Hans Dieter Huber
Die Rede vom Ende und der Begriff der Geschichte

First Installation: 03.10.99 Last Update: 12.04.04

Vortrag im Rahmen des Symposiums Computer als Medium: "Hyperkult 10002. Endzeit/Endspiel". Universität Lüneburg, 19. - 21. Juli 1999

 

Wenn man heute in einem modischen Jargon der Eigentlichkeit an allen Ecken und Enden vom Ende spricht, wird meist vergessen, auf welchen komplexen Vorannahmen und Voraussetzungen eine solche Rede beruht. Diese Prämissen laufen in den zahlreichen Diskursen über das Ende meistens als ein unausgesprochener, blinder Fleck mit durch. Bereits vor über 10 Jahren hat Jacques Derrida in seinem Buch über die Apokalypse diese Rede vom Ende kritisch hinterfragt:

Jedesmal fragen wir uns ... unnachgiebig, worauf wollen jene hinaus, und zu welchem Zweck, die das Ende von diesem oder jenem, des Menschen oder des Subjekts, des Bewußtseins, der Geschichte, des Abendlandes oder der Literatur und, als letzte Neuigkeit, des Fortschritts selbst verkünden, der noch nie bei Rechten oder Linken so schlecht dastand. Welche Effekte wollen jene Propheten oder jene wortgewandten Visionäre produzieren? Welchen unmittelbaren oder aufgeschobenen Vorteil stellen sie in Aussicht? Was machen sie und was machen wir, indem wir so darüber reden? Um wen zu verführen oder zu unterwerfen, einzuschüchtern oder zu erfreuen? Diese Effekte und Vorteile können auf eine individuelle oder kollektive, eine bewußte oder eine unbewußte Spekulation bezogen werden. Sie können in Begriffen libidinöser oder politischer Herrschaft analysiert werden ... ."(1)

Der heutige Vortrag soll einen ersten Entwurf skizzieren, der ein sicherlich noch detaillierter auszumalendes Gemälde umreisst. Der Rahmen für dieses Bild ist bereits bekannt. Es ist ein unausgesprochener Rahmen, ein ideologisch-politisch-religiöser Rahmen, der es verdient, einmal genauer untersucht zu werden. Denn durch eine solche Rahmenanlyse könnte vielleicht ein möglicher Beitrag zu der Frage geleistet werden, wieso die modische Rede vom Ende auf einem ganz bestimmten Begriff von Geschichte und einem ganz bestimmten Begriff von Zeit als ihren beiden wichtigsten ideologischen "Fundamenten" aufruht.

 

I

Zunächst möchte ich jedoch wie Jackson Pollock mit möglichst flüssiger Farbe ein undurchdringliches All-Over entwickeln, aus dem sich einzelne Gestalten zunehmend als projektive Verdichtung des Blickes herauskristallisieren und sich bei näherer Betrachtung ebenso wieder verflüchtigen. Ich werde Ihnen einige Beispiele geben, in welchen Kombinationen und Kontexten der Begriff des Endes gegenwärtig auftritt. Das Verzeichnis lieferbarer Bücher Deutschlands registriert unter dem Titelstichwort "Ende" 166 verschiedene Einträge. Die amerikanischen Verzeichnisse geben 425 Titel, die französischsprachigen 881, die italienischen 104 und die spanischen 184 Einträge zum jeweiligen Begriff wieder. Dies könnte ein Indikator dafür sein, daß vielleicht gerade im französischen Sprachraum die Rede vom Ende eine ganz besondere Hochkonjunktur zu besitzen scheint.

In den deutschsprachigen Verzeichnissen ist unter anderem die Rede vom Ende alteuropas, der abstraktionen, der antiken welt, der arbeit und ihrer zukunft, der arbeiterbewegung, der arbeitsteilung (2 Titel), der artenvielfalt, der aufrichtigkeit, der Avantgarde, der bescheidenheit, der biologischen vielfalt, der bonner republik, der buergerlichen vernunft, der ddr, der demokratie, der dritten welt, der dynamik, der entmuendigung und vormundschaft (2 Titel), der ersten deutschen flotte, der erziehung (5 Titel), der euphorie, der geschichte (3 Titel), der geschichte der stadt und der gestaltbarkeit, der grossen entwuerfe, der illusion, der kunst und der paradigmenwechsel in der aesthetik, der kunstgeschichte, der liberalen hermeneutik am beispiel albert schweitzers, der luegen, der massenkultur, der massenproduktion, der mobilitaet, der nacht, der naturgeschichte, der neuzeit, der oesterreichischen herrschaft in der bukowina, der parteien neunzehnhundertdreiunddreissig, der pflaumenbaeume, der planwirtschaft in der ddr, der politik, der politischen utopie, der predigt, der religion, der reparationen, des sanftmutes, der schule, der sed, der selbstverstaendlichkeit, der sowjetunion (3 Titel), der sozialdemokratie, der sozialen schichtung, der starren zeit, der teilung, der totalen freiheit im internet, der tschechoslowakei, der utopie, der wahrheit, der weissen vorherrschaft im suedlichen afrika, der weltreiche, der zeit, der zivilisierten stadt, des alten reiches, des blauen planeten, des deutschen gymnasiums, des dreissigjaehrigen krieges, des dritten reiches, des zweiten weltkriegs, des exportchristentums, des facharbeiteraufstiegs, des groessenwahns, des individualismus, des kalten kriegs im orient, des labyrinths, des nationalismus, des naturwissenschaftlichen zeitalters, des pantamannes, des reiches und der entstehung der republik oesterreich, des romans, des schreckens, des sowjetkolonialismus, des sozialismus, des stegreifspiels, des vorwaerts, des westlichen industriemodells, des zarengeschlechts, einer buergerlichen kunst-institution, einer feigheit (2 Titel), einer selbstzerstörung (2 Titel), eines experiments, eines familienromans, eines getreuen lehrers, eines jahrhundertmythos, eines traumberufs, eines traums, jugoslawiens (2 Titel), mit schrecken (3 Titel), der wende (3 Titel)

