Unabhängig davon, wie die Beobachtungsstrukturierung bei verschiedenen Beobachtern abläuft, wird trotzdem erkennbar, daß das jeweilige Nacheinander des visuellen Erkennens von Bildelementen bereits eine Sinnstruktur per se darstellt, die sozusagen die Bedeutungsgenese von Bildern von vorneherein bestimmt. Es gibt in Bildern oftmals viele Details, die erst sehr spät oder auch gar nicht entdeckt werden, die schlicht und einfach über-sehen werden. Aufgrund der Selektivität der Beobachtung gerät der Unterscheidungsprozeß von vorneherein in eine zeitliche Struktur von sukzessiven Unterscheidungen. Bildbedeutung entsteht nicht simultan und sofort, sondern sie konstituiert sich nach und nach. Dabei lassen sich parallele Informationsverarbeitungsprozesse von sukzessiven Prozessen der Aufmerksamkeit unterscheiden. Die spezifische Form der generierten Bedeutung ist daher unter anderem davon abhängig, wieviel Zeit ein Beobachter einem Bild widmet. Grundsätzlich kann man sagen, daß Bildern meist zuwenig Zeit gewidmet wird und von daher der Prozeß der Bedeutungskonstitution oft viel zu früh abgebrochen oder nur oberflächlich anläuft. Erst eine gewisse Intensität und Ausdauer in der Beobachtung von Bildern führt zu entsprechend differenzierten Bedeutungsresultaten.

Bedeutung

Der zweite Schritt in der Bedeutungskonstruktion von Bildern ist daher die, je nach der zur Verfügung stehenden Zeit, möglichst detaillierte, präzise und vollständige Abtastung der Bildoberfläche. Aus diesen Prozeßen entsteht durch die semantische Etikettierung der verwendeten Unterscheidungen ein Bedeutungsfeld im kognitiven System des Beobachters, welches als eine begrifflich konstruierte Struktur in Kontakt mit den anderen, bereits bestehenden, Strukturen der Erfahrungsorganisation des kognitiven Systems tritt.
An diesem Punkt tritt das im Prozeß der Unterscheidung vom Beobachter erzeugte semantische Bedeutungsfeld in Kontakt mit den schon vorliegenden semantischen Erfahrungsstrukturen des kognitiven Systems. Die am Bild erfahrenen Bedeutungszusammenhänge werden nun mit den anderen, bereits bestehenden Strukturen im kognitiven System in Beziehung gesetzt. Das Wahrgenommene tritt in Kontakt mit den Wissensbeständen eines bestimmten kognitiven Systems. Daher trifft jedes Bild immer auf unterschiedliche Wissensbestände und Erfahrungen in unterschiedlichen Beobachtern.
Prinzipiell lassen sich hier drei verschiedene Möglichkeiten der Beziehung zwischen dem aktuell erzeugten Bedeutungsfeld und der Hintergrundstuktur des persönlichen Wissens unterscheiden. Eine spezifische Bilderfahrung kann erstens mit der bestehenden Erfahrungssystematisierung und Wissensorganisation in Einklang stehen, also bestehende Meinungen, Überzeugungen oder Vorurteile bestätigen. Die einzelne Bilderfahrung kann hier mit der bereits im kognitiven System bestehenden Bedeutungsorganisation in Übereinstimmung gebracht werden. Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß eine Bilderfahrung mit bestehenden Erfahrungssystematisierungen nicht in Einklang gebracht werden kann. Hierbei gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten. Eine Erfahrung lässt sich zwar innerhalb der Extremwerte der bisher erfahrenen Erlebnisse einfügen, aber die nötige Feindifferenzierung der Binnengliederung fehlt. Dies führt zu einer erneuten Verfeinerung und Ausdifferenzierung der bestehenden Erfahrungssysteme. Die dritte Möglichkeit besteht darin, daß eine konkrete Erfahrung außerhalb der Extremanker bisheriger Erfahrungen liegt. Dies bedeutet im Prinzip einen völligen Umbau der bisherigen Erfahrungssystematisierung. In dieser Situation kommt es am häufigsten zu vorzeitigem Wahrnehmungsabbruch und Wahrnehmungsabwehr.

Begriffliche Etikettierung und doppelte Kontingenz

Was ist nun ein Begriff? Hier stehen wir vor einer der fundamentalsten Fragen der Philosophie. Wie an anderer Stelle vom Verfasser ausführlich gezeigt wurde, können Begriffe nicht wie im sprachlichen Nominalismus mit Wörtern und ihrem sprachlichen Gebrauch gleichgesetzt werden. Verschiedene Kogntivionswissenschaftler haben ferner darauf hingewiesen, daß die sprachliche Etikettierung von Perzepten immer kontingent, d.h. immer auch anders möglich sein kann. Das bedeutet, daß auf eine bereits selektive Beobachtung eine ebenso selektive Bedeutungsetikettierung stattfindet. Die begriffliche Etikettierung des Wahrgenommenen als das Unterschiedene und Bezeichnete ist gegenüber dem materiellen Bildträger auf doppelte Weise kontingent, d.h. immer auch anders möglich. Ist. Dies führt zu einer prinzipiellen Unschärfe in der Erkenntnis von Bildern. Auf der anderen Seite führt die sprachliche Etikettierung von Beobachtungsresultaten zu begrifflichen Fixierungen, die nur noch in erschwertem Maße durch erneute Begriffsbildungen aufzulösen sind. Im Prinzip führt dies zu der Konsequenz, daß man annehmen muß, daß jeder Beobachter zunächst etwas anderes beobachtet, da jeder auf eine andere Art und Weise unterscheidet.

