Hans Dieter Huber / Gottfried Kerscher
Kunstgeschichte im "Iconic Turn"
Ein Interview mit Horst Bredekamp

erschienen in: kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Sonderheft Netzkunst, Jg. 26, 1998, Heft 1 , S. 85-93

HUBER: Sie haben vor kurzem vom "Aufstand der Kunstgeschichte" gesprochen.(1) Was ist das?

BREDEKAMP: "Aufstand der Kunstgeschichte" - diese Metapher ist nicht so originell, wie sie scheint. Sie hat ihren Vorläufer im "Aufstand der Mediävisten", die sich dagegen wehrten, daß sie von den "Moderni" der Renaissanceforschung in eine Art Halbdunkel der Vorgeschichte gedrückt worden waren. Sie vermochten zu zeigen, daß es bereits im 12. Jahrhundert eine veritable Renaissance gab. Damit verlor die Epoche der Renaissance das Exklusivrecht, die Moderne begründet zu haben. (2) Eine ähnliche Umwertung kann heute die Kunstgeschichte reklamieren. In der Öffentlichkeit wird sie bisweilen als "mittelalterlich" dargestellt, aber sie kann von sich sagen, daß sie Mittel und Felder beherrscht, die zur Essenz der modernen Bildkultur gehören. Hierin liegt die rhetorische Brücke zum "Aufstand der Mediävisten".

KERSCHER: Sie haben weiter davon gesprochen, daß man nicht nur Werbung, Gebrauchsgraphik, Design, Fernsehen usw. zu einem Gegenstandsfeld der Kunstgeschichte erklärt, sondern auch gefragt, welche spezifische Rolle die Geschichte bei der Bearbeitung dieser Kunstformen gewinnt.

BREDEKAMP: Zu den Arbeitsgebieten ist zunächst zu sagen, daß diese nicht erst eingeführt zu werden brauchen. Ich kann nicht begreifen, wieso seit einiger Zeit methodologisch besonders anspruchsvolle Publikationen zumeist mit Floskeln beginnen wie: "Die Kunstgeschichte hat noch nie..."; "die Kunstgeschichte müßte erstmals ..."; in diesem oder jenem Fach "ist es längst die Regel....". Dies sind zumeist Demutsphrasen, die von der mangelnden Erinnerung zeugen, daß vieles, was von anderen Fächern in Bezug auf die gegenwärtige Bildkultur reklamiert und genutzt wird, ein Gebiet der Kunstgeschichte war. Die genannten Bereiche sind als Teile "angewandter" Kunstformen in der Erforschung des Mittelalters ein durchaus gewöhnlicher Untersuchungsgegenstand. Die Präsentierung von Heiligen auf Gebäck, unscheinbaren Holzschnitten, gestanzten Tonfiguren sowie Holz- und kostbaren Metallskulpturen z.B. hat die Grenze von High und Low nie akzeptiert.

Oftmals sind es neue Begriffe, die derartige Traditionen abschneiden. Als Teil von "Kunst und Gewerbe" ist Design ein gewöhnlicher Gegenstandsbereich der Kunstgeschichte, der nicht erfunden zu werden, sondern nur auf die Bedingungen unserer Zeit hin weitergeschrieben zu werden braucht.

HUBER: Die Frage bezog sich auch auf das Fernsehen, Werbung vor allem.

BREDEKAMP: Arbeiten wie Väths Untersuchung über den Zusammenhang zwischen der Odol-Reklame und dem Surrealismus haben die ästhetischen Innovationen, die in der Werbung geschehen können, eindrucksvoll dargelegt.3 Es ist ja keineswegs ausgemacht, daß derartiges nicht auch in der zeitgenössischen Werbung, und selbst im Fernsehen, geschieht; in seltenen, dann aber um so wichtigeren Fällen könnte sich erweisen, daß manche Formen der Werbung gegen die Verwertungsinteressen zu verteidigen sind, denen sie sich verdanken. Das Fernsehen an sich aber ist das eigentliche Stiefkind; die Ausstellung "Traum vom Sehen" in Oberhausen ist ein erster, spielerischer Versuch zu seiner visuellen Historisierung.4 Es wäre ein Sonderfall an Aufklärung gewesen, wenn ein Kunsthistoriker seine Dissertation über die ersten vier Tage des Golfkrieges in der Inszenierung von CNN vorgelegt hätte. Man hätte in exemplarischer Verdichtung etwas über visuelle Wirklichkeitskonstruktion erfahren können. Um nochmals auf die Mittelalterforschung zurückzukommen: Kemps Analyse der Glasfenster gotischer Kathedralen ist so gesehen eine frühe Deutung des "Fernsehens".5 Das Fernsehen als Konstruktion von Wirklichkeit, ohne in den Aberwitz der Simulationstheorie zu verfallen: dies bleibt ein Desiderat.