Dieses All-Over des Endes zeigt dem Beobachter zweierlei. Erstens: daß so gut wie nichts davor gefeit ist, mit dem sprachlichen Etikett des Endes versehen zu werden, bzw. genauer gesagt, vor einer Buchpublikation, welche die Rede vom Ende in ihren Titel aufnimmt. Zweitens unterscheidet der deutsche Sprachgebrauch beispielsweise zwischen dem Ende "des" Abenteuers und dem Ende "eines" Abenteuers. Logisch gesehen haben wir einerseits die Form vorliegen '(x) x ist zuendegegangen' und andererseits die logische Form '('x) x ist zuendegegangen'. Der Unterschied zwischen dem bestimmten und dem unbestimmten Artikel indiziert also die logische Differenz zwischen einem universell und einem existentiell quantifizierenden Sprachgebrauch.

Im ersten Fall wird der Terminus "Das Ende des x" als Ende eines allumfassenden, universellen Ereignisses oder Gegenstandsbereiches verstanden. Das Ende 'der' Arbeit heißt, jegliche Form von Arbeit ist zuende gegangen. Hier funktioniert "die Arbeit" als singulärer Terminus mit einer universellen Denotation.(2) Im anderen Fall wird der Terminus "Das Ende eines x" als Ende von mindestens einem von vielen möglichen Fällen, die diesem Begriff subsumiert werden kann, verstanden. Das Ende 'einer' Arbeit heißt, es existiert mindestens eine Form von Arbeit, die irgendwie zuende gegangen ist. Hier funktioniert der Terminus "Arbeit" als allgemeiner Terminus mit einer existentiell quantifizierenden Denotation.(3) Das Ende "der" Arbeit formuliert also logisch gesehen eine ganz andere Aussage als das Ende "einer" Arbeit. Es ist der Unterschied zwischen Allquantifikation und Existenzquantifikation (4), der in der logischen Struktur der Buchtitel sichtbar wird.

 

II

Wenn man nun nach dem jeweiligen Geschichtsverständnis fragt, das diesen verschiedenen Begriffen in der Rede vom Ende zugrundeliegt, kann man im Großen und Ganzen vier verschiedene Geschichtskonzeptionen erkennen, welche die Rede über das Ende mehr oder weniger implizit bestimmen.

1.) Eine linear-kausale Geschichtsauffassung, in der ein Ereignis zeitlich nach einem anderen auftritt und anhand seines Datums identifiziert werden kann. Hier setzt der Begriff des Endes den Begriff des Anfangs oder des Ursprungs als seinen logischen Gegenbegriff voraus.(5) Denn ein Ende ist ohne einen Anfang nicht zu denken und kein Anfang ist ohne ein vorheriges Ende zu begreifen.(6) Dieser lineare Geschichtsbegriff ist auf der einen Seite wiederum mit einer bestimmten linearen Vorstellung von Zeit verknüpft, die vor allem in unserer westlich-christlichen Zivilisation weit verbreitet ist, sowie auf der anderen Seite mit einer bestimmten Auffassung von Erzählung und Geschichtsschreibung als dem logisch-kausalen Fortschreiten einer Meistererzählung.(7)

2.) Eine linear-progressive Geschichtsauffassung. Sie ist eine Variante bzw. Abart des ersten Geschichtsbegriffes und geht von der impliziten oder expliziten Annahme aus, daß sich im Laufe der Geschichte unser Wissen über die Welt immer mehr verbessert. Unser Wissen und unsere Kenntnisse über die Welt nähern sich im evolutionären Fortschritt immer mehr einer Asymptote oder einem Grenzwert an, an dem wir schließlich alles über die Welt wissen, so wie sie tatsächlich ist. Ist dieser Zustand des vollkommenen Wissens erreicht, endet die Geschichte und wir betreten eine posthistorische Phase.

