Hans Dieter Huber
Über das Sammeln, Erhalten und Vermitteln von Bits and Bytes


First Installation: 4.2.02 Last Update: 4.2.02


Vortrag im Rahmen der Tagung "under construction: art.net.dortmund.de", 19. Mai 2001, ursprünglich elektronisch publiziert unter http://www.art.net.dortmund.de/ger/per/hu_4fr.html

Mit der Entstehung des WWW Ende 1993 /Anfang 1994 entstanden parallel und in schneller Folge eine ganze Reihe künstlerischer Arbeiten, die auf der Technologie des Internets und seinen technologischen Bedingungen und Möglichkeiten basieren. So wie das Internet unsere Gesellschaft vor neue Herausforderungen stellte, stellte die Kunst, die mit dem Internet und speziell dem WWW entstand, ebenfalls neue Herausforderungen an die Künstler, die Kritiker, die Kunstgeschichte, die Ästhetik, die Museologie und die Restaurierung. Durch die Bedingungen des Netzes forciert,

entstand ein neuer Typ von Künstler. Da die Hauptfunktion des Internets in der Ermöglichung lokal ungebundener und nicht hierarchischer Kommunikation ist, waren es vor allem Künstler oder Künstlergruppen, die an solchen heterarchischen und remoten Kommunikationsformen in künstlerischen oder in aktivistischen Kontexten interessiert waren, die sich dieses Medium sehr schnell zu eigen machten. Künstlerische Mailboxsysteme wie The Thing, New York, 1991 gegründet, die Digitale Stadt Amsterdam (Jan. 1994), die Internationale Stadt Berlin, das Ljudmila Lab in Ljubljana gehören in diese frühe Gruppe künstlerisch-aktivistischer Auseinandersetzung mit dem neuen Medium. Einige dieser Künstler hatten vorher Videos gedreht, aber nicht alle. Philip Pocock hatte beispielsweise 1988 in New York zusammen mit John Zinsser das Journal of Contemporary Art gegründet. Zum ersten Mal in der langen Geschichte der Kunst musste man sich nicht mehr an einen bestimmten Ort begeben, um Kunstwerke im Original betrachten zu können. Das Original kam nach Hause auf den Bildschirm. Man konnte sich die Werke aus Kanada, Amerika, Slowenien, Spanien oder den Niederlanden per Mausklick weitgehend kostenlos zu sich nach Hause ins gut geheizte Zimmer holen. Zum ersten Mal konnte die lokale und zeitliche Gebundenheit von Ausstellungen, ihre "site specifity", aufgelöst und dadurch in Frage gestellt werden. Eine radikale Herausforderung für jegliche Ästhetik. So verwundert es nicht, dass Vuk Cosic sich sinngemäß äußert: Wir brauchen keine Ausstellungen von net.art, denn die Kunst ist bereits ausgestellt - und zwar im Netz. Hier entstehen herausfordernde, neue Fragen nach der Kontextualisierung und der Einbettung solcher, von der Institution eines Ortes und einer Zeit, und damit eines großen Namens unabhängigen Arbeiten. Werke der net.art benötigen zunächst und zuerst einmal überhaupt keinen Galeristen, keinen Kunstverein, keinen Kurator, keinen Kritiker, um in der Öffentlichkeit präsentiert zu werden. Die Distributionskanäle liefen und laufen weitgehend außerhalb des traditionell etablierten und institutionell vorstrukturierten Kunstsystems.

