Hans Dieter Huber
Paradoxien der Geschichte
Anmerkungen zu den Fotografien von Gerhard Gäbler
 


First Installation:14.12.1999 Last update: 15.12.1999

erschienen in: Gerhard Gäbler. Fotografien 1978- 1999. Dresden: Verlag der Kunst 2000, o.S. [3-8]r. Auf der informellen Ebene dagegen, auf der Ebene persönlicher Verwandtschaften und Freundschaften, hat der Zusammenhalt zwischen Ost und West dagegen trotz aller Schwierigkeiten wesentlich besser funktioniert. Erst nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur und der deutschen Wiedervereinigung wurde es möglich, die Geschichte der beiden deutschen Staaten noch einmal aufzurollen und neu zu bewerten. Der Text zu den Fotografien von Gerhard Gäbler versteht sich daher ebenfalls als ein Beitrag zur Neusichtung und - bewertung der deutschen Kunstgeschichte.

 

Anfänge als Autodidakt

Gerhard Gäbler ist als Fotograf Autodidakt. Lange bevor er sich zu einem Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig entschloss, hatte er im Prinzip bereits seinen fotografischen Stil gefunden und ihn bis heute bewahrt. Das Studium, zu dem er fast überredet werden musste, scheint nichts an seiner fotografischen Grundhaltung geändert zu haben. 1952 in Leipzig geboren, studierte Gäbler von 1972-76 an der Karl-Marx-Universität Leipzig Chemie und arbeitete anschliessend als Chemiker im arbeitsmedinischen Bereich in Altenburg und von 1976-1977 bei der Forschungsabteilung der VEB Filmfabrik ORWO in Wolfen. Die hervorragend ausgestattete Fachbibliothek in Wolfen gestattete es Gäbler in dieser Zeit, eine Menge Fotoliteratur zu rezipieren. Der Entschluss, zu fotografieren, fiel in diese Jahre. Ende 1976 kauft er sich eine Practica VLC 2.

Eine seiner frühesten Fotografien von Gerhard Gäbler datiert aus dem Jahre 1978 und zeigt bereits alle Elemente seiner fotografischen Auffassungsgabe. (Kat. no. 1) Auf dem Foto sieht man drei ältere Männer in und vor einem Wartehäuschen stehen. Ein älterer Mann mit Popelinemantel, Hut und Brille blickt sorgenvoll, aber konzentriert nach rechts aus dem Bild. Seine Hände versuchen, schamhaft ein Etui zu verbergen, das er um den Hals hängen hat. Der links hinter ihm stehende Mann mit verschränkten Armen, entschlossenem Blick und breitem Stand hat den Beobachter entdeckt und blickt ihn herausfordernd oder misstrauisch an. Der Jüngere im Hintergrund ist dagegen vollkommen von dem Geschehen ausserhalb des Bildfeldes fasziniert. Eine seltsame Dreieckskonstellation ergibt sich in dieser Fotografie. Sie wird umso merkwürdiger, je öfter und länger man sie ansieht. Und das spricht für die ausserordentliche Qualität dieses Aufnahme, für ihre Fähigkeit zu einer symbolischen Verdichtung, auf die ich noch ausführlicher zurückkommen werde. Die Situation scheint merkwürdig zu sein. Wo schauen die Menschen hin, warum stehen sie so herum, als ob sie auf den Bus warten würden. Je länger man aber hinschaut, desto genauer erkennt man, dass sie keinesfalls auf den Autobus warten, sondern einem Geschehen ausserhalb des Bildes folgen. Es geht um ein verstohlenes, heimliches Zuschauen. Denn der Mann im Vordergrund verbirgt geschickt ein Fernglas unter seinen Händen. Sie beobachten den Abriss der Reudnitzer Markus-Kirche in Leipzig im März1978. Wenn man weiss, welche umfangreichen Vorkehrungen und Schutzmaßnahmen die Stasi zum Abriss der Universitätskirche in Leipzig getroffen hatte, dann kann man ahnen, welche Brisanz dieses Foto besitzt. Wir begegnen bereits hier, in einer der ersten Fotografien Gäblers, einer wichtigen Struktur des Bildes, nämlich der Differenz zwischen einem buchstäblichen, oberflächlichen Geschehen und einem subversiven, verdunkelten Subtext, der nur bei entsprechendem Wissen verständlich wird.