HUBER: Der Film wurde aus der Kunstgeschichte nahezu vollständig ausgeschlossen. Denn er wird ja weitestgehend in der Literaturwissenschaft bearbeitet. Es gibt nur wenige Kunsthistoriker, die den Film thematisieren. Wie könnte eine Kunstwissenschaft, die ihren Horizont so erweitert, daß sie eine Bildwissenschaft wird, aussehen?

BREDEKAMP: Sie haben richtig gesagt - ausgeschlossen. Der Film war Gegenstand, und er wurde dann ausgeblendet. Nach wie vor ist Panofskys kleine Arbeit zum Film ein Klassiker der Filmtheorie und Filmgeschichte.6 Der Briefwechsel mit Kracauer hat zudem gezeigt, daß Historiker wie Kunsthistoriker die Technik des Films als methodisches Instrument der historischen Forschung genutzt haben.7 Der Film war nicht nur Gegenstandsbereich der Kunstgeschichte; auch die visuelle Erfahrung, die durch den Film vermittelt wurde, konnte Instrument der historischen Analyse werden. Es muß kein Zufall sein, daß Wickhoffs Analyse der sequentiellen Bilder der Wiener Genesis und die Erfahrung der ersten laufenden Bilder zeitgleich liegen.8 Ob man sich mit einem Medium beschäftigt, ist also sowohl auf der Ebene des Gegenstandes selbst relevant; dann aber auch in Bezug auf den methodischen Impuls, den das Medium dem gesamten Bereich der Kunstgeschichte vermittelt. Hiervon profitieren beide Seiten. Eine ruhige Anwendung des klassischen Instrumentariums der Kunstgeschichte in Bezug auf den Film, also das Zerlegen der Sequenzen, das Beschreiben der Einstellungen und der Kompositionen und der Versuch einer inhaltlichen und historischen Deutung, ist nach wie vor erforderlich. Ich würde auf der Ebene des grundlegenden Zuganges keinen Bruch sehen zwischen der Analyse eines Poussin oder einer Godard-Sequenz. Die methodischen Mittel waren und sind präsent, man muß sie nur anwenden.

HUBER: Beschreibt man da nicht den Godard wie einen Poussin, also den Film wie ein Ölgemälde und umgekehrt die Wiener Genesis wie einen Film? Ist das nicht eine Verzerrung?

BREDEKAMP: Nein, eine wechselseitige Bespiegelung und Erhellung. Pierro le Fou will auch wie ein Gemälde analysiert werden; manche von Godards Bildern sitzen wie in einem Passepartout, und umgekehrt ist bei der Wiener Genesis oder auch dem Codex Huygens die Sequenz und das Metamorphische zu analysieren. Es gibt Filmtheoretiker, die vom Gegenteil ausgehen und sagen, daß man das Auge halb schliessen muß, um nach dem Benjaminschen Begriff der "Zerstreuung" ein pointilistisches Fluidum auf sich wirken lassen zu können. Ich glaube vielmehr, daß der Filmanalyse so lange etwas fehlt, als ihr nicht die analytischen Mittel der Kunstgeschichte nutzbar gemacht werden.

HUBER: Niemand von uns weiß bekanntlich, was ein Bild ist. Wenn wir gefragt werden, was ist ein Bild, dann ist es sehr schwer, darauf eine Antwort zu geben. Die Frage wäre, ob man für eine Kunstgeschichte als Bildwissenschaft eine allgemeine Theorie des Bildes, also einen Einheitsbegriff des Bildes benötigt, oder ob man mit Partikulartheorien arbeiten könnte oder sollte?

BREDEKAMP: In der Tat, man kann das Bild genausowenig wie Kunst definieren, zumindest nicht einheitlich, und dies vor allem nicht in einer Zeit, in der die Neurobiologie in Bezug auf die Konstruktion von Bildern vor einem immer größer werdenden Rätsel zu stehen scheint. Niemand wird genau sagen können, was ein Bild ist - es ist auch nie eineindeutig definiert worden.