Dennoch trafen die Künstler der net.art auf dieses hoch effiziente Kunstsystem, um das sie entweder wie Katzen um den heißen Brei schlichen oder - als politische Aktivisten - gar nichts damit zu tun haben wollten, aber dann doch immer wieder um ihre Anerkennung durch das System buhlten. Es dauerte im Vergleich zu der rasanten Geschwindigkeit, mit der sich das Netz entwickelte, sehr lange, bis das Kunstsystem endlich zur Kenntnis nahm, dass sich hier ein neues Medium etabliert hatte. Dieser Prozess der Kenntnisnahme ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Die Kunstkritik konnte sich am schnellsten auf diese neuen Kunstformen einstellen und in ihrer eigenen Sprache eines tagesaktuellen Jargons wichtige erste Verankerungen und Kontextualisierungen vornehmen. Kritiker wie Tilmann Baumgärtel, Josephine Bosma oder Matthew Mirapaul begleiteten von Anfang an mit ihren schnell erschienenen Interviews, Artikeln und Kommentaren die sich neu bildende Kunstform. Interessant ist es hier auch, dass in historischer Sichtweise die Kritiker den Sprung vor die Kuratoren geschafft haben. Während in traditionellen Ausstellungssituationen und -kontexten die Arbeit und Funktion der Kritiker erst da beginnt, wo die Kuratoren ihre Arbeit bereits getan haben, haben wir es hier mit einer umgekehrten Reihenfolge zu tun. Die Kritiker und Medientheoretiker haben die Kuratoren von der angestammten Poleposition zunächst auf den zweiten Platz verwiesen. Welche Veränderungen in der inhaltlichen Verbreitung der Kunstwerke sich daraus ergibt, wird sich erst noch zeigen.

Die Kunstgeschichte tat sich da schwerer. Bis auf einige wenige Ausnahmen, gibt es bis heute in der Kunstgeschichte kaum nennenswerte Beiträge, Forschungen oder theoretisch-methodische Diskurse. Ein, zwei junge Kunsthistoriker haben zwar die ersten Magisterarbeiten über das Thema verfasst, und diese sind sehr wichtige und viel versprechende Arbeiten der frühen Rezeptionsgeschichte von net.art, aber von Seiten der professionellen Kunstwissenschaft ist bisher in diesem Bereich sehr wenig zur Kenntnis genommen worden.

Auch die Institution Museum tut sich entsprechend schwer mit diesem neuen Medium. In den USA haben die ersten Museen vor etwa zwei Jahren erkannt, dass es schick ist und im Geschäft mit der Konkurrenz der Ausstellungsinstitutionen Standortvorteile bringt, wenn man sich eine hippe net.art extension auf den Webserver seines Museums legt. Es ist wie mit Optionsscheinen oder Junk Bonds. Man kauft eigentlich nur die Hoffnung oder die Option darauf, dass man vielleicht irgendwann einmal ein historisches Hauptwerk einer elektronischen Epoche oder Übergangszeit in Händen halten könnte. Benjamin Weil war einer der ersten im Netz, der bereits im Februar 1995 mit der Plattform äda'web begann, Künstlern wie Jenny Holzer, Julia Scher, Doug Aitken und vielen anderen eine Möglichkeit mit entsprechendem technologischen Fachwissen zur Verfügung zu stellen, um hervorragende Netz spezifische Werke zu schaffen. Das Walker Art Center in Minneapolis unter der Leitung des Medienkurators Steve Dietz hat bisher die überzeugendste kuratorische Arbeit auf diesem Gebiet geleistet. Steve Dietz veranstaltete 1998 die erste kuratierte Ausstellung zur net.art und überzeugt bis heute sowohl durch seine konsequente theoretische wie kuratorische Sorgfalt. Andere Museen wie das New Yorker Guggenheim Museum oder das San Francisco MoMa folgen diesem Weg.

Deutsche oder europäische Museen haben die Entwicklung dieses Mediums, mit Ausnahme von Le Fresnois in Lille und des ZKM in Karlsruhe verschlafen, welches sich unter der Leitung von Peter Weibel endlich der Geschichte, Theorie und Ästhetik der Telekommunikationsmedien angenommen hat. Weder gibt es spezialisierte Kuratoren für Medienkunst noch Grundlagenforschung zu Fragen der Erhaltung, Konservierung oder Restaurierung digitaler Informationen. Das Museum als visuelles Display und als Animationsbetrieb gehobener Freizeitunterhaltung für ein gehobenes Publikum, dem herkömmliche Themenparks zu primitiv sind, ist durch seine Ideologie des Spektakels zu sehr von kurzfristigen Medienerfolgen geblendet, als dass es sich langfristigeren Fragen und Perspektiven widmen könnte.

