Hans Dieter Huber
Atelier-Fabrikation der Sinne

(veröffentlicht in: Ausstellungskatalog Atelier und Künstler. 4. Kreis-Kulturwoche. Rhein-Neckar-Kreis, (1992), o.S. )

für christiane und gerhard


Ein Atelier stellt eine Art Produktionsraum für die unterschiedlichsten Projekte dar, die man sich ausdenken kann. Natürlich gab es und gibt es immer viele, auch berühmte Künstler, die nie ein Atelier hatten, sondern in ihren Wohnungen arbeiteten. Wer aber jemals in seinem Leben ein Atelier besaß, der wird die folgenden Ausführungen begreifen. Es ist ein quasi gesetzloser Raum, -ein Zwischen-Raum-, in welchem andere Regeln und Normen gelten als in den Räumen unserer Gesellschaft. Künstlerinnen und Künstler schaffen sich für gewöhnlich einen solchen Raum, um in ihm tun und lassen zu können, was sie in ihrem normalen, gesellschaftlichen Umfeld nicht tun und lassen können oder wollen. sie zahlen für diese Freiheit an die Gesellschaft einen bestimmten Preis, damit diese sie aus den normierenden und als hemmend empfundenen Konventionen das Alltages entlaßen. In einem Atelier existiert daher eine von dem Rest der Welt völlig verschiedene Freiheit ,wie sie in der fin de siecle -Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts in ihren normalen Lebenszusammenhängen und Alltagsverhaltensweisen längst nicht mehr zu finden ist. Die Bedingungen der Produktion künstlerischer Werke können mit Hilfe eines Atelier-Freiraums aus der erstickenden Klammer gesellschaftlicher Konventionen, Normen und Zwänge in einen zunächst indefiniten Freiheitsraum hinausverlagert werden. Diese Möglichkeit einer Verschiebung, Verlagerung oder absichtlichen Verwirrung nennt man auch dislocation . Eine solche gezielte Hinausverlagerung künstlerischer Produktion aus den gesellschaftlichen Zwängen, Normen und Verhaltensregulativen des menschlichen Handelns ist auch, immer und gleichzeitig, eine Hinausverlagerung aus der menschlichen Sprache. Das Atelier bildet sozusagen einen sprachlosen Schutzraum in positivem Sinne aus, insbesondere wenn man bereit ist, zu akzeptieren, daß verbale Sprache mit ihren Zwängen, Normen und Regulativen eine Form von institutionalisiertem Herrschaftsdiskurs und ein Instrument sozialer Machtausübung bildet. So gesehen ist die Ohnmacht eines Ateliers, die durch dislocation entsteht, gleichzeitig ihre stärkste Kraft. Das Bild ist im Atelier zuerst und zunächst dem Macht- und Herrschaftsanspruch der verbalen Sprache entzogen und in einen sprachlosen Schutzraum verschoben (dislocated ). Das Atelier bildet folglich im positiven Sinne einen Ort der Gesetzesfreiheit, einen Ort der Sprachfreiheit und einen Ort der Körperfreiheit aus.

In einem Atelier als einer Leerformel, einer Leerhülse, einer schweigenden und unauffälligen Hintergrundstruktur müssen von der jeweiligen Künstlerin oder vom jeweiligen Künstler, die darin arbeiten, selbst die relevanten Produktionsstrukturen geschaffen werden. Das heißt, die jeweilige Künstlerin oder der jeweilige Künstler schaffen aus Freiheit mit Hilfe des Ortes des Ateliers ihre eigenen Zwänge, Normen und Konventionen, die wiederum auf ihre künstlerische Produktionsweise zurückwirken. Aus einer Situation der Gesetzlosigkeit und Sprachlosigkeit heraus schaffen Künstler mit Hilfe des Ortes des Ateliers neue Gesetze und neue Sprachen von Körper, von Raum , von Zeit und von Energie. Eine Künstlerin oder ein Künstler schaffen aus der Stille und Sprachlosigkeit des Raumes heraus, sozusagen aus einer künstlerischen Aphasie, neue visuelle Sprachstrukturen in Form ihrer Werke, die persönlich, autistisch, privat und eigen sind. Mit Hilfe von räumlicher Dislokation schaffen sie eine Re-Lokation von Sprache als einem in seinen Herrschaftsansprüchen entmachteten und daher freiheitlich wirkenden Mechanismus.