Die Bedeutung von Bildern als prinzipiell öffentlich beobachtbar

Nun sind die Begriffe der Sprache aber immer öffentliche Begriffe. Es gibt keine Privatsprache und wenn es sie gäbe, wäre sie nicht kommunizierbar. Das Bewußtsein ist privat, das kognitve System eines Beobachters ist operativ geschlossen. Erst über Anschlußkommunikationen können andere Beobachter beobachten, was ein Beobachter beobachtet hat, wenn er beobachtet. Erst wenn ein Beobachter, der ein bestimmtes Bild beobachtet hat, auf irgendeine Art und Weise mitteilt, was er gesehen hat, kann eine Kommunikation über das Gesehene stattfinden. Selbstverständlich kann ein Beobachter auch in jedem anderen beliebigen Medium, in dem er sich ausdrücken kann, über ein Bild kommunizieren. Er kann eine Skizze anfertigen, er kann es als Ölmalerei kopieren und auf diese Weise seine Beobachtungsselektion des Bildes interpretieren und veröffentlichen. Er kann es unter Umständen durch Gestik und Mimik beschreiben, er kann das Bild tanzen, er kann es vielleicht auf seiner Geige vorspielen. Bedeutung als kommunizierbare Form ist daher immer an ein Medium der Mitteilung gebunden und es muß nicht immer das Medium der Sprache oder der Schrift sein.

Probleme mit der sprachlichen Äußerung und der Privatheit der Beobachtung

An dieser Stelle wird man allerdings mit einem grundlegenden und schwer zu lösenden Problem konfrontiert. Denn jeder von uns weiß selbst aus seiner eigenen Erfahrung, was es heißt, ein visuelles Beobachtungserlebnis in verbaler oder schriftlicher Sprache auszudrücken. Oft haben wir das Gefühl, daß das, was wir gesagt haben, nicht exakt dasjenige ist, was wir sagen wollten. Es gibt offensichtlich eine mehr oder weniger große Diskrepanz zwischen dem, was, wir vermeinen, gesehen zu haben und dem, was wir davon sprachlich wiedergeben können. Außerdem ist es alles andere als klar, ob das, was wir sprachlich äußern, wirklich das ist, was wir glauben, gesehen zu haben.
Beobachtung und sprachliche Bezeichnung stehen bereits auf dieser Stufe in einer so engen Beziehung zueinander, daß eine Unterscheidung oft nur analytisch möglich ist oder selbst zu einem Artefakt wird. Die Formulierung des Gesehenen in einem anderen Medium interferiert rückwirkend in das ursprüngliche Beobachtungserlebnis und verändert die erste Beobachtungskonstruktion. Ich meine dies in einem ganz allgemeinen Sinne und auf alle Medien bezogen. Von daher könnte man sich auf den konstruktivistischen Standpunkt stellen, daß erst die Formulierung des Gesehenen in einem öffentlich zugänglichen Medium die Bedeutung eines Bildes konstituiert. Von daher könnte man auf die hypothetische Trennung zwischen Beobachtungsstruktur und Sprachstruktur verzichten. Denn beide sind nur analytische Trennungen und im Nachhinein nicht wieder voneinander zu separieren. Auf dieser Stufe einer potentiell öffentlich beobachtbaren Äußerung hat die mögliche Bedeutung, die ein Bild für einen Beobachter annehmen kann, plötzlich mit Medienkompetenz zu tun, nämlich mit der Fähigkeit, sich möglichst präzise und exakt in einem Medium ausdrücken zu können und diesen Ausdruck ebenso genau und angemessen verstehen zu können.

Verstehen und Medienkompetenz

Wie wir als Beobachter die kommunikativen Äußerungen eines anderen Beobachters verstehen, hängt wiederum von uns ab und von unserer Fähigkeit, diese Medien zu verstehen. Die Medienkompetenz des ersten Beobachters trifft also auf eine Medienkompetenz des anderen Beobachters. Dies erklärt auch die Möglichkeit des Mißverstehens und die produktiven Möglichkeiten, die in einem solchen Mißverhältnis liegen können. Verschiedene Beobachtungserlebnisse ein und desselben Bildes können durch ihre Formulierung in einem potentiell öffentlich zugänglichen Medium miteinander verglichen werden. Der eine Beobachter kann von den Beobachtungen und Beschreibungen des anderen etwas lernen und umgekehrt. Durch Sprache oder andere Medien (auch Bildmedien) als öffentlich zugänglichen Oberflächen entsteht also ein sozialer Raum, der auf den eigenen Erfahrungen in der Mediensozialisation beruht, in dem Bedeutungen von Beobachter zu Beobachter kommuniziert werden können.


Hans Dieter Huber