Der Begriff des post-histoire stammt nach Aussage von Hendrick de Man von dem französischen Mathematiker, Nationalökonom und Philosophen Antoine Augustin Cournot (1801-1877), der neben zahlreichen mathematischen und wirtschaftstheoretischen Schriften auch einige Bücher zur Beziehung zwischen Geschichte und Wissenschaft verfaßt hat.(8) Nach de Man wollte Cournot mit dem Begriff des post-histoire die Situation beschreiben, die entsteht, wenn eine menschliche Erfindung oder Einrichtung so weit vervollkommnet ist, daß jegliche weitere Wandlung und Veränderung ausgeschlossen erscheint. Wenn man die Theorie Cournots auf die heutige Lage anwendet, so de Man, könnte man die Schlußfolgerung begründen, daß unsere Kultur ihren "archetypischen" Sinn erfüllt habe und in eine Phase der Sinnlosigkeit eingetreten wäre. Die Alternative wäre dann entweder Tod oder Mutation.(9) Das Posthistoire wäre also kein geschichtsloses Dasein im Sinne Oswald Spenglers oder die Lethargie einer Kultur, die ihre Lebenskraft verloren hätte, sondern eine Phase des Weltgeschehens, die gänzlich aus dem Rahmen der Geschichte herausfällt, weil die überlicherweise historisch feststellbaren Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung in einer linear-progressiven Geschichtsschreibung fehlen.

Dieser Gedanke einer posthistorischen Phase wurde von den Exegeten des Endes wie Alexandre Kojéve, Arthur C. Danto oder Francis Fukuyama immer wieder mit Hegels Ästhetik in Verbindung gebracht. Dort heisst es:

In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als daß sie in der Wirklichkeit ihre frühere Notwendigkeit behauptete und ihren höchsten Platz einnähme.(10)

Dieser linear-progressive Geschichtsbegriff ist es vor allem, der auf die Rede vom Ende Anwendung findet. Wenn etwas vollendet ist, ist es auch zu Ende. Schon an diesem einfachen Satz sieht man, wie sehr der Begriff, die Vorstellung oder das Urteil über etwas als ein zu Ende Gegangenes die Diskussion, das Urteil und das Handen bestimmen können. Ist das Gesellschaftssystem der DDR 1989 nun tatsächlich zu Ende gegangen oder nicht? Eine Antwort auf die Frage hängt in erster Linie von der Unterscheidung ab, mit der gearbeitet wird. Dazu schreibt Niklas Luhmann:

Da es sich um eine Unterscheidung handelt, gibt es keinen Anfang ohne Ende und kein Ende ohne Anfang (so wie es auch nichts Großes ohne Kleines, nichts Heißes ohne Kaltes gibt). ...Nur kann man die Frage nach dem Ende nicht mehr eliminieren, wenn man meint, einen Anfang feststellen zu können; und das gleiche gilt, in Umkehrung, für das Ende. Wer von Anfang spricht und bestreitet, daß das Angefangene ein Ende haben könnte, ist in eine falsche Terminologie geraten. ... Will man sich auf eine solche Ende-Bestimmung nicht einlassen, sollte man auch die Bestimmung eines Anfangs vermeiden.(11)

 

3.) Der dritte Geschichtsbegriff ist ein zyklischer Geschichtsbegriff. Danach gibt es zwar durchaus Anfang und Ende, aber nach dem Ende kommt immer wieder ein neuer Anfang und nach dem Neuanfang immer eine neue Mitte und ein neues Ende. Dieser zyklische Geschichtsbegriff, der durchaus mit linearen Modellvarianten kombiniert werden kann, findet seinen alltäglichen Ausdruck in Aussagen wie "Es bleibt sowieso alles beim Alten" oder in dem Satz "Je mehr sich etwas verändert, desto mehr bleibt es das Gleiche". In diesen Bereich zyklischer Geschichtsauffassungen gehören auch meiner meinung nach die Theorie dissipativer Strukturen, sowie die verschiedenen Autopoieis- und Selbstorganisationstheorien, die sich in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren entwickelt haben; von Humberto Maturana und Francisco Varela über Gebhard Rusch bis hin zu Niklas Luhmann. Hier wird sozialer oder geschichtlicher Wandel in erster Linie als eine Form von Evolution verstanden, nach der historische Entwicklungen dem Muster von erhöhter Variationsbreite, positiver Selektion einiger als vielversprechend erkannter Varianten und der nachfolgenden Restabilisierung des Systems folgen.

4.) Einen vierten Geschichtsbegriff könnte man vielleicht als eine wellenförmige Auffassung von Geschichte charakterisieren, als ein Auf-und-Ab-Oszillieren bestimmter Werte auf einer horizontalen Nullachse. Weit verbreitet ist dieses Geschichtsmodell z.B. im Bereich der Kunstwissenschaft, wenn etwa Frühwerk, Hauptwerk und Spätwerk eines Künsters voneinander unterschieden wird, aber mit der deutlichen Betonung, daß das Hauptwerk natürlich wertvoller und besser als die Werke seiner Jugend und des Alters sind. Man hat es also hier mit verschiedenen, positiven oder negativen Attributen einer Variablen zu tun, die nach oben und nach unten um die x-Achse oder die "Stunde Null" oszillieren können. Zum Beispiel gehört hierher auch die Vorstellung, daß sich ein neuer, innovativer Stil aus einer veralteten, zu Ende gehenden Tradition entwickelt, sich dann allmählich ausbreitet, zum offiziellen Stil einer Epoche wird, seinen Höhepunkt erreicht und dann in eine Verfallszeit übergeht, in der die einzelnen Stilelemente immer weiter ausdifferenziert werden und in ihrer homogenen Qualität verfallen, bis er wieder von einem neuen, innovativen Stil überholt wird, der wiederum die gleiche Wellenbewegung von Aufschwung, Höhepunkt, Glanzperiode und Verfallszeit durchläuft. Man kann dieses Modell noch dahingehend differenzieren, daß sich diese Wellenbewegung beschleunigen oder auch verlangsamen kann. Sie muß nicht mit der gleichen Amplitude und der gleichen Schwingungsfrequenz verlaufen.