Von einer ästhetischen Theorie der net.art ist ebenfalls kaum zu sprechen. Uns fehlen bis heute überzeugende Analysen zum ästhetischen Funktionieren von Websites, die eindeutig künstlerische Arbeiten sind. Es gibt keine Geschichte des Webdesigns, obwohl es sich beim Internet um ein bedeutendes Wirtschaftsprodukt der New Economy handelt, und es gibt keine ästhetische Theorie der net.art. Erst in zaghaften Versuchen artikulieren sich hier wie zarte Frühlingsknospen seit ein bis zwei Jahren die ersten Argumentationsstränge. Peter Weibel ist als Künstler, Theoretiker und Ausstellungsmacher seit Jahrzehnten immer wieder einer der ersten und wichtigsten gewesen, die auf die neuen und veränderten Dimensionen des Ausstellens unter der Bedingung des Netzes hingewiesen haben. Seine Unterscheidung zwischen einer Nahgesellschaft und einer Ferngesellschaft reflektiert bereits erste Konsequenzen der Telekommunikationsgesellschaft und der Rolle lokal ungebundener Kunstformen in dieser globalisierten Gesellschaftsform.

Von Sammlern und Galeristen kann man im Zusammenhang mit net.art eigentlich überhaupt noch nicht sprechen. Mir sind zwar einige Personen bekannt, die den Versuch unternommen haben, net.art übers Netz zum Verkauf anzubieten. Aber es gibt bisher noch so gut wie keinen Markt für dieses Medium. Der Markt ist der Ort des Zusammentreffens von Angebot und Nachfrage. Das Angebot ist seit sechs Jahren reichlich vorhanden, aber die Nachfrage fehlt. Denn erst wo gesammelt und gekauft wird, entsteht ein Markt. Solange net.art nicht gesammelt wird, wird es auch keinen Markt dafür geben und folglich auch keine Galeristen, die hier zwischen Käufern und Künstlern Preis bildend vermitteln.

Wenn diese Ausführungen also den gegenwärtigen Stand wiedergeben, dann stellt sich die Frage: Wie geht unsere Gesellschaft gegenwärtig mit dieser Kunst um? Man kann diese Fragestellung noch weiter umschreiben, indem man danach fragt, wie möchte denn unsere Gesellschaft gerne damit umgehen; wie könnte sie damit umgehen, oder noch schärfer: wie sollte sie damit umgehen?

Net.art muss zu allererst einmal gesammelt werden, um für die Nachwelt erhalten zu werden. Wo keiner sammelt, wird auch nichts aufgehoben. Aber was sollte man sammeln, wie sollte man es sammeln und warum? Es geht meiner Meinung nach darum, net.art als ein künstlerisches Medium zu begreifen, das eine Geschichte besitzt, wie alle anderen künstlerischen Medien auch. Ich schlage daher heute die Historisierung der net.art vor. Denn sie ist als Kunstform in ihrer heißen Phase schon Vergangenheit. Ich mache hier an dieser Stelle z.B. keinen Unterschied zwischen einem frühen anonymen Einblattholzschnitt des 15. Jahrhunderts, einer Zeichnung Michelangelos, den Kupferstichen Marcantonio Raimondis, den frühen Lithografien Alois Senefelders, den Celestografien von August Strindberg, den ersten Videotapes von Nam June Paik und Werken der net.art. Man kann künstlerische Werke, die verschiedene Einzelmedien der Mediengattung Internet zur Formulierung ihrer Form benutzen, ohne weiteres aus einer historischen Perspektive beobachten, beschreiben und einbetten. Diese historische Aufarbeitung und Einbettung muss aber noch geleistet werden. Wir sollten daher jetzt konsequent mit der Historisierung der net.art beginnen, denn sie ist nicht mehr Avantgarde, sondern vergangene Geschichte. Der Net.art-Künstler Vuk Cosic sagte zu mir in einem leicht melancholischen Unterton während einer Taxifahrt mit Tempo 100 durch das nächtliche Ljubljana: "I am history - ich bin Geschichte." Und er hat Recht. Net.art können wir heute schon als eine sehr spezielle, eng begrenzte, historische Kunstbewegung in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre begreifen.