 

Paradoxien der Unterscheidung

Unterscheidungen sind, allgemein gesprochen, Zwei-Seiten-Formen, mit einer Aussenseite und einer Innenseite. Wenn jemand als Beobachter eine Unterscheidung trifft, dann grenzt er die Innenseite von der Aussenseite der Form ab und bezeichnet eine der beiden Seiten mit einem Begriff. Diese ist dann die bezeichnete Seite der Form, die andere die unbezeichnete. Beide Seiten sind aber stets simultan und gleichzeitig in der verwendeten Unterscheidung enthalten.

Auch im Falle von visuellen Beobachtungen trifft der Beobachter Unterscheidungen. Auch hier handelt es sich zunächst immer um paradoxale Grundverhältnsse, die nur um den Preis der Ausblendung jeweils einer Seite aufzulösen sind. Paradoxien entstehen, wenn der Beobachter, der solche Unterscheidungen trifft, die Frage nach der Einheit der Unterscheidung stellt, die er verwendet. Jede Unterscheidung ist daher in sich selbst paradox, weil die beiden Seiten, die sie bilden, immer zugleich anwesend sind: die eine als die bezeichnete, die andere als mit gemeinte, latente Seite, auf die die Bezeichnung verweist.

Ein zentrales Paradox der Fotografien Gerhard Gäblers betrifft den Unterschied zwischen der historischen Gebundenheit und ihrer über das Geschichtliche hinausgehenden, ästhetischen Allgemeingültigkeit. Denn seine Fotografien unterlaufen ihre historischen Bindungen durch eine besondere symbolische Dichte. Auf der einen Seite der verwendeten Unterscheidung sind sie historische Bilddokumente. Sie bezeichnen durch ihren Titel bestimmte Orte und bestimmte Jahre und sind damit historisch lokalisierbar. In den Aufnahmen der Leipziger Montagsdemonstrationen aus dem Jahre 1989 werden die Aufnahmen sogar entsprechend der Dichte der Ereignisse noch nach Tag und Monat klassifiziert. Sie sind dadurch einer noch stärkeren Historisierung unterworfen als die anderen Arbeiten. Der dokumentarische Charakter der Fotografie tritt hier besonders stark hervor und bindet die Aufmerksamkeit des Beobachters an sich.

Es wäre aber eine einseitige Auflösung der Differenz, Gäblers Fotografien nur unter dem Aspekt des Dokumentarischen oder des Historischen betrachten zu wollen. Denn sie erfasst nur die eine Seite des Paradoxes und lässt die andere zum blinden Fleck der Beobachtung werden. Wenn man Gerhard Gäbler als einen Chronisten der Wende bezeichnet, -was er auch ist, aber eben nicht nur-, dann übersieht man genau dasjenige, was in seinen Aufnahmen über das Dokumentarische einer Chronik hinausgeht. Und das sind vor allem die ästhetischen Qualitäten seiner Fotografien.

 

Symbolische Kondensierung

In den Fotografien von Gerhard Gäbler findet eine hochgradige Verdichtung statt, die ich als symbolische Kondensierung bezeichnen möchte. Das einzelne Bild verliert durch die symbolische Kondensierung seinen dokumentarischen Charakter. Es wird zu einem allgemeinen Typus beziehungsweise zu einem repräsentativen Stellvertreter. In den Bildern Gäblers kondensieren sich wie in einem Hohlspiegel die Verhältnisse der sozialistischen Gesellschaft, der Wendezeit und der Berliner Republik. Das einzelne Foto verdichtet auf seiner Oberfläche wesentliche symbolische Verhältnisse der Gesellschaft.

