Existence is selective
blindness.
George Spencer-Brown
Übersicht über das Vorhaben
Zuerst wird zu klären sein, auf welchen Beobachtungsvorgängen Bedeutungskonstruktionen im Falle von Bildern beruhen. Zweitens wird zu klären sein, wie sich die Struktur des Beobachtungserlebnisses im kognitiven System des Beobachters in eine Struktur der Bedeutung übersetzt. Der dritte Schritt beträfe dann die Frage, welche kognitive Funktion die sprachliche Bedeutungsstruktur eines Bildes, die aus dem konkreten Beobachtungsprozeß gewonnen wurde, für die Erfahrungssystematisierung und den Erfahrungsumbau eines kognitiven Systems spielt.
Beobachtung als Unterscheidung und Bezeichnung
Aufgrund der zahlreichen ungelösten Probleme, wie Beobachtung
wirklich funktioniert, scheint es vorteilhaft, eine weitgehend
abstrakte oder möglichst formale Theorie der Beobachtung
zu entwickeln, die möglichst wenig auf spezifisch neurophysiologische
oder wahrnehmungspsychologische Annahmen rekurriert. Beobachten
kann man in einem ganz allgemeinen und abstrakten Sinne als eine
Form von Unterscheidung ansehen. Unterscheidungen sind im Prinzip
Zwei-Seiten-Formen, bei denen die eine, beobachtete, Seite der
Unterscheidung als markierte Innenseite und die andere als unmarkierte
Aussenseite bezeichnet wird. Die unmarkierte Aussenseite läuft
als latenter Hintergrund der benutzten Unterscheidung in der Beobachtung
mit durch. Ein mögliches Beispiel im visuellen Bereich stellt
die Unterscheidung zwischen Figur und Hintergrund dar. Wenn ich
die Figur als die bezeichnete Innenseite der Form auffasse, läuft
der Hintergrund als unbezeichnete Außenseite der verwendeten
Unterscheidung, mit durch. Die unbezeichnete Seite jeder Unterscheidung
ist daher als blinder Fleck der Unterscheidung immer mit gegeben.
Bezeichnete Innenseite und ausgeblendete Aussenseite zusammen
ergeben jeweils die Form der Unterscheidung.
Erst in der tatsächlichen Beobachtungssituation oder konkreten
Beobachtungsoperation eines Beobachters entstehen also Elemente,
Abgrenzungen, Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Figur und Hintergrund,
Fläche und dargestellter Raum, Übergänge, Dichte,
Fülle usw. Sie sind keine beobachterunabhängigen, "gegebenen"
Eigenschaften, sondern sie entstehen erst als Resultate basaler
und komplexer Beobachtungs-, Unterscheidungs- und Bezeichnungsoperationen
eines Beobachters.
Der erste Eindruck
Das erste bei der Beobachtung eines Bildes ist "der erste
Eindruck". Bereits er ist eine Konstruktion des kognitiven
Systems. Er hängt sowohl von den Voreinstellungen, den Beobachtungsgewohnheiten
und dem kognitiven Stil des Beobachters ab als auch von besonders
auffälligen und herausragenden Bildelementen, sog. attention
getters. Unterscheidungstheoretisch gesprochen, präformiert
die erste Unterscheidung alle weiteren Differenzierungen oder
legt doch zumindest die weitere Richtung der Beobachtung fest.
Man kann dies anhand von Aufzeichnungen des rapid eye movement
beobachten. Verschiedene Beobachter benutzen dabei durchaus verschiedene
Abtaststile. Die kontextuellen Voreinstellungen und Prädispositionen
des kognitiven Systems bestimmen also von vorneherein die spezifische
Art und Weise des Abtastverhaltens.
Die Selektivität der Beobachtung
Dies bedeutet, daß Beobachtung selektiv ist. Sie führt
zu folgenreichen, selektiven Beobachtungsresultaten. Bei Bildern
heißt dies, daß in Bezug auf die unterschiedenen Bildelemente
und ihren Interaktionsmöglichkeiten mehr übersehen als
gesehen wird. Die Frage, wie es von einem beobachteten und im
Gehirn strukturierten Beobachtungsresultat zur sprachlichen Etikettierung
des Wahrgenommenen kommt, ist bis heute weitgehend ungeklärt.
Aber gerade diese Schnittstelle ist der entscheidende Punkt hinsichtlich
der Frage, wie Bilder semantische Bedeutungen tragen können.
Man kann sich differenztheoretisch damit behelfen, daß man
argumentiert, daß die beobachtete Innenseite der Unterscheidung
mit einem oder mehreren verschiedenen, sprachlichen Begriffen
versehen wird.
Die Zeitlichkeit der Beobachtung
Unabhängig davon, wie die Beobachtungsstrukturierung
bei verschiedenen Beobachtern abläuft, wird trotzdem erkennbar,
daß das jeweilige Nacheinander des visuellen Erkennens von
Bildelementen bereits eine Sinnstruktur per se darstellt, die
sozusagen die Bedeutungsgenese von Bildern von vorneherein bestimmt.