Eine genaue und fundierte historische Quellenrecherche ist das A und O jedes differenzierten Verständnisses von Geschichte, das Fundament aus Wahrheit oder Lüge, auf dem man sich bewegt. Man hat es selbst in der Hand, ob man sich auf einem brüchigen Fundament aus falschen Angaben, schlecht recherchierten Zusammenhängen und oberflächlicher buzzword theory bewegen will, um in irgendeiner subkulturellen Subszene zum virtuellen Star zu werden, dessen Zenit genau so schnell wieder verglüht ist, wie er aufgegangen ist oder ob wir endlich mal dazu kommen, trotz aller Hektik und Zeitdruck, in einem Status temporärer Trägheit die historischen Zusammenhänge genau, in Ruhe und auf differenzierte Weise zu erforschen. Ich plädiere sehr dafür, nicht nur an Netzkünstler und Kuratoren zu denken, die zeitlich begrenzte künstlerische oder kuratoriale Projekte durchführen, sondern auch einer jungen KunstwissenschaftlerIn ein Forschungsstipendium zur historischen Erforschung bestimmter Aspekte von net.art zu vergeben. Ich halte das jetzt im Moment für wichtiger als noch ein neues, subventioniertes artist-in-residence-Programm. Während wir auf der einen Seite einer Kuratorenschwemme entgegen blicken, wird immer deutlicher, dass wir durch die staatliche Kahlschlagpolitik in den Geisteswissenschaften der letzten 10-15 Jahre einem eklatanten Wissenschaftlermangel entgegen sehen. Es gibt auf diesem Gebiet kaum gut ausgebildeten Nachwuchs.

Net.art besitzt ebenso wie alle anderen Medien, die jemals erfunden wurden, ihre medienspezifischen, künstlerischen, sozialen und gesellschaftlichen Wurzeln und Verbindungen. Es gilt, diese strukturellen Kopplungen und operationalen Schließungen in einer historischen Recherche und Rekonstruktion einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Erst eine genaue historische Recherche kann die Grundlage einer Vermittlungsarbeit von net.art sein. Indem wir ästhetische, kunst- medien- oder kulturhistorische Interpretationen einzelner Werke der net.art exemplarisch durchführen, bereiten wir den Boden für eine historische Einbettung und sprachliche Vermittlung dieser Werke vor.

Was sollen wir sammeln, wie sollen wir es sammeln und vor allem, warum sollen wir etwas sammeln? Fangen wir mit der letzten Frage an. Wir können uns in jedes beliebige Heimat-, Kunst- oder Industriemuseum begeben. Was wir dort bewundern, sind individuelle Spitzenleistungen, die Erfindung der Mona Lisa, des Jacquard-Webstuhls, der ersten Benzin betriebenen Kutsche der Welt oder des ersten Satelliten in der Umlaufbahn der Erde. Es hilft uns, unsere kulturelle Identität in unserem sozialen Leben auf diesem Planeten besser zu verstehen, die geschichtliche Situation, in der wir leben, besser zu begreifen und unsere kulturelle Identität zu erfahren. Es ist klar, dass jede museale Konstruktion eine ideologische Interpretation von Geschichte darstellt. Aber das Problem ist, dass wir keine Ideologie freie, neutrale Darstellung von net.art geben können. Jede Darstellung wird von einer bestimmten ideologischen Position aus argumentieren müssen, und diese Position wird wiederum von einer anderen ideologischen Position aus angreifbar sein. Die Gegenstände einer materiellen Kultur sind enorm wichtig für die ästhetische Formulierung einer kulturellen Identität. Welche Aspekte kultureller Identität würden sich durch ein Sammeln, Ausstellen und Vermitteln von net.art in Dortmund formieren und formulieren lassen? Ich lasse die Frage als eine offene Leerstelle im Raum stehen, so dass sie jeder durch seine eigene Imagination beantworten kann.

Denken wir noch einmal über die konservatorische Betreuung und Erhaltung von Arbeiten der net.art nach. John Ippolito hat am 31. März auf der variable-media-conference im Guggenheim Museum, New York vier mögliche Stufen der Konservierung von zeitgenössischer Kunst aufgestellt: storage, emulation, migration und re-interpretation. Die bisherigen Konzepte zur Erhaltung digitaler Informationen von Seiten der Restauratoren sehen im Wesentlichen zwei Methoden vor, nämlich Migration und Emulation.