Aus diesen kurzen und schematischen Skizzierungen wird deutlich, daß eigentlich nur der linear-progressive Geschichtsbegriff im Sinne Hegels oder Cournots die Rede vom Ende ermöglicht und sie gleichzeitig bestimmt. Verwendet man hingegen andere Modelle des historischen Wandels, gibt es in striktem Sinne kein Ende und auch keinen Anfang mehr. Denn der Begriff des Endes impliziert zwangsläufig den Begriff des Anfangs oder des Ursprungs. Der zyklische, oszillierende oder evolutionäre Modell von Geschichte kennen keinen ursprünglichen Anfang und daher auch kein letztes Ende. Erst durch die Verwendung eines linearen Geschichtsbegriffes in seiner sich allmählich vervollkommnenden Variante, die wiederum auf einer Vorstellung der kausalen Irreversibilität der Zeit aufruht, wird das Denken vom Ende in den Köpfen der Menschen erst möglich. Die Rede vom Ende ruht also auf einer Vorstellung von Geschichte als einer sich allmählich vervollkommnenden Periode des Wissens, die irgendwann einmal an ihr Ende stößt. Voraussetzung dafür ist wiederum die Akzeptanz einer Ideologie der linearen, irreversiblen und kausalen Zeitauffassung.

 

III

Um die Abhängigkeit dieser Geschichtsmodelle, besonders des linearen, von unserer westlichen Zeitauffassung einer linear und eindimensional gleichmäßig von der Vergangenheit in die Zukunft ablaufenden Zeitrichtung deutlich zu machen, möchte ich mich nun einer Art Brechtschen Verfremdungseffektes bedienen. Dieser Kunstgriff soll eine Distanzierung oder Bewußtwerdung des Lesers oder Zuhörers herbeiführen. Das ideologische Fundament, das in der Rede vom Ende meist selbstverständlich, unbewußt und als blinder Fleck des Diskurses durchläuft, soll in diesem Verfahren deutlicher herausgearbeitet werden.(12)

Wenn am 31. Dezember dieses Jahres kurz vor Mitternacht die ersten Sektkorken knallen und Feuerwerkskörper in noch nie dagewesener Zahl abgebrannt werden, wird dies Chinesen, Araber, Iraner und Juden ziemlich gleichgültig lassen. Denn die Chinesen feiern Neujahr erst zwischen Ende Januar und Mitte Februar, die Iraner zu Frühlingsbeginn, also am 20. oder 21. März, die Juden im September oder Oktober und die Araber - überhaupt nicht. Denn andere Zivilisation benutzen andere Kalender und zählen auch die Jahre anders. So rechnet die arabische Welt nicht von Christi Geburt an, sondern von der "Hedschra" aus, der Auswanderung des Propheten Mohammed aus Mekka. Hierbei gilt der 15. Juli 622 als erster Tag des Jahres 1. In Wirklichkeit fand der Auszug Mohammeds zwar erst am 24. September statt, aber bedeutende Ereignisse willkürlich festzulegen, ist auch anderen Kulturen durchaus zu eigen. Die Juden benutzen ebenfalls eine eigene Zählung. Sie gehen vom 7. Oktober 3761 v. Chr. aus, dem Tag, den sie aus alttestamentarischen Quellen als den Weltanfang berechneten. Unser christliches Jahr 1999 ist das jüdische Jahr 5759, aber nur bis zum September. Denn am 11.9.99 ist Rosch-ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest. Ich schreibe diesen Text gleichzeitig im Jahre 399 des fünften Sothischen Zyklus, im Iahre 5759 A.M. (anno mundi), im Jahre 2751 A.U. C. (ab urbe condita), 1419 A.H. (anno Hagira), im Jahre 2658 der japanischen Zeitrechnung und im Jahre 1920 der Saka-Ära. Der Millenium Bug spielt also nur in der christlichen Zeitrechnung überhaupt irgendeine eine symbolische Bedeutung. Aber nicht nur die Jahreszählung und die Festlegung des Neujahrstages sind soziale Konstruktionen. Selbst die Länge eines Jahres stellt keine interkulturelle Konstante dar.

Da es früher nicht leicht festzustellen war, wann die Erde ihre Bahn um die Sonne vollendet hat, rechnete man früher mit dem Mondumlauf. Rund 29,5 Tage braucht der Mond, um die Erde einmal zu umrunden. Zwölf Mond-Monate von 29 bzw. 30 Tagen ergeben ein Jahr von 354 Tagen. Wenn man vier Wochen mit jeweils sieben Tagen als Monat zugrundelegen würde, käme man sogar auf 13 Monate mit insgesamt 364 Tagen.

Um die Lunation, den vollständigen Ablauf aller Mondphasen, mit dem Sommerjahr in Einklang zu bringen, konstruierten die Ägypter einen Kalender mit 12 Monaten zu je 30 Tagen und 5 Schalttagen, also ein Jahr mit 365 Tagen. Folglich verschob sich der Jahresanfang nach dem Mondkalender in jedem Jahr um 1/4 Tag gegenüber dem Beginn des religiösen, sothischen Neujahrs, das beim sonnennahen Sonnenaufgang gefeiert wurde. Das sothische Neujahr stimmte nur einmal in 1460 Jahren, dem sog. sothischen Zyklus, mit dem Neujahr des Mondkalenders überein.