Eine etwa sechzigjährige Frau und ein etwas jüngerer Mann sitzen auf einer sogenannten "Linden-Bank", die zu Beginn der sechziger Jahre von Fritz Kühn für die Berliner Strasse Unter den Linden entworfen wurde. (Kat. no. 19) Die Frau ist einfach gekleidet, sie hält mit beiden Händen eine Handtasche und wirkt verzweifelt. Der Mann mit Hut sitzt daneben und hat sich ihr zugewandt. Er redet auf sie ein. Aber wir wissen als Beobachter nicht, was er sagt. Es handelt sich um eine Leerstelle, die von der Phantasie des Beobachters aufgefüllt werden muss. Versucht er sie zu trösten oder zu erpressen? Da es keine historisch identifizierbaren Personen sind, sondern ganz allgemein zwei Menschen, steht diese Situation für Verzweiflung, Ratlosigkeit, Trost oder Verführung im Allgemeinen. Es ist der Mensch in der sozialistischen Gesellschaft, in seinen grundlegenden menschlichen Lebenssituationen, den dieses Foto auf ästhetisch-symbolische Weise verdichtet und kondensiert. Man darf die Form der symbolischen Verdichtung jedoch nicht mit der Diskussion um den fruchtbaren Augenblick verwechseln. Denn der fruchtbare Augenblick ist in erster Linie eine Frage der Zeit- und Handlungsperspektive. Nach der Theorie des fruchtbaren Augenblicks soll man an einem Bild erkennen können, von welchem Ausgangspunkt sich die Handlung entwickelte und wohin sie gleich umschlagen wird.

 

Semantische Generalisierung

Ein wichtiger Bestandteil oder Mechanismus symbolischer Kondensierung ist die semantische Generalisierung, wie ich dieses Phänomen bezeichnen möchte. Sie betrifft die Bedingungen und Möglichkeiten der Verallgemeinerung und Universalisierung von Bedeutungsstrukturen eines Bildes. Eine Fotografie ist zunächst einmal ein Einzelding. Sie ist ein individual, wie der Titel eines berühmten Buches von Peter Frederick Strawson lautet. Wenn allerdings die dargestellten Personen historisch nicht weiter identifizierbar sind, in dem Sinne, daß es sich schlicht und einfach um irgendwelche Personen handelt, dann stehen diese Figuren stellvertretend für ihre ganze Klasse. Ein Einzelding steht stellvertretend für die Dinge dieser Klasse. So kann dann in einem Bilde eine einzelne Arbeiterin durchaus stellvertretend für alle Arbeiterinnen stehen, ein Bauer für alle Bauern, ein Kind für alle Kinder und ein Jugendlicher für alle Jugendlichen. Wie weit man die Referenz verallgemeinern will, hängt dabei von der verwendeten Unterscheidung ab. So können z. B. die dargestellten Personen auf dem Foto einer CDU-Kundgebung auf dem Leipziger Augustusplatz von 1990 (Kat. no. 48) stellvertretend für die Leipziger Montagsdemonstranten stehen, die nun gläubig den neuen Versprechungen aus dem Westen zuhören, oder sie können, allgemeiner aufgefasst, für das Volk stehen, das andächtig oder kritisch den Versprechungen der herrschenden Klasse lauscht. Das Interessante an der semantischen Generalisierung ist die Tatsache, daß der Beobachter die Referenz selbst durch seine eigene Unterscheidung festlegen kann.

In einer Fotografie aus dem Jahre 1986 (Kat. no.15) lädt eine ältere Frau im Mantel und mit Kopftuch einen Bund Äste in einen Trabi ein. Der Mann hat den Beifahrersitz nach vorne geklappt und hilft ihr beim Einladen. Die Frau blickt erschrocken durch die Äste hindurch auf den Fotografen/Beobachter, der mit seinem Blitzlicht die Aufnahme ausgelöst hat. Diese beiden Personen stehen stellvertretend für die gesellschaftliche Situation der DDR Mitte der achtziger Jahre. Sie fühlen sich ertappt, als ob sie etwas Heimliches oder Verbotenes getan hätten. Sie stehen stellververtretend für den permanenten Verfolgungswahn und die Angst vor der Denunziation durch diensteifrige Spitzel. Der Beobachter vor diesem Bild wird also durch den Fotografen quasi in die Rolle eines Denunzianten gebracht, als Stellvertreter dieser Seite der Gesellschaft. Damit erhält dieses Foto wie viele Seiten der DDR etwas Ambivalentes. Auf welcher Seite steht der Beobachter? Ist er ein Opfer oder ein Täter? Das Foto kondensiert und generalisiert diese medialen Zusammenhänge durch die spezifische Auswahl der Bildsituation.