Es gibt in Bildern oftmals viele Details, die erst sehr spät
oder auch gar nicht entdeckt werden, die schlicht und einfach
über-sehen werden. Aufgrund der Selektivität der Beobachtung
gerät der Unterscheidungsprozeß von vorneherein in
eine zeitliche Struktur von sukzessiven Unterscheidungen. Bildbedeutung
entsteht nicht simultan und sofort, sondern sie konstituiert sich
nach und nach. Dabei lassen sich parallele Informationsverarbeitungsprozesse
von sukzessiven Prozessen der Aufmerksamkeit unterscheiden. Die
spezifische Form der generierten Bedeutung ist daher unter anderem
davon abhängig, wieviel Zeit ein Beobachter einem Bild widmet.
Grundsätzlich kann man sagen, daß Bildern meist zuwenig
Zeit gewidmet wird und von daher der Prozeß der Bedeutungskonstitution
oft viel zu früh abgebrochen oder nur oberflächlich
anläuft. Erst eine gewisse Intensität und Ausdauer in
der Beobachtung von Bildern führt zu entsprechend differenzierten
Bedeutungsresultaten.
Bedeutung
Der zweite Schritt in der Bedeutungskonstruktion von Bildern
ist daher die, je nach der zur Verfügung stehenden Zeit,
möglichst detaillierte, präzise und vollständige
Abtastung der Bildoberfläche. Aus diesen Prozeßen entsteht
durch die semantische Etikettierung der verwendeten Unterscheidungen
ein Bedeutungsfeld im kognitiven System des Beobachters, welches
als eine begrifflich konstruierte Struktur in Kontakt mit den
anderen, bereits bestehenden, Strukturen der Erfahrungsorganisation
des kognitiven Systems tritt.
An diesem Punkt tritt das im Prozeß der Unterscheidung vom
Beobachter erzeugte semantische Bedeutungsfeld in Kontakt mit
den schon vorliegenden semantischen Erfahrungsstrukturen des kognitiven
Systems. Die am Bild erfahrenen Bedeutungszusammenhänge werden
nun mit den anderen, bereits bestehenden Strukturen im kognitiven
System in Beziehung gesetzt. Das Wahrgenommene tritt in Kontakt
mit den Wissensbeständen eines bestimmten kognitiven Systems.
Daher trifft jedes Bild immer auf unterschiedliche Wissensbestände
und Erfahrungen in unterschiedlichen Beobachtern.
Prinzipiell lassen sich hier drei verschiedene Möglichkeiten
der Beziehung zwischen dem aktuell erzeugten Bedeutungsfeld und
der Hintergrundstuktur des persönlichen Wissens unterscheiden.
Eine spezifische Bilderfahrung kann erstens mit der bestehenden
Erfahrungssystematisierung und Wissensorganisation in Einklang
stehen, also bestehende Meinungen, Überzeugungen oder Vorurteile
bestätigen. Die einzelne Bilderfahrung kann hier mit der
bereits im kognitiven System bestehenden Bedeutungsorganisation
in Übereinstimmung gebracht werden. Die zweite Möglichkeit
besteht darin, daß eine Bilderfahrung mit bestehenden Erfahrungssystematisierungen
nicht in Einklang gebracht werden kann. Hierbei gibt es im Prinzip
zwei Möglichkeiten. Eine Erfahrung lässt sich zwar innerhalb
der Extremwerte der bisher erfahrenen Erlebnisse einfügen,
aber die nötige Feindifferenzierung der Binnengliederung
fehlt. Dies führt zu einer erneuten Verfeinerung und Ausdifferenzierung
der bestehenden Erfahrungssysteme. Die dritte Möglichkeit
besteht darin, daß eine konkrete Erfahrung außerhalb
der Extremanker bisheriger Erfahrungen liegt. Dies bedeutet im
Prinzip einen völligen Umbau der bisherigen Erfahrungssystematisierung.
In dieser Situation kommt es am häufigsten zu vorzeitigem
Wahrnehmungsabbruch und Wahrnehmungsabwehr.
Begriffliche Etikettierung und doppelte Kontingenz
Was ist nun ein Begriff? Hier stehen wir vor einer der fundamentalsten
Fragen der Philosophie. Wie an anderer Stelle vom Verfasser ausführlich
gezeigt wurde, können Begriffe nicht wie im sprachlichen
Nominalismus mit Wörtern und ihrem sprachlichen Gebrauch
gleichgesetzt werden. Verschiedene Kogntivionswissenschaftler
haben ferner darauf hingewiesen, daß die sprachliche Etikettierung
von Perzepten immer kontingent, d.h. immer auch anders möglich
sein kann. Das bedeutet, daß auf eine bereits selektive
Beobachtung eine ebenso selektive Bedeutungsetikettierung stattfindet.
Die begriffliche Etikettierung des Wahrgenommenen als das Unterschiedene
und Bezeichnete ist gegenüber dem materiellen Bildträger
auf doppelte Weise kontingent, d.h. immer auch anders möglich.