Die Astronomen des klassischen Griechenlands entwickelten seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert verschiedene Verfahren, in denen sie Sonnen-und Mondzyklen in einem einzigen kalendrischen System zusammenfassen konnten. Das Problem dabei war, daß der synodische Mond mit 29, 53 Tagen nicht ganzzahlig in dem tropischen Jahr mit 365,25 Tagen aufgeht. Der Athener Meton bemerkte, daß 19 Jahre etwa so lang sind wie 235 Lunationen und damit einen Zeitraum bilden, der als lunisolarer Zyklus betrachtet werden kann. Nach heutigen Berechnungen unterscheiden sich Sonnen- und Mondzyklen nach 19 Jahren nur um 1,92 Stunden. Die Periode von 19 Jahren heißt daher Metonscher Zyklus und wurde in den christlichen Kalender eingebaut.(13)

Bis heute rechnet der Islam nach einem Mondkalender. Dies hat zur Folge, daß sich das Neujahr gegenüber unserem Kalender jährlich um 10 bis 12 Tage vorverschiebt. Juden und Chinesen legen dagegen regelmäßig einen dreizehnten Schaltmonat ein, weshalb manche Jahre dort sogar 385 Tage dauern.

Genau genommen, dauert ein Sonnenjahr 365 Tage plus 6 Stunden. Aus diesen Gründen ließ Gaius Julius Caesar eine Kalenderreform ausarbeiten, die alle vier Jahre einen 366. Schalttag vorsah. Aber auch dieser Kalender, der im Übrigen den Jahresbeginn auf den 1. März legte, war nicht genau genug. Im 16. Jahrhundert lag der Kalender bereits 10 Tag hinter den Jahreszeiten zurück. Daher ließ Papst Gregor XIII. im Jahre 1582 kurzerhand zehn Tage ausfallen und auf den 4. Oktober gleich den 15. Oktober folgen. Nur wenige Kunsthistoriker, die eifrig in den Archiven nach Dokumenten forschen und leider keinerlei wichtige Nachrichten aus der Zeit vom 5. - 14. Oktober 1582 finden konnten, so sehr sie auch danach suchten, wissen dies. Um die Parallelität des Gregorianischen Kalenders mit dem Sonnenjahr besser zu synchonisieren, sollten fortan 3 Schalttage in 400 Jahren entfallen. Von den vollen Jahrhunderten erhalten nur diejenigen, die durch 400 teilbar sind, einen 29. Februar. Deshalb hatte das Jahr 1900 keinen, das Jahr 2000 dagegen wird einen Schalttag haben.

Auch Monat, Tag und Stunde sind Einheiten, die sich zwar ursprünglich am Modell der Natur orientierten, aber von der jeweiligen Kultur umgearbeitet wurden. Wie schon angedeutet, müßte ein Monat eigentlich 28 Tage haben. Caesar wollte aber bei seiner Kalenderreform auf 365 Tage kommen und gleichzeitig den 12-Monate-Rhythmus beibehalten. Aus diesem Grunde erhielten im Jahre 46 v. Chr. die Monate 30 bzw. 31 Tage. Nur der Februar behielt 29 Tage. Als man jedoch im Jahre 5.v.Chr. den Monat Sextilius zu Ehren von Kaiser Augustus in Augustus umbenannte, konnte es nicht angehen, daß der Augustus einen Tag weniger hätte als der Julius. Deshalb haben Juli und August beide 31 Tage und der Februar nur noch 28. Man könnte das im Prinzip jederzeit wieder ändern wie bei der Deutschen Rechtschreibreform. Bundeskanzler Gerhard Schröder könnte sich hier ein ewiges Denkmal in der heutigen Mediengesellschaft setzen, wenn er ein Deutsches Institut für Kalenderreform gründen würde.

Während der Tag eine natürliche Einheit darstellt, ist der Wochenrhythmus von sieben Tagen eine kulturelle Konstruktion, die aus Mesopotamien stammt. Die Babylonier kannten nur sieben Himmelskörper: Sonne, Mond, Mars. Merkur, Venus, Jupiter und Saturn. In der Namensgebung Sunday, Monday, Mardi, Mercoledi, Venerdi, Giovedi und Saturday ist dieser Bezug zu den Planeten immer noch deutlich zu erkennen. Die jüdische Religion übermittelte diese Einteilung der Woche über das frühe Christentum an die Römern. Kaiser Konstantin der Große führte 321 n. Chr. die siebentägige Woche ein. Die Sowjetunion wollte 1929 einen Plan für eine fünftägige Arbeitswoche einführen, die aus vier Tagen Arbeit und einem Tag Freizeit bestehen sollte. Damit sollte, so hatte man gehofft, die Produktivität verbessert und die reaktionär-religiöse Tradition der Siebentagewoche mit ihrem Betsonntag abgeschafft werden. Aber die technischen Schwierigkeiten erwiesen sich als unlösbar. Also kehrte man nach zwei Jahren wieder zu dem alten Rhythmus der Siebentagewoche zurück.(14)