Aufgrund seiner mangelnden historischen Individuierbarkeit steht das Einzelbild als Stellvertreter für etwas Allgemeines. Es steht repräsentativ für die ganze Klasse der Dinge, die es abbildet. Bilder fungieren im Prinzip wie singuläre Termini. Sie denotieren distributiv die ganze Klasse. So bezeichnet der Begriff "Adler" nicht einen bestimmten, historisch nachweisbaren Adler, beispielweise den Adler Horst aus dem Leipziger Wildpark, der 1993 gestorben ist, sondern "Adler" steht synonym für alle Adler. Adler meint Adler im allgemeinen als Begriffsklasse. Das Foto funktioniert hier wie ein singulärer Terminus in der Logik und steht stellvertretend für die ganze Klasse. Dies stellt eine einzigartige und genuine Möglichkeit speziell von Bildern gegenüber der Sprache dar.

Gerade die Fähigkeit Gäblers, Allgemeingültiges durch Einzelfälle darzustellen, ist die Fahrkarte zur Befreiung der Fotografie von dem Stigma des historischen Dokumentes. In ihrer basalen Paradoxalität sind Fotografien jedoch immer beides. Sie sind ein historisches Dokument und sie können gleichzeitig, wenn ihnen eine symbolische Verdichtung gelingt, von ästhetischer Allgemeingültigkeit sein. Ähnlich wie die Musik von Elvis Presley und die frühen Songs der Rolling Stones das Lebensgefühl einer ganzen Generation zum Ausdruck brachten, bringt Gerhard Gäblers Fotografie von einem Bruce Springsteen-Rockkonzert in Ost-Berlin (cat. no. 34), bei dem ein Jugendlicher die amerikanische Flagge als Symbol der Freiheit schwenkt, das Lebensgefühl einer ganzen Generation von DDR-Jugendlichen auf den Punkt. Durch die Darstellung von etwas Einzelnem können Bilder etwas Allgemeingültiges, Universelles verbildlichen, ohne darüber reden zu müssen.

 

Interaktionen zwischen Bildern

Zum erstenmal veröffentlicht Gerhard Gäbler eine Reihe von neuen Fotografien, die jeweils zwei Bilder nebeneinander auf einem Abzug enthalten. Es handelt sich dabei um Neusichtungen seines Negativarchivs. Gäbler hat jeweils zwei auf dem Negativstreifen benachbarte Negative ausgewählt und gemeinsam vergrössert. Durch diese Verdoppelung kommen sowohl ein erzählerisches wie ein zeitliches Moment ins Spiel.

Wenn man als Beobachter einer einzelnen Fotografie gegenüber steht, ist die Situation mehr oder weniger offen für Interpretationen. Wenn aber ein zweites Bild in diesen Zusammenhang eintritt, spezifiziert dieses zweite Bild die Bedeutung des ersten. Es gibt ihm eine bestimmte Wendung, eine neue Variante oder eine neue Deutung. Da die Leserichtung in den westlichen Kulturen von links nach rechts verläuft, fungiert das linke Bild normalerweise als erste These, die den Beginn der Bilderzählung markiert. Das linke Bild wird daher häufig auch als ein zeitlich früheres interpretiert. Es eröffnet den universe of discourse, das Universum des visuellen Diskurses. Eine Welt von Bedeutungsmöglichkeiten öffnet sich mit dem ersten Bild. Das rechte Bild fungiert nun aber nicht etwa als eine Art dialektischer Antithese, sondern als eine zweite These, die vom Beobachter mit dem ersten Bild auf verschiedene Weise in Verbindung gesetzt werden kann. Die beiden Bilder werden automatisch vom Beobachter miteinander in Verbindung gesetzt, weil sie auf dem selben Papier sind oder weil man nach der einfachsten, gemeinsamen Bedeutung sucht. Die latent bleibenden Außenseiten fungieren dabei als offengelassene Leerstellen oder Anschlüsse. Der Beobachter konstruiert für sich selbst aus dieser Unbestimmtheit eine grammatikalische Struktur, in der beide Fotografien einerseits spezifische Bedeutungsbezüge miteinander teilen und andererseits bestimmte Referenzen nur für sich selbst beanspruchen können. Damit wird die Bedeutung des ersten Bildes automatisch durch die Bedeutung des zweiten verändert und umgekehrt.