Migration
Die Langzeitverfügbarkeit digitaler Informationen durch kontinuierliche Migration zu erreichen, ist der eher traditionelle Ansatz. Durch Migration soll erreicht werden, dass Bild- oder Textdateien mit ihren Kontext und Erschließungsinformationen über lange Zeiträume im Umfeld der jeweils zeitbezogenen Hard- und Softwareinformation verfügbar und lesbar bleiben. Technisch geschieht das einerseits durch Auffrischen der Signale, und andererseits durch kontinuierliche Anpassung der Aufzeichnungsformate sowie nicht zuletzt durch Anpassung an die zeitbedingt geänderte Software, wodurch Informationen und die mit ihnen verbundenen Funktionalitäten zugänglich erhalten werden können.

Emulation
Das Emulationskonzept zur Langzeitverfügbarkeit digitaler Daten wurde alternativ zum Migrationskonzept von Jeff Rothenberg (1995) vorgeschlagen, der es für zu unsicher hielt. Prinzipiell beruht das Konzept darauf, die Funktionalität des Systems in der Zeit, in der sie entstanden ist, nachzubilden, d.h. es soll eine nicht mehr vorhandene Hardware und Betriebssystemumgebung so nachgeahmt werden, dass die digitale Information in ihrer ursprünglichen Softwareumgebung und damit auch in ihrer ursprünglichen Funktionalität zugänglicher gemacht und erhalten werden kann. In der Praxis ist es dafür erforderlich, die digitalen Konversionsformen, Kontextinformationen, Anwendungssoftware und Betriebssysteme mit den entsprechenden Dokumentationen zusammen zuspielen, regelmäßig aufzufrischen, und auf jeweils gängigen Informationsträgern zu stabilisieren.

Man kann die Frage der Erhaltung auch allgemeiner und weniger technisch stellen (am Beispiel einer Installation von Dan Graham). Ist es wichtig, dass der materielle Träger einer künstlerischen Arbeit identisch erhalten bleibt oder nicht? Kann der materielle Trägerrahmen auch aus anderen Materialien reproduziert werden? Es gibt Arbeiten, bei denen sind die Originalmaterialien entscheidend und ein Original unterscheidet sich genau dadurch von einer Reproduktion oder einer Kopie. Aber es gibt auch zahlreiche Arbeiten in der Kunst des 20. Jahrhunderts, bei denen man den materiellen Träger oder Teile davon ersetzen kann und trotzdem noch das gesamte Werk als Beobachter angemessen erfahren kann. Von solcher Art würde ich die Installationen Dan Grahams oder Bruce Naumans ansehen. Es ist für die ästhetische Erfahrung dieser Werke nicht entscheidend, ob der Schall isolierende Einwegspiegel genau derjenige ist, der 1974 von Dan Graham selbst ausgewählt wurde, oder ob es einer ist, dessen Schallisolierungswerte und Reflexionswerte dem originalen Spiegel entsprechen. Entscheidend ist, dass die ästhetische Erfahrung so gemacht werden kann, wie sie vom Künstler beabsichtigt wurde. In diesem Sinne spricht Benjamin Weil, Media Curator am SFMoma von der ?conservation of artistic intent", von der Erhaltung und Konservierung der künstlerischen Intention. Nun ja, wie kann man Absichten konservieren? Das ist für einen analytisch ausgebildeten Philosophen eine interessante Frage.