Die Chinesen dagegen kennen einen 60-Tage-Zyklus, in dem einzelne Tage so poetische Namen wie "Der Blitz mit dem Tiger" tragen. Die fortlaufende Zählung der Monatstage wie z.B. der 19., der 20., oder der 21. gilt allerdings erst seit dem 6. Jahrhundert. Bis dahin galt die römische Zählweise. Die Kalenden fielen auf den Monatsersten, die Nonen auf den 5. und die Iden auf den 13. jedes Monates. Danach wäre der 19. Juli der 6. Tag nach den Iden des Juli. Aber Caesar, der bekanntlich in den Iden des Märzes ermordet wurde, starb nicht am 13. März, denn wie bekannt, gibt es keine Regel ohne eine Ausnahme. In den Monaten März, Mai, Juli und Oktober fallen die Nonen auf den 7. und die Iden auf den 15. Also wäre der 19.7.99 nach der römischen Zählung der 4. Tag nach den Iden des Juli. Der Schwierigkeiten noch nicht genug, rechnete man nicht vorwärts, sondern rückwärts. Vom 15. Juli bis zum 19. Juli sind es zwar fünf Tage, aber vom 1. August, den Kalenden aus rückwärts gerechnet, sind es 13 Tage, wobei der 19.7. als 14. Tag mitzählt . Kein Wunder, daß Voltaire spottete: "Die römischen Feldherren siegten immer, aber sie wussten nie, an welchem Tag."

Die christliche Zeitrechnung, die in die Zeit vor Christi Geburt (A.C.) und nach Christi Geburt (B.C.) unterscheidet, geht auf den skytischen Mönch Dionysius Exiguus zurück. Bis dahin gab es mehrere gängige Zeitrechnungen. Eine von ihnen zählte die Jahre von der Stadtgründung Roms aus (A.U.C. -ab urbe condita) Er errechnete im Jahre 525 das Geburtsjahr Christi als das Jahr 753 A.U.C. (und verrechnete sich dabei prompt). Dieses Datum wurde dann der Beginn der christlichen Zeitrechnung. Es ist jedoch keineswegs gott- oder naturgegeben, daß das neue Jahr ausgerechnet am 1. Januar beginnen muß. Das Konzil von Tours im Jahre 576 verdammte dieses Datum, weil es angelbich heidnischen Urprungs sei. Aber dann fand die Kirche im 13. Jahrhundert doch noch eine christliche Begründung. Der 1. Januar wurde zum Tag der Beschneidung Christi erklärt. In Deutschland setzte sich der Jahresbeginn am 1. Januar dagegen erst im 16. Jahrhundert durch, vielerorts galt der 6. Januar lange als "Groß- oder Hochneujahr".

Bis kurz vor 1900 hatte im Übrigen jeder Ort seine eigene Uhrzeit. Erst mit der Entstehung der Eisenbahn und überregionaler Fahrpläne entstanden Überlegungen zur Einführung einer einheitlichen Zeit für das gesamte Reichsgebiet. Denn es war zu umständlich geworden, Fahrpläne so einzurichten, wie es 1821 etwa für die rheinische Schnellpost geschehen war:

Die Abfahrt in Cöln, Coblenz und Düsseldorf geschehe mit dem Glockenschlag der Uhr, und zwar diene in Köln die Domuhr, in Düsseldorf die Uhr an der Franziskanerkirche und in Coblenz die Stadtuhr, die dem Posthause zunächst sich befinde, zur Richtschnur.(15)

Am 1.April 1893 wurden die verschiedenen Ortszeiten abgeschafft und eine gesetzliche Zeit eingeführt. "Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des 15. Längengrades östlich von Greenwich" - die mitteleuropäische Zeit MEZ war geschaffen.

 

 

IV

Was macht dieser ausufernde Überblick über verschiedene kulturelle Zeitsysteme deutlich? Es wird erstens klar, daß bestimmte Zyklen wie Wochen, Monate und Jahre kontingente, soziale Konstruktionen sind, die jederzeit auch anders aussehen und verlaufen könnten. Zeitsysteme sind keine absolut gegebenen Naturkonstanten, sondern enthalten religiöse und daher immer auch ideologische Konstruktionen, von diesen diese Zählsysteme ein sichtbarer Ausdruck sind. Zweitens wird deutlich, daß die jetzige Jahrtausendwende, die von einer Ideologie der runden Zahl bestimmt wird, keineswegs für den gesamten Erdball von Gültigkeit und Bedeutung ist, sondern lediglich für die westlich-christliche Kultur. Es schwer zu glauben, daß das Jahr 5759 irgendeine besondere symbolische Bedeutung besitzen soll. Drittens wird deutlich, daß sämtliche Geschichtsbegriffe oder Theorien historischer Verläufe soziale Konstruktionen sind, die ihrerseits wiederum auf dem einem oder anderem der hier vorgestellten Zeitsysteme aufruhen und von ihnen abhängen.