HUBER: Haben Sie dennoch einen Begriff, was für Sie ein Bild ist?

BREDEKAMP: Den Hegelschen Begriff von Kunst - sinnliches, visuelles Scheinen von Idee würde ich im Sinne einer Kunst- als Bildwissenschaft für übertragbar halten.

HUBER: Das ist für Sie ein Bild?

BREDEKAMP: Ja, in Ermangelung einer besseren Definition. Ich verstehe "Idee" natürlich nicht hegelianisch als Teil des absoluten Weltgeistes, sondern, pragmatisch, als Sinnangebot der gestalteten Form. In diesem Sinn halte ich Hegels Diktum für eine tragfähige Definition auch für ein Bild. Eine visuelle Konstitution, die sich mit einem Sinn verbindet, und sei dieser sinnlos, ist für mich ein Bild.

HUBER: Also nicht der materielle Gegenstand?

BREDEKAMP: Natürlich liegt in dem materiellen Gegenstand ein Punkt der Verteidigung und des "Aufstandes" der Kunstgeschichte. Im Gegensatz zu anderen Fächern der Geisteswissenschaften besitzen Kunstgeschichte und Archäologie ein materielles Gegenüber, und keine noch so radikal-konstruktivistische Theorie wird nachweisen können, daß die geformte Tasse, die vor uns steht, nur unsere durch "trial and error" geborene Übereinkunft ist. Natürlich werden Bilder, andererseits, je nach sozialer Lage, nach ethnischer Zugehörigkeit, nach Stimmung und "Zeitgeist" gedeutet. In diesem Zwischenverhältnis von materieller Konstitution und variabler Deutung definiert sich, was unter einem Bild im Speziellen zu verstehen ist: ein sinnliches, materiell gebundenes Scheinen von etwas, das Bedeutung anbietet und das der Betrachter zu interpretieren vermag.

HUBER: Gut. Dann wären Sie also sozusagen ein ontologischer Dualist, der auf der einen Seite die materiellen Objekte hat und auf der anderen Seite aber zugesteht, daß die Interpretation von verschiedenen sozialen Situationen, kulturellen Prägungen und anderen Dispositiven abhängt. Aber dann stellt sich die Frage, ob es eine Interpretation gibt, die die richtige ist oder ob alle gleich gültig sind?

BREDEKAMP: Daß es keine abschließend wahre Interpretation gibt, die alle anderen ersetzt und die ein letztes Wort spricht, zeigt die Geschichte der Kunstgeschichte zur Genüge. Ein Grund liegt eben darin, daß die gesamte Geschichte - das ist der Sinn der Geschichtswissenschaft - permanent von der Gegenwart her umgeschrieben und umgewälzt wird. Wenn es diesen Mechanismus nicht gäbe, bräuchten wir auch keine Historiographie, weil irgendwann die Geschichte fest erklärt dastehen würde. Es kann daher keine endgültige Erschliessung eines noch so einfachen oder komplexen Kunstwerkes oder Bildes geben.

Dies heißt jedoch nicht, daß alle Deutungen nur beliebige Rückprojektionen und daher allesamt gleich gültig wären. Die Unsitte, abwegige Interpretationen im Sinne größtmöglicher Offenheit unkommentiert zu lassen, beleidigt zuallererst das Auge. Am Anfang, und auch diese Banalität ist leider nicht selbstverständlich, muß eine Beschreibung des materiellen und formalen Gehalts des Bildes stehen, um sicherzustellen, auf welcher Basis welche Erkenntnis und welche Assoziation dem Gegenstand nahe kommen oder von ihm wegdriften. Größtmögliche Offenheit also, aber dennoch kein anything goes.

HUBER: Wenn wir jetzt zu dem Thema der Netzkunst kommen - wie würde sich das übertragen lassen?

KERSCHER: Vereinfachend kann man davon ausgehen, daß die Künstler jede technische Errungenschaft sofort aufgreifen, für sich dienstbar machen und in diesem neuen Bereich versuchen, künstlerische Werke zu implantieren. So etwas ist natürlich auch mit dem WWW passiert, was die documenta-Chefin bewogen hat, diesen Vorgang zumindest versuchsweise darzustellen. Ist er damit bereits Kunstgeschichte geworden, im Sinne der Minimaldefinifition, die Sie vorher genannt haben?