Ist. Dies führt zu einer prinzipiellen Unschärfe in
der Erkenntnis von Bildern. Auf der anderen Seite führt die
sprachliche Etikettierung von Beobachtungsresultaten zu begrifflichen
Fixierungen, die nur noch in erschwertem Maße durch erneute
Begriffsbildungen aufzulösen sind. Im Prinzip führt
dies zu der Konsequenz, daß man annehmen muß, daß
jeder Beobachter zunächst etwas anderes beobachtet, da jeder
auf eine andere Art und Weise unterscheidet.
Die Bedeutung von Bildern als prinzipiell öffentlich beobachtbar
Nun sind die Begriffe der Sprache aber immer öffentliche
Begriffe. Es gibt keine Privatsprache und wenn es sie gäbe,
wäre sie nicht kommunizierbar. Das Bewußtsein ist privat,
das kognitve System eines Beobachters ist operativ geschlossen.
Erst über Anschlußkommunikationen können andere
Beobachter beobachten, was ein Beobachter beobachtet hat, wenn
er beobachtet. Erst wenn ein Beobachter, der ein bestimmtes Bild
beobachtet hat, auf irgendeine Art und Weise mitteilt, was er
gesehen hat, kann eine Kommunikation über das Gesehene stattfinden.
Selbstverständlich kann ein Beobachter auch in jedem anderen
beliebigen Medium, in dem er sich ausdrücken kann, über
ein Bild kommunizieren. Er kann eine Skizze anfertigen, er kann
es als Ölmalerei kopieren und auf diese Weise seine Beobachtungsselektion
des Bildes interpretieren und veröffentlichen. Er kann es
unter Umständen durch Gestik und Mimik beschreiben, er kann
das Bild tanzen, er kann es vielleicht auf seiner Geige vorspielen.
Bedeutung als kommunizierbare Form ist daher immer an ein Medium
der Mitteilung gebunden und es muß nicht immer das Medium
der Sprache oder der Schrift sein.
Probleme mit der sprachlichen Äußerung und der Privatheit
der Beobachtung
An dieser Stelle wird man allerdings mit einem grundlegenden
und schwer zu lösenden Problem konfrontiert. Denn jeder von
uns weiß selbst aus seiner eigenen Erfahrung, was es heißt,
ein visuelles Beobachtungserlebnis in verbaler oder schriftlicher
Sprache auszudrücken. Oft haben wir das Gefühl, daß
das, was wir gesagt haben, nicht exakt dasjenige ist, was wir
sagen wollten. Es gibt offensichtlich eine mehr oder weniger große
Diskrepanz zwischen dem, was, wir vermeinen, gesehen zu haben
und dem, was wir davon sprachlich wiedergeben können. Außerdem
ist es alles andere als klar, ob das, was wir sprachlich äußern,
wirklich das ist, was wir glauben, gesehen zu haben.
Beobachtung und sprachliche Bezeichnung stehen bereits auf dieser
Stufe in einer so engen Beziehung zueinander, daß eine Unterscheidung
oft nur analytisch möglich ist oder selbst zu einem Artefakt
wird. Die Formulierung des Gesehenen in einem anderen Medium interferiert
rückwirkend in das ursprüngliche Beobachtungserlebnis
und verändert die erste Beobachtungskonstruktion. Ich meine
dies in einem ganz allgemeinen Sinne und auf alle Medien bezogen.
Von daher könnte man sich auf den konstruktivistischen Standpunkt
stellen, daß erst die Formulierung des Gesehenen in einem
öffentlich zugänglichen Medium die Bedeutung eines Bildes
konstituiert. Von daher könnte man auf die hypothetische
Trennung zwischen Beobachtungsstruktur und Sprachstruktur verzichten.
Denn beide sind nur analytische Trennungen und im Nachhinein nicht
wieder voneinander zu separieren. Auf dieser Stufe einer potentiell
öffentlich beobachtbaren Äußerung hat die mögliche
Bedeutung, die ein Bild für einen Beobachter annehmen kann,
plötzlich mit Medienkompetenz zu tun, nämlich mit der
Fähigkeit, sich möglichst präzise und exakt in
einem Medium ausdrücken zu können und diesen Ausdruck
ebenso genau und angemessen verstehen zu können.
Verstehen und Medienkompetenz
Wie wir als Beobachter die kommunikativen Äußerungen
eines anderen Beobachters verstehen, hängt wiederum von uns
ab und von unserer Fähigkeit, diese Medien zu verstehen.
Die Medienkompetenz des ersten Beobachters trifft also auf eine
Medienkompetenz des anderen Beobachters. Dies erklärt auch
die Möglichkeit des Mißverstehens und die produktiven
Möglichkeiten, die in einem solchen Mißverhältnis
liegen können. Verschiedene Beobachtungserlebnisse ein und
desselben Bildes können durch ihre Formulierung in einem
potentiell öffentlich zugänglichen Medium miteinander
verglichen werden. Der eine Beobachter kann von den Beobachtungen
und Beschreibungen des anderen etwas lernen und umgekehrt. Durch
Sprache oder andere Medien (auch Bildmedien) als öffentlich
zugänglichen Oberflächen entsteht also ein sozialer
Raum, der auf den eigenen Erfahrungen in der Mediensozialisation
beruht, in dem Bedeutungen von Beobachter zu Beobachter kommuniziert
werden können.