 

 

V

Wer also vom Ende spricht, denkt für gewöhnlich an eine ganz bestimmte Form der historischen Erzählung und auch an einen ganz bestimmten Zeitplan für die nachfolgende Episode dieser Erzählung. Die Zeit nach dem Ende ist ein goldenes Zeitalter, das den Menschen durch den Autor verheissen wird.(16) Hier berührt sich das apokalyptische Denken des Christentums sehr stark mit dem Denken eines postfinalen, paradiesischen Zustandes.(17) So heißt es z.B. in dem berühmten Hegel-Kommentar von Kojéve:

Tatsächlich bedeutet das Ende der Zeiten, das Ende der Geschichte, [...] , die unwiderrufliche Annihilierung des Menschen als einer freien und historischen Individualität, schlicht das Aufhören menschlichen Handelns im strengen Sinne des Worts. Es bedeutet praktisch das Verschwinden von Kriegen und blutigen Revolutionen - [...] . Alle übrigen Dinge dagegen werden überdauern, allerdings im Zustand objektiver Unbestimmtheit: die Kunst, die Liebe, das Spiel, usw.: kurz alles, was diese Spezies Mensch glücklich macht.(18)

Fukuyama fügt seiner Vision des goldenen Paradieses des Posthistoire zumindest die skeptische Einschränkung an, ob das glorreiche Paradies des Neoliberalismus nicht doch ein ziemlich langweiliges Paradies sein könnte, wenn es keine historischen Widersprüche mehr gäbe.(19)

Vielleicht kann man an dieser Stelle das psychologisch-ideologische Motiv in der Rede vom Ende erkennen. Vielleicht geht es gar nicht so sehr um das Ende selbst, sondern im Subtext um die Verheißung und die Verkündung eines besseren, zeitlosen, paradiesischen Zustandes, eines goldenen Zeitalters, eines "anything goes" oder einer apokalyptischen Hölle des Nihilismus. Vielleicht hat die Rede vom Ende letztendlich die kognitive, und damit immer auch soziale und ideologische, Funktion, ein Glücksversprechen für eine bessere Zukunft zu formulieren angesichts einer zunehmend unbefriedigenden Gegenwart. Vielleicht ist die durch zwei verheerende Weltkriege gründlich desavouierte Idee des Utopischen in den achtziger Jahren durch das Konstrukt des Endes und die anschließende Aufnahme des Menschen in ein post-historisches, post-ästhetisches, post-finales, zeitloses Paradies ersetzt worden. Wenn diese Diagnose stimmen würde, dann gälte selbstverständlich dasjenige, was Theodor W. Adorno bereits vor über 30 Jahren in seiner Ästhetik formulierte, nämlich:

Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird. (20)

Ende.

 

 

Anmerkungen:

1 Jaqcues Derrida: Von einem neuergdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie; in: ders.: Apokalypse. Wien/Graz 1985, s.60; zit. nach Stefan Germer: Mit den Augen des Kartographen - Navigationshilfen im Posthistoire. in: Anne-Marie Bonnet/Gabriele Kopp-Schmidt (Hg.): Kunst ohne Geschichte? Ansichten zu Kunst und Kunstgeschichte heute. München 1995, S.140

2 Vgl. zur Frage der singulären Termini Willard van Orman Quine: Grundzüge der Logik.Frankfurt/M1978, S.262; ferner Wolfgang Künne: Abstrakte Gegenstände. Semantik und Ontologie, Frankfurt/M. 1983, S.19f.; Tugendhat, Ernst: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie. Frankfurt 1976, S.370, dagegen Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt 1995, S.31: "Ein Bild, ... , ist häufig eine ... Repräsentation, die nicht etwa irgendeinen Adler einzeln oder die Klasse der Adler kollektiv, sondern distributiv Adler im allgemeinen denotiert."

3 Quine, a.a.O., § 12

4 vgl. zu dieser Unterscheidung Quine, a.a.O., S.121,123. 19

5 Vgl. zum Begriff des Anfangs: Anfang; in: Krings,Hermann/ Baumgartner, Hans Michael/ Wild, Christoph (Hrsg.) 1973: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. München 1973, Bd.I, S. 79-89; Hans Georg Gadamer: Der Anfang der Philosophie. Stuttgart:Reclam 1996; Heinz von Foerster: Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen. Eine Selbsterschaffung in 7 Tagen. Wien: Döcker Verlag, 2.Aufl.,1999, S. 29: " Was Anfänge betrifft, sollten wir sehen, daß wir hier sitzen, und jeder Moment ist immer, immer, ein Anfang. "Alles ist jetzt und hier", das ist für mich wie ein Zauberspruch, ... Daher sind für mich auch Geschichtsprobleme, die ferne Vergangenheit, der Anfang des Universums immer jetzt und hier, die Geschichten darüber immer hier und jetzt konstruiert. ... Das Jetzt und das Hier, das ist für mich ein zentraler Punkt, es ist der Anfang jeden Anfangs."