Ein Atelier wird, nachdem diese fundamentale Funktion von Freiheit und Autonomisierung verstanden wurde, zu einem äußerst wertvollen Kapital, dessen innovative und transfomierende Kräfte für oder gegen die Künstlerin oder den Künstler arbeiten können. Das Atelier wird durch dislocation zu einem Produktionskapital, das sich im künstlerischen Werk immer wieder als eine emergente Qualität materialisiert. Emergent heißt, daß die Wirkung des Ganzen nicht aus der Summe seiner Einzelteile zu erklären ist, sondern nur durch einen qualitativen Sprung des Gesamtsystems. Das Atelier als ein Kapital gesellschaftlicher Freiheit wird zu einem Raum, in dem künstlerische Sachverhalte auf Probe zusammengestellt werden können. Wittgenstein hatte auf diese Möglichkeit im Zusammenhang von sprachlichen Satzformulierungen hingewiesen, als er schrieb: "Daß sich die Elemente des Bildes in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten, stellt vor, daß sich die Sachen so zu einander verhalten. ... Die Form der Abbildung ist die Möglichkeit, daß sich die Dinge so zu einander verhalten, wie die Elemente des Bildes." Die Möglichkeit, im Atelier Darstellungen von Dingen auf Probe zusammenstellen zu können, läßt die Schlußfolgerung zu, daß sich die Dinge in der Welt,nämlich die Sachverhalte selbst, genauso verhalten könnten. Hier rührt das Atelier als Produktionsmedium an die epistemische Funktion von Kunst, nämlich ein hervorragendes Medium für die Fabrikation von Erkenntnis zu sein. Das Atelier durchläuft in dieser Funktion einen entscheidenden Wendepunkt. Es wird zu einem Laboratorium der Sinne, zu einem Experimentallabor zur Fabrikation von Sinn und Erkenntnis. Es erlaubt experimentelle Versuchsanordnungen, in denen Darstellungen von Dingen und Sachverhalte auf Probe zusammengestellt werden können und auch wieder getrennt werden können. Denn was denkbar ist, ist immer auch möglich, wie Wiitgenstein sagt: "Wie wir uns räumliche Gegenstände überhaupt nicht außerhalb des Raumes, zeitliche nicht außerhalb der Zeit denken können, so können wir uns keinen Gegenstand außerhalb der Möglichkeit seiner Verbindung mit anderen denken." Jedes Kunstwerk existiert gleichsam in einem Raum möglicher Sachverhalte. Diesen Raum kann ich mir leer denken, aber nicht das Ding ohne den Raum.