Halten wir als Zwischenergebnis fest: Es gibt Arbeiten, bei denen die Originalität des materiellen Trägers für die ästhetische Erfahrung und die Authentizität des Werkes entscheidend sind. Dies sind Arbeiten, die im weitestgehenden Sinne auf einer Ideologie der Authentizität fußen und den Glauben an diese Ideologie für ihr ästhetisches Funktionieren zwingend benötigen. Bei Arbeiten, die nicht auf dieser Ideologie der Authentizität operieren, kann der materielle Träger vollkommen ausgetauscht werden und die ästhetische Erfahrung des Werkes kann trotzdem gemacht werden. Zu dieser Gruppe von Arbeiten zähle ich auch die Werke der Net.art. Ferner gehören hier alle Werke hinein, die in irgendeiner Art und Weise auf einer wie auch immer gearteten Notation beruhen, seien es Musikwerke, Tanznotationen, Anweisungen zur Ausführung von Sol Lewitt Wall Drawings, die Stacks von Felix Gonzalez-Torres, HTML-Notationen. Ihnen liegt eine bestimmte mehr oder weniger genau beschriebene oder syntaktisch definierte Notation zugrunde, die durch ihre Ausstellung, Präsentation, Aufführung eine Interpretation erfahren. Der Browser, der die HTML-Notation einer net.art Arbeit auf der Oberfläche eines Bildschirms darstellt, stellt eine solche Aufführung bzw. eine orts- und zeitspezifische Interpretation von net.art dar. Der Browser ist sozusagen der Dirigent eines ganzen Symphonieorchesters, der eine tote Notation mehr oder weniger gelungen zum Leben erweckt. Da net.art immer schon aufgrund der Differenz von Browseroberfläche und Source Code, oder um in Begriffen von Jodi zu sprechen, von surface und underground, funktionierte, kann die materielle Erscheinung von net.art beliebig ausgetauscht oder differenziert werden. Das Entscheidende ist die Konstanz der HTML-Notation, die verschiedenartige, historische und ortsspezifische Interpretationen und Aufführungen erfährt und erfahren wird.

Was nun aber neu hinzukommt, sind zwei Dinge: einmal die breite Distribution und zum anderen die Konservierung der künstlerischen Absicht. Bei der Erhaltung Netz basierter Kunstwerke durch eine sammelnde Instanz muss also ein Umdenken stattfinden. Zusammen mit dem oder den Künstlern müssen die entscheidenden Parameter einer Arbeit festgelegt werden. Der Künstler muss in Interviews, Texten, Skizzen und Anweisungen zusammen mit dem Kurator, dem Kunstwissenschaftler oder Restaurator eine möglichst präzise Beschreibung derjenigen Parameter geben, die für ein ästhetisch befriedigendes Funktionieren der jeweiligen Arbeit auch in Zukunft, in späteren Zeiten, wenn alle Beteiligten längst das Zeitliche gesegnet haben, sorgt. Der Künstler sollte sich also von Anfang an Gedanken über die Art und Weise der Konservierung Erhaltung und Reinterpretation seiner künstlerischen Arbeit aufgrund einer Dokumentation, einer Notation oder einer genauen Anweisung machen. Er sollte klar und deutlich aussprechen oder formulieren, welches die zentralen Kategorien oder Parameter sind, deren Erhaltung für das ästhetische Funktionieren seiner Arbeit essenziell sind und welche Elemente, Relationen und Parameter frei variabel bleiben können. Der Künstler braucht hierzu einen Partner, um diese Parameter festlegen zu können. Die Frage ist, wer kann dieser Partner sein, und wie sollte er ausgebildet sein, um dieser Partner sein zu können?

Als Historiker bin ich gewohnt, in großen Zeitabschnitten zu denken. Nehmen wir einmal die Zeichnung der delphischen Sybille von Michelangelo. Das Blatt hat großes Glück gehabt, dass es die 500 Jahre bis heute überstanden hat. Denn es hätte auch verloren gehen, verbrennen oder aus Versehen weggeworfen werden können. Das Papier hätte Säuren enthalten können, die die Zellstruktur der Flachsfaser hätten zerstören können. Wenn Michelangelo mit Eisengallustinte gezeichnet hätte wie Johann Sebastian Bach seine Partituren geschrieben hat, oder wie Vincent van Gogh mit einer billigen, nicht lichtechten Tusche, dann wäre das Blatt heute auch nicht mehr vorhanden. Menschliche Unzulänglichkeit ist hier einer der Hauptgründe historischer Substanzverluste. Die historische Achillesferse einer Michelangelo-Zeichnung liegt also eindeutig in der Tatsache, dass sie nur ein einziges Mal auf der Welt vorhanden ist. Dasselbe gilt von Werken der net.art. Sie sind meist auch nur ein einziges Mal auf einem Server vorhanden. Sicher gibt es irgendwo noch Backup-Kopien, zuhause oder beim Provider oder bei Alexa in San Francisco. Jeder von uns weiß exakt, wie schnell und unwiderruflich ein Ordner oder eine Datei für immer und ewig von unserem Planeten verschwunden sein kann. Dazu benötigt man nicht einmal einen Mülleimer.