6 Vgl. hierzu Niklas Luhmann: Anfang und Ende: Probleme einer Unterscheidung, in: Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr (Hg.): Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt/M. 1990, S.11-23

7 In der Schrift als einer sukzessiv-linearen Struktur

8 Cournot, Antoine Augustin: Traité de l'enchaînement des idées fondamentales dans les sciences et dans l'histoire / ed. par Nelly Bruyère. Paris 1982

9 Hendrick de Man: Vermassung und Kulturverfall. Eine Diagnose unserer Zeit. Bern: Francke 1951, S.135 f.

10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Frankfurt/M. 1986, Bd.I, S.25. Das Überraschende an der Hegelschen These vom Ende der Kunst, wie sie sich in den Fassungen von Arthur C. Danto oder auch Francis Fukuyama oder Alexandre Kojeve findet, ist, daß es diese These in der verschärften Form nicht gibt. Das erste, was mir auffiel, war, daß alle Autoren, die die These Hegels, daß die Kunst zuendegegangen sei und durch Philosophie ersetzt worden sei, keine Anmerkungen auf irgendwelche Textstellen in den Schriften Hegels setzten. Diese Taktik, am besten keinerlei Belegstelle anzugeben oder gar Hegel wörtlich zu zitieren, hat jedoch Methode. Denn es gibt diese These in dieser von Danto und anderen verschärften Form bei Hegel selbst so nicht. Dazu muß man wissen, daß die Formulierungen der Vorlesungen zur Ästhetik in der ersten Ausgabe von 1835 nicht von Hegel selbst stammen, sondern Nachschriften seines Schülers Heinrich Gustav Hotho sind, der zwar versichert, daß er nichts hinzugefügt oder verändert habe, der aber dennoch massiv in die ideologische Konstruktion des Textgebildes eingegriffen hat. Dies ermöglicht heute erst ein Vergleich mit Hegels neu herausgegebenem Manuskript der Berliner Vorlesung von 1823 zur Philosophie der Kunst, in der die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst in ihrer höchsten Mannigfaltigkeit, wie die These eigentlich korrekt heißt, in den Kontext der Aufgaben der Kunst für die Herausbildung eines modernen Bürgerstaates gestellt wird. Man erinnere sich. Wir haben die Zeit des politischen Vormärzes, in dem es nach der Völkerschlacht von Leipzig sehr stark um die Frage der Herausbildung eines modernen, demokratischen Natiaonalstaates geht. In diesem Kontext müssen die Diskussionen Hegels über die Rolle der kunst in einem solchen modernen Bürgerstaat gesehen werden. Sein Argument lautet im Wesentlichen, daß die Kunst, aus ihrem religösen und kultischen Zusammenghang entlassen, nur noch der geistigen Reflektion diene. Und für die Reflektion sei schließlich der Gedanke und damit das Philosophieren besser geeignet als die Kunst, die immer durch eine Mittelstelung zwischen dem Sinnlichen und dem Gedanken ausgezeichnet sei. Erst die Schüler Hegels machten daraus in polemischer Überspitzung die These vom Ende der Kunst. So schreiben z.B Theodor Mundt oder auch Felix Mendelssohn-Bartholdy, daß Hegel, der eben noch die Kunst für mausetot erklärt habe, "hastig in das geradüberliegende Operhaus" oder ins Theater eilte. Vgl. hierzu Annemarie Gethmann-Siefert: Ist die Kunst tot und zu ende? Überlegungen zu Hegels Ästhetik. Erlangen u. Jena: 1994

Vgl. ferner die Interpretation Arthur C. Danto: Die philosophische Entmündigung der Kunst, München: Fink Verlag 1993, S.111: Diesen Standpunkt hat Hegel, ..., ja tatsächlich vertreten: Er hat nämlich ziemlich unmißverständlich gesagt, daß die Kunst als solche, zumindest, was ihre höchste Bestimmung angeht, als eine geschichtliche Kraft vergangen sei, auch wenn er sich nicht zu der Prophezeiung hinreißen ließ, es würde keine Kunstwerke mehr geben."

11 Luhmann, a.a.O., S.14-16

12 Ich folge hier im Wesentlichen einer sehr populären, aber dennoch für den hier verfolgten Zweck geeigneten Darstellung von Peter Köhler: Zeitensprünge. in: ZUG. Für Menschen unterwegs, 12/98, S.28-33. Wer es gerne umfangreicher und wissenschaftlicher will, sei auf Wilhelm Wendtdorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Opladen 1980, sowie auf Julius T. Fraser: Die Zeit. Auf den Spuren eines vertrauten und doch fremden Phänomens. München 1991 verwiesen.

13 Fraser, a.a.O., S.101f.

14 Fraser, a.a.O., S.116

15 zit. nach Manfred Jehle: Eisenbahn und Industrialisierung; in: Aust. Kat. leben und arbeiten im Industriezeitalter. Eine Ausstellung zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns seit 1850. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 10. 5. -25.8.1985, S.43

16 Arthur C. Danto: Das "Ende der Kunst" mißverstanden als "Tod der Malerei"; in: Anne-Marie Bonnet/Gabriele Kopp-Schmidt (Hg.): Kunst ohne Geschichte? Ansichten zu Kunst und Kunstgeschichte heute, München 1995, S.73

17 Vgl. Klaus Vondung. Die Apokalypse in Deutschland. München 1988

18 zit. nach Danto, a.a.O., s.142

19 Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte?, in: Europäische Rundschau, Jg.17, no.4/89, S.25: "Das Ende der Geschichte wird eine sehr traurige Zeit sein. [...] In der posthistorischen Periode wird es weder Kunst noch Philosophie geben, sondern nur mehr bloß die ständige Präsenz des Museums der Menschheitsgeschichte. [...] Vielleicht ist es gerade die Aussicht auf kommende Jahrhunderte der Langeweile am Ende der Geschichte, die Geschichte wieder in Gang setzen wird."

20 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1970, S.205




 

designed by Hans.Dieter.Huber