BREDEKAMP: Natürlich. Sie haben es in ihrem Statement schon gesagt - Netzkunst ist ein avancierter Umgang mit einem neuen Medium, der mindestens so intensiv wie der Film visuell gesteuert wird und deswegen ein genuiner Sektor einer Kunstgeschichte ist, die sich als Bildwissenschaft versteht. Kunsthistoriker können sich auch diesem Gegenstandsbereich ohne Aufgeregtheit widmen, und ein Problem stellt sich nicht von der Kunstgeschichte, sondern von den Künstlern her. Meine Kritik an der Netzkunst, soweit ich sie wahrgenommen habe, liegt darin, daß sie an einer Selbstaufhebung des Materiellen arbeitet, an die sie selbst nicht glaubt. Die Vorstellung, daß im Internet Kunstwerke entstehen könnten, die immer weniger materiell gebunden sind,9 ist aus meiner Sicht einerseits illusionär. Aber diese große Illusion läßt sich mit der Diskussion um 1600 vergleichen, und darin ist sie wiederum nicht ohne Reiz. Es hat sich bislang niemand die Mühe gemacht, Lomazzos Kunsttheorien und die Simulations- und Materialitätsdiskussion der Gegenwart zu vergleichen. Man kommt - dies gilt wohl bereits für die Minimal Art - auf ähnlich komplexe Pole, zwischen denen sich diese Kunst in dem Versuch bewegt, zu einer Art Immaterialität zu kommen. Indem sich hier ein scharfer Platonismus ausdrückt, der seinen Gegenpol allerdings nicht aus den Augen verliert, ist auch die Netzkunst von einer produktiven Tragik bestimmt. Indem sich die Spannung unserer Zeit hier besonders deutlich manifestiert, empfinde ich diese Versuche trotz ihrer Kurzschlüssigkeit als hochinteressant.

HUBER: Ist das nicht eine Tragik jeder Kunst, daß sie Immaterialität anstrebt, aber sozusagen das materielle Objekt nicht verlieren kann? Ist es vielleicht so, daß die Netzkunst uns diese Spannung und Problematik schärfer und genauer erkennen läßt?

BREDEKAMP: Ich glaube ja nicht, daß Ihr Eingangssatz stimmt, daß es Künstlern vorwiegend um die Immaterialität geht und daß die Materie ein Vehikel zum Reich der Ideen wäre. Ich habe mehrfach, so auch in meiner Kritik der neoplatonischen Deutungsweisen, zu beschreiben versucht, daß es zum Beispiel auch einen epikureischen Zugang gibt, der durch die Materie hindurch geht und in der Form verbleibt.10 Sie haben darin aber völlig recht, daß das Phänomen, das Sie im Auge haben, durch den Computer stark gefördert wird, zumindest oberflächlich. Die scheinbar körperlosen Bilder der Bildschirme haben einen ubiquitären Platonismus bewirkt, gegenüber dem die Piercing-, Bungee- und Körperkultwellen einen Gegenpol zu bilden versuchen.

Dieser Widerspruch spitzt sich in der Behauptung des immatriellen Gehalts technisch produzierter Bilder zu. Es ist ein abstruser Gedanke, daß ein Bild auf einem Screen materiefrei wäre. Das haben Videokünstler gerade der ersten Generation darin zugespitzt, daß sie den Fernseher als Skulptur genutzt haben. Die beweglichen oder auch nicht beweglichen Bilder der Screens sind mit einer Logistik behaftet, welche die Florentiner Pietà von Michelangelo um ein Vielfaches an materieller Gravitation übersteigt.

HUBER: Die Grundfrage aber führt dann wieder zurück auf die alte Thematik der Materialität.

BREDEKAMP: ... und der zwischen differenten Polen gewonnenen Selbsterkenntnis. Das meinte ich mit der Eingangsbemerkung, daß wir uns auch diesem Gegenstandsbereich gelassen zuwenden sollten, weil die Fragen, die in der Netzkunst erörtert werden, alt sind. Wer sich diesem Bereich unaufgeregt widmet, ist weniger in der Gefahr, entweder zum Propagandisten zu werden oder in einer genauso verspannten Abwehr zu verharren. Auch dies wäre Teil eines "Aufstandes der Kunstgeschichte", sich den neuen Medien aus historischer Perspektive, jenseits der Pole der Verdammung und der Preisung, zuzuwenden.