Aber denken wir ruhig einmal 500 Jahre in die Zukunft. Was wollen wir, dass im Jahre 2501 von unseren heutigen Gedanken, Werken und kulturellen Leistungen auf dem Gebiete der net.art erhalten geblieben ist? Welches Medium ist für eine solche Erhaltung am besten geeignet oder besitzt die größte Wahrscheinlichkeit, dass es auch in 500 Jahren noch verfügbar sein könnte und verstanden werden kann. Digitale, Computer basierte Arbeiten scheiden hier völlig aus. Wenn selbst das Nixdorf Museum in Paderborn aufgehört hat, Software zu konservieren und nur noch die Kunststoffgehäuse der Rechner als materielle Designobjekte in ihren Vitrinen präsentiert, dann sollten wir kritisch darüber nachdenken, wie wir net.art der Nachwelt erhalten wollen. Bei digitaler Konservierung plus Emulation können wir vielleicht maximal über 10-20 Jahre Verfügbarkeit diskutieren, aber nicht über 500. Auch Überlegungen zu Open Source Anwendungen sind hier nur ein kurzes Strohfeuer. Sie stellen keine wirkliche Lösung dieser Problematik dar. Man könnte cool und zynisch argumentieren: na ja, manche Arbeiten der net.art sind sowieso nicht besonders gut, macht also gar nichts. Aber da muss ich als historisch arbeitender Wissenschaftler einschreiten und sagen: wir könnten uns alle irren. Denn historische Bedeutung unterliegt einer ständigen Revision. Sie entsteht erst durch Kontextualisierung. Durch Veränderung und Wandel historischer Kontexte ändert sich zwangsläufig die Bedeutung eines Werkes. Da der Wandel unser Gesellschaft permanent und sehr schnell fortschreitet, ändert sich Bedeutung ebenso permanent und schnell. Die ästhetisch-historische Bedeutung eines Kunstwerkes ist keinesfalls absolut fixiert. Ganz im Gegenteil: die Wahrscheinlichkeit, dass wir aufgrund der zeitlichen Nähe und persönlichen Involviertheit in net.art diese vollkommen falsch einschätzen und bewerten, ist ziemlich hoch. Dies lehrt ebenfalls ein Blick in die Geschichte der Kunst.

Sehen wir uns also einmal die Chancen verschiedener Medien auf historisches Überdauern an. Ein Ölgemälde hat schlechte Chancen, da es nur einmal auf der Welt existiert, ebenso eine Stein- oder Holzskulptur. Auch ein Bauwerk ist nicht sicher davor gefeit, zerstört zu werden oder verloren zu gehen, denken sie an Abriss, Erdbeben oder Bomben. Bei einer Bronzeskulptur ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Exemplar erhalten bleibt umso größer, je mehr Güsse angefertigt wurden. Eine fotografische Abbildung ist da schon in einer besseren Position. Davon könnten theoretisch bis zu 40 Abzüge auf Erden kursieren. Sie ahnen vielleicht schon, auf was ich hinaus will, nämlich auf eine möglichst hohe simultane Verbreitung an verschiedenen Orten. High scale distribution ist die dritte Möglichkeit für Erhaltung. Das Medium Buch ist dafür das geeignetste. Das älteste gedruckte Buch ist die Gutenberg-Bibel von 1450, die in mindestens 140 Exemplaren auf Papier und 40 Exemplaren auf Pergament gedruckt wurde. Von der Papierausgabe existieren heute noch, nach über 550 Jahren 49 Exemplare, während von den Exemplaren auf Pergament nur noch 4 Exemplare erhalten geblieben sind. Wenn man künstlerische Werke der net.art also für einen Zeitraum von 500 Jahren für die Nachwelt erhalten will, sind zuverlässige Dokumentations- und Notationsverfahren, wie oben erwähnt, anzudenken.


Hans Dieter Huber