Durch diese zentrale Gelenkfunktion im schöpferischen Prozeß wird das Atelier zu einem geistigen Modell. Es wird zu einem Modell gesellschaftlicher Freiheit, gesellschaftlicher Transformation, gesellschaftlicher wirkung. es wird zu einem Modell von relocation . Das Modell des Ateliers, welches, physikalisch gesehen, als Frei-Raum im wörtlichen Sinne begann, endet, als Möglichkeit konsequent zu Ende gedacht und zu Ende verwendet, als eine geistige Konstruktion. Letztendlich ist ein Atelier eine geistige Einstellung. Es kann daher auch nur im Gehirn einer Künstlerin oder eines Künstlers existieren. Es setzt nur eine bestimmte Lebensauffassung voraus, die sich ausschließlich in diesem strukturellen Freiheitsraum, dieser sprachlosen Leerstelle materialisieren und visualisieren kann. Räumliche Dislokation ist somit eine notwendige Voraussetzung für soziale Relokation. Es ist ein spannender Prozeß, den mitzuverfolgen nur den wenigsten Beobachterinnen und Beobachtern vergönnt ist, nämlich zu beobachten, wie sich der Leer-Raum eines Ateliers, das leere Dispositiv künstlerischen Handelns, über die Zeit hinweg selbst als geschlossenes System strukturiert und installiert und von den Polen der Freiheit, der Ohnmacht und der Sprachlosigkeit her durch das künstlerische Verhalten der Künstlerin oder des Künstlers neu re-strukturiert, re-normiert, re-institutionalisiert, re-lingualisiert und dadurch wieder in der Gesellschaft selbst relokalisiert wird.

Das Atelier durchläuft innerhalb dieses komplexen Mechanismus einen Transformationsprozeß von einem künstlerischen Produktionsmedium, einem Kapital Raum , könnte man mit Beuys sagen, zu einem materialisierten und visualisierten Modell eines Lebensstils, einer Lebensaufassung, eben der künstlerischen Existenz und wird dadurch zu einem geistigen, emotional und kognitiv wirksamen Anschauungsgegenstand umgewandelt. Gerade dieser Lebensstil der künstlerischen Existenz, diese bestimmte Auffassung von Freiheit, Ohnmacht und Sprachlosigkeit bringt notwendigerweise als ihre Produkte Kunstwerke hervor. Die künstlerische Existenz von Künstlerinnen und Künstlern bringt es zwangsläufig und notwendigerweise mit sich, daß als ihre Resultate Kunstwerke entstehen. Dislokation erzeugt auf diese Weise Relokation. Das Produktionskapital auf dem Weg von der künstlerischen Lebensauffassung (der dislocation ) zum künstlerischen Produkt (der relocation ), auf dem Weg vom Frei-Raum zum Sprach-Raum stellt eben das Atelier dar. Es bildet den medialen Kreuzungspunkt zwischen Leere und Überfülle, Chaos und Ordnung, Person und Produkt, dislocation und relocation , Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Unordnung und Umsiedelung, Verwirrung und Wiedereingliederung.

So ist ein Atelier als ein Kapital Raum , als ein Laboratorium der Sinne stets materialisierter und visualisierter Ausdruck dieses Spannungsverhältnisses von künstlerischer Lebensform und künstlerischer Werkform. Im Atelier findet diese Fabrikation der Sinne statt. Sie ereignet sich an dem Kreuzungspunkt von Möglichkeit und Tatsächlichkeit, wie es im jeweiligen Werk zusammengestellt werden kann. Je nach tatsächlicher oder möglicher individueller Realisierung dieser Lebensform ist die experimentelle Versuchsandordnung eines Ateliers mehr oder weniger frei, mehr oder weniger ohnmächtig und mehr oder weniger sprachfähig.

Aus dieser Modellsituation des Ateliers heraus wird künstlerische Effektivität in Form des Werkes wieder in die Gesellschaft umgesiedelt. Das künstlerische Produkt wird wiedereingegliedert. Über das Kunstwerk als ein visualisiertes Modell erarbeiteter Freiheit, ohnmächtiger Kraft und sprachloser Sprachfähigkeit kann eine Künstlerin oder ein Künstler einen archimedischen Punkt künstlerischer Subjektivität entwickeln, an dem sie ihren maximalen Wirkungsgrad entfalten und die gesellschaftlichen Konventionen, Normen und Verhaltensregulativien des Alltages hinein verändern können. Genau dies meint der Begriff relocation .Auf diese Weise wird Kunst zu einem Transportriemen anschaulicher Sinneskonstruktionen. Das Atelier fungiert in dieser Rolle als das katalysierende Medium dieser Transformation.



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