KERSCHER: Wenn wir davon ausgehen, daß innerhalb der Netzkunst im Moment zwei Probleme besonders thematisiert werden: zum einen die gesamte Struktur der Kommunikation und dann natürlich auch deren Kritik, um über diesen Weg eine Frage, welche die Künstler schon immer interessiert hat, neu zu formulieren, die Kritik an dem Bestehendem, die Kritik an der Gesellschaft, dann könnte die Kunstgeschichte bei ihrer Traditionsgebundenheit sagen - und das tut sie auch zum großen Teil -, daß dies nicht unsere Gegenstandsbereiche seien. Denn es gibt die Kommunikationstheorie und andere gesellschaftstheoretische Fächer - was soll da noch eine konservative Kunstgeschichte? Die immer stärkere Differenzierung läßt die Kunstgeschichte an Terrain verlieren. Zur Zeit sind es neben der Germanistik (bzw. auf neue Medien konzentrierte Abspaltungen) auch Historiker und andere. Konservative Fachvertreter scheinen dazu zu neigen, auch das Terrain der Bildwissenschaften diesen Fächern zu überlassen. So könnte natürlich eine Berufungskommision sagen, das sei überhaupt kein Thema für die Kunstgeschichte und eine Berufung an eine eng an das Fach und seine Tradition gebundene Spezialisierung binden.

BREDEKAMP: Ihr wäre zu antworten, daß sie jene Fähigkeiten, welche die Kunstgeschichte über einen Zeitraum von fast 450 Jahren entwickelt hat, für die Zukunft preisgeben. Das Delegieren an andere Fächer funktioniert nicht, weil diese nicht im selben Maß daran interessiert sind, in und durch bildnerische Formen zu denken. Um ein Beispiel zu nennen: Literaturwissenschaftler, die in den letzten dreißig Jahren Filmanalysen unternommen haben, verdienen durchaus Bewunderung, auch weil sie früher als andere begriffen haben, daß sich die Kommunikationswege und Standards zum Visuellen hinbewegen. In der Analyse dieser medialen Prozesse ist wahrhaft Beachtliches geleistet worden. Dasselbe gilt für die Visual Studies, die der durchgängigen Ästhetisierung auch des Alltagslebens nachgespürt haben. Aber ihr anthropologischer Rahmen spannt eine historisch eher plane Fläche ein, und ihr Sinn für die Bedeutuung der Einzelform ist unentwickelt.

Hierin liegt der Beitrag, den die Kunstgeschichte von sich aus einbringen könnte und müßte. Der Eindruck, daß die konkrete Analyse der Form verloren zu gehen droht, hat zu scharfen und überraschenden Gegenreaktionen geführt. Carlo Ginzburg plädiert für die Rückkehr der Kennerschaft11, und seit einiger Zeit blasen Opinionleader wie die Zeitschrift "October" entschieden zum Rückzug. Rosalind Krauss kämpft geradezu für die Verteidigung des kunsthistorischen Handwerkes und der radikalen Konfrontation mit der Materialität und der konkreten Form des Kunstwerkes. So gesehen, gewinnt selbst die traditionellste Methode der Kunstgeschichte kritische Züge, weil sie sich der Nivellierung widersetzt, die von den Visual Studies als Vorhut eines alle Unterschiede und Tiefen überspielenden globalen Kapitalismus vorangetrieben wird.12

Zu bedenken ist auch, daß die beständige Analyse der technisch produzierten Bilder in einer Zeit, in der die symbolische Kommunikation weitgehend über Bilder stattfindet, Reste von Ideologiekritik zu bewahren vermag. Auf den angestammten Feldern scheint sie dagegen stumpf geworden zu sein. Wenn das Fach be- und angreifen will, wovon unsere technische Zivilisation geprägt wird, muß es sich dem Phänomen der sogenannten Bilderflut stellen.

KERSCHER: Man könnte (separate) Professuren für neue Medien einführen oder den Bereich der mittleren und neueren Kunstgeschichte um das Feld der neuen Medien erweitern?

BREDEKAMP: Auf dem Münchener Kunsthistorikertag, als es darum ging, Mediävistik als eigenen Bereich auszusondern, war ich nicht der einzige, der entschieden gegen die Trennung gesprochen hat. Aber dieser Schuh paßt nur, wenn er auch in die Gegenwart umgedreht wird. Die Kunstgeschichte stellt eine bewegliche Einheit dar, die ständig aktualisiert werden sollte. Eine zum Beispiel der Filmgeschichte gewidmete Professur sollte es so problemlos wie etwa die Mediävistik unter dem Dach der Kunstgeschichte geben. Dasselbe gilt für die neuen Medien, und in Bezug auf sie um so stärker, als die Kunstgeschichte immer schon, nur der Name fehlte, auch als Medienwissenschaft begriffen worden ist. Hier wäre die Aussonderung einer historischen Medienwissenschaft aus der Kunstgeschichte geradezu absurd.

Ich muß dazu allerdings auch sagen, daß es offenbar Versuche gibt, ein neues Fach zu etablieren. Am Rande der "Word and Image"-Tagung in Dublin im August letzten Jahres hat Barbara Stafford darüber gesprochen, die Kunstgeschichte mit neuem Namen zu versehen, um deren Fähigkeiten unter den Bedingungen der Mediengesellschaft zu retten. Sie sagte sinngemäß, daß nach vielen negativen Erfahrungen in- und außerhalb der Kunstgeschichte ein neues Fach definiert werden sollte, um den Problemen, die uns bevorstehen, begegnen zu können. Ich habe dem, gerade auch in der grundsätzlichen Hochschätzung ihrer Versuche, vehement widersprochen. Ich bin davon überzeugt, daß die Kunstgeschichte jene historische Schwerkraft besitzt, die ein solches neues Feld legitimieren und begründen könnte.

HUBER: Das Problem bei dieser Umbenennung ist natürlich das Wort "Kunst". Wenn man von Kunst und Bildern spricht, dann wird klar, daß die Kunst unter den Bildern nur ein ganz verschwindend geringer Teil der Bilder ist, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind. Wenn man kein neues Fach gründen will, dann muß man den ersten Teil des Hauptwortes Kunstwissenschaft durch Bild ersetzen. Dann müßten wir das Fach nicht Kunstwissenschaft, sondern konsequenterweise Bildwissenschaft nennen.

BREDEKAMP: Schon die Einführung des Begriffes "Kunstwissenschaft" war aus meiner Sicht ein problematischer Versuch, die historische Tiefenkontrolle des Faches auf eine flachere, eher terminologisch orientierte Ebene zu bringen. Derselbe Vorgang vollzieht sich nun erneut. Es ist ein eigenartiges Phänomen, daß Personen, die in der Kunstgeschichte in Photographiegeschichte promoviert wurden oder die ihr Examen mit einem medien- oder computergeschichtlichen Thema absolviert haben, ihre Berufsbezeichnung plötzlich nach anderen Fächern wählen: ein klarer Fall von Opportunismus.

HUBER: Also zurück zu den Wurzeln?

BREDEKAMP: Wir leben in einer Welt des Ersatzes von Politik durch Rhetorik, und vor diesem Hintergrund halte ich Umbenennungen dieser Art für einen Teilaspekt der herrschenden Lähmung. Man sollte nicht den Begriff ändern, sondern dem Eindruck widersprechen, daß Kunstgeschichte der Produktion von coffee-table-books dient. In der Wiener und der Hamburger Schule vor 1933, um nur zwei herausragende Beispiele zu nennen, gab es einen offenen Begriff von Kunst, der mit heutigen Versuchen einer Neubestimmung konvergiert.13 Wenn Riegl sich mit der "Spätrömischen Kunstindustrie" beschäftigt und wenn Warburg Briefmarken, Flugblattpropaganda und Botticelli-Gemälde analysiert, dann ist das die Offenheit eines Bildbegriffes, der sich fortschreibt bis zu Panofskys Arbeit über den Kühlergrill des Rolls-Royce. Das Zutrauen, sich vom Autodesign bis zur Briefmarke und bis zu Poussin mit denselben, fachspezifisch geschärften Methoden zu beschäftigen, braucht nicht neu fundiert, sondern nur erinnert zu werden. Wir brauchen nicht umzudefinieren, sondern sollten nach mehreren Generationen endlich wissenschaftsgeschichtlich aufholen, was bis 1933 zumindest im deutschsprachigen Raum der Kunstgeschichte entwickelt war. Dies wäre die Hoffnung.

KERSCHER: Wie müßte man die Lehre an der Universität verändern, damit der Nachwuchs diesen Verlust nachholen kann?

BREDEKAMP: Es braucht keine große institutionellen Veränderungen außer dem Willen, es zu tun. Einige Studienpläne nennen als Gegenstandsbereich der Kunstgeschichte die Zeit Kaiser Konstantins bis zu den modernen Medien. So ist es kein Problem und auch keine Sensation, wenn man ein Seminar zur Filmgeschichte oder zur Geschichte der computergenerierten Bilder und im selben Zusammenhang ein Seminar über Paradiesgärten im Mittelalter anbietet. Das Angebot in Kunstgeschichte in Deutschland ist gewaltig, und, wie gesagt, man sollte die Realisierung eines einstmals gültigen Anspruchsniveaus nicht verordnen, sondern umsetzen.

HUBER: Ich glaube, wir haben 55 deutsche kunsthistorische Institute.

BREDEKAMP: Kein Land auf der Welt, nicht einmal die USA, bildet mehr Kunsthistoriker aus als die Bundesrepublik. Nicht die Zahl der Institute ist ein Problem, sondern der Umstand, daß die Studentenzahl in die Nähe der Größe eines Massenfaches anwuchs, ohne daß die Berufsfelder erweitert und angepaßt wurden. Die jetzige Zahl von Studenten ist in Bezug auf die gelehrten Gebiete ein purer Irrsinn. Der Wille, dazu beizutragen, daß die Kunstgeschichte als Teil des Begreifens der Geschichte ein Fach auch der Gegenwart bleibt, ist nur sporadisch zu verspüren.

KERSCHER: Darauf haben Sie ja schon im art-Interview Bezug genommen. Sie sagen, es sei ganz selbstverständlich, daß Seminare zu neuen Medien neben solchen zu mittelalterlicher Kunst angeboten werden. In der Realität sieht es aber anders aus. Es gibt nur wenige Universitäten, die regelmäßig Themen der neuen Medien anbieten. Worauf führen Sie das zurück? Konservatismus? Angst vor diesen Bildern? Angst vor den Fächern, die sich damit befassen?

BREDEKAMP: Dem verbreiteten Konservatismus, den Sie ansprechen, kann man nicht begegnen, wenn man ihm nicht zunächst zu folgen versucht, denn vieles spricht für ihn. Natürlich ist die flackernde Bildwelt, die uns umgibt, zuerst und vor allem ein starker Verschleiß. Und es ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, daß die Wahrnehmung der Postmoderne als Auflösung allen Sinns dazu geführt hat, daß mit der Postmoderne auch all das, was danach kam oder sich in dieser Zeit durchsetzte, abgelehnt wurde: das Internet, neue Medien, Video, Netzkunst: all dies als Agenten des Zerstörens von Sinn. Diese Art Resistenz ist schon aus dem Grund nicht beiseite zu schieben, als viele Protagonisten der Postmoderne heute so tun, als hätte es diesen Abschnitt - und sie selbst - nie gegeben. Gegenüber beiden Positionen, der einen, die glaubt, sagen zu können: "ich warte bis der Sturm vorbei ist, und dann ist die Welt wieder so, wie ich sie mir wünsche", wie auch der zweiten, die ebenso heftig propagiert, wie sie danach vergißt, ist jedoch entgegenzuhalten, daß ein produktiver und kritischer Weg meines Erachtens nur hindurch führt. Eine pure Negation ist in der Konkurrenz zur Semiotik, zu den Visual Studies und zu den Spielarten der unhistorisch orientierten Medien- und Kommunikationswissenschaften halsbrecherisch.

HUBER: Vielleicht zwingt uns gerade diese Konkurrenz zu den anderen Fächern, die Karten auf den Tisch zu legen und auch wirklich so wie Sie zu argumentieren: wir arbeiten in einer 450 jährigen Tradition, und das Gewicht dieser Tradition bringen wir ein.

BREDEKAMP: Wer traut sich dies? Warum geht dieses Fach durch die Welt, als hätte es Asche auf dem Haupt? Es organisiert große Bereiche der Erwachsenenbildung, neben dem Sport den größten. Es gestaltet das Erscheinungsbild unserer Städte maßgeblich. Es hat in die intellektuelle Geschichte unseres Jahrhunderts mit der Ikonologie einen der fundamentalsten Impulse der Geisteswissenschaften überhaupt eingeschrieben. Und dennoch läuft es teils herum wie ein atavistisches Überbleibsel. Dies ist für mich der unbegreiflichste Aspekt der Psyche dieses Faches.

HUBER: Diagnose?

BREDEKAMP: Der Aderlaß von 1933. Langzeitwirkung immer noch und immer wieder. Ausscheiden aus der intellektuellen Avantgarde nach 1945; das Darmstädter Gespräch von 1952, auf dem Adorno und Sedlmayr sich leider nicht gerade duelliert haben, sondern fast einer Meinung waren, und auf dem, wiederum leider, Sedlmayr brillierte, war vermutlich eines der letzten Ereignisse, bei denen von der Kunstgeschichte erwartet wurde, etwas für die intellektuelle Verfasstheit der Gegenwart insgesamt Wesentliches beitragen zu können.

Ich sehe gerade mit einiger Überraschung, daß das soeben erschienene Heft der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie" einer Diskussion über Dantos "Ende der Kunst" gewidmet ist.14 Danto wird hier als Philosoph wahrgenommen, und daß er ohne die Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte kaum zu denken wäre (er selbst hat immer wieder auf Belting verwiesen), wird kaum erwähnt. Diese wechselseitige Abstinenz hilft niemandem, nicht der Kunstgeschichte selbst, auch nicht der Philosophie, nicht der Semiotik und nicht den Kommunikationswissenschaften. Nochmals zu Ihrer Frage, und darin kann man die Antwort auch umdrehen: wenn man bedenkt, daß heute überall Räder neu erfunden werden, über welche die Kunstgeschichte verfügte, dann ist die Situation schon von einiger Absurdität.

HUBER: Vielleicht noch eine etwas abwegige Schlußfrage: Glauben Sie an übersinnliche Phänomene, sagen wir Ufos oder Außerirdische?

BREDEKAMP: Unabwegige Antwort: die vier Alien-Filme waren jeweils glänzende Antworten auf die kunsttechnologischen Möglichkeiten ihrer Zeit. Übrigens beginnt das Manifest einer der Netzkunst-Gruppen übersinnlich mit einer Paraphrase von Benjamins "Angelus Novus".15

HUBER: Herr Bredekamp, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

Anmerkungen:

1) Boris Hohmeyer / Alfred Welti: "Um zu bestehen, braucht die Kunstgeschichte einen Rahmenwechsel". Interview mit Horst Bredekamp, in: art. Das Kunstmagazin, Nr.9, September 1997, S.60-61 und 103. Anlaß war der auf dem Kunsthistorikertag in München, März 1997, gehaltene Vortrag (Horst Bredekamp, Metaphern des Endes im Zeitalter des Bildes, in: Heinrich Klotz, Kunst der Gegenwart. Museum für Neue Kunst. ZKM / Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, München und New York 1997, S.32-37).

2) Auslöser war: Charles Homer Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge/M. und London 1955 [1927]

3) Henriette Väth-Hinz, Reklame-Kunst um 1900, Gießen 1985

4) Lutz Engelke (Hg.): Der Traum vom Sehen, Ausstellungskatalog, Recklinghausen 1997

5) Wolfgang Kemp, Sermo Corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987

6) Erwin Panofsky, On Movies, in: Princeton University. Department of Art and Archaeology. Bulletin, 1936, S.5-15; danach mehrfach in überarbeiteter Fassung; Übers. zuletzt in: ders., Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film, Frankfurt am Main 1993, S.17-51

7) Siegfried Kracauer - Erwin Panofsky. Briefwechsel 1941-1966 (Hg.: Volker Breidecker), Berlin 1996

8) Zu Franz Wickhoff: Carl Clausberg, Die Wiener Genesis. Eine kunstwissenschaftliche Bilderbuchgeschichte, Frankfurt am Main 1984, S.29ff

9) "The pleasure is in the dematerialisation" (Bitch Mutant Manifesto, in: http://www.factory.org/nettime/archive-1996/0245.html

10) Horst Bredekamp, Götterdämmerung des Neuplatonismus, in: Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie (Hg.: Andreas Beyer), Berlin 1992, S.75-83

11) Carlo Ginzburg, Vetoes and Compatibilities, in: Art Bulletin, LXXVII, 1995, Nr.4, S.534-536

12) October, Bd.77, 1996, S.25, These 3

13) James Elkins. Art History And Images That Are Not Art, in: Art Bulletin, Bd.LXXVII, 1995, Nr.4, S.553-571

14) Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1997, Nr.5

15) "The atomic wind catches your wings and you are propelled backwards into the future, an entity time travelling through the late C20th, a space case, an alien angel maybe, looking down the deep throat of a million catastrophes" (s. Anm. 9).