 

Die Temporalisierung der Identität

Gerhard Gäbler hat sich seine Art zu fotografieren bis auf den heutigen Tag bewahrt. Die neuesten Farbfografien wirken auf den ersten Blick schrill, schreiend, bunt und falsch. Aber auch hier kondensiert sich das einzelne Bild zu einem Symbol der Zeitenwende. Schrill, bunt und aufgeregt ist der Jahrtausendwechsel und irgendwie erscheint einem alles falsch. In den achtziger und neunziger Jahren sind alle möglichen Formen von Identität ausprobiert worden und sie sind ebenso den Bach hinunter gegangen wie das DDR-Regime. Identität ist heute nur noch eine leere, postmoderne Hülse, die es durch eine perfekte Performance auszufüllen gilt. Die globalisierte Mediengesellschaft der späten neunziger Jahre läßt Identitäten nur noch als perfekt inszenierte und ausgearbeitete Rollensysteme zu. Im Prinzip sind personale Identitäten heute längst keine auf Dauer gestellten Lebensgrundlagen mehr, sondern sie kommen nur noch in temporalisierten Abschnitten vor.

Die porträtierten Personen in den Farbfotografien Gerhard Gäblers erhalten ihre scheinbare Identität zunächst durch die Fotografie. Erst das Medium erlaubt ihnen, eine Identität anzunehmen, die sie nicht wirklich, sondern nur medial, als eine perfekt konstruierte und inszenierte Hülse, besitzen. Die Fotografie entwirft die Identität der Personen auf der Oberfläche des Papiers auf eine Art und Weise, wie sie nur dort und nur unter den spezifischen Bedingungen des Mediums so erscheinen kann, wie sie erscheint. Egal, ob jemand von den sächsischen Indianerfreunden als Häuptling oder als Leutnant der Südstaatenarmee auftritt, als Fan des FC Sachsen Leipzig, als androgyner Netz-Leder-Punk oder als schöne Gärtnerin, hier werden neue Identitäten auf Zeit gestellt, indem sie entworfen, geplant, gespielt und inszeniert werden.

Damit wird Identität temporalisiert. Was dabei gewonnen werden kann , ist gerade im Hinblick auf eine mögliche Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Jahrtausendwende hochinteressant. Die Temporalisierung von Identität erlaubt eine größere Komplexität und Formenvielfalt als traditionelle, auf Dauer gestellte Einheiten. Die wichtigste Konsequenz besteht nun darin, dass sich eine neue wechselseitige Abhängigkeit von Auflösung und Reproduktion der Identität ergibt. Systeme mit temporalisierter Identität sind auf den ständigen Zerfall ihrer Interaktionen mit anderen Menschen angewiesen. Und genau dies ist in den neuen Farbfotografien Gäblers dargestellt. Die laufende Desintegration zeitlicher Identitätsstrukturen schafft gleichsam Platz und Bedarf für Nachfolgeaktionen und neue zeitliche Identitätsversuche. Die Temporalisierung der Identität bedeutet daher auf der einen Seite die Abhängigkeit von einer anspruchsvolleren und komplexeren Selbst-Organisation und zugleich eine erhöhte Abhängigkeit von Umweltinformationen. Durch die zeitliche Sequenzierung entstehen zugleich Komplexitätsvorteile wie neuartige Probleme, die auf neuartige Lösungen warten. Eine Person kann mit Hilfe ihrer temporalisierten Identität ihre Beziehungen wechseln und nacheinander, also zeitlich, in verschiedene soziale Konstellationen eingebunden sein. Sie ist nicht mehr auf ein einziges, starres Verknüpfungsmuster festgelegt, sondern kann ihrer Umwelt und sich selbst in wechselnden Kombinationen begegnen. Dadurch ergibt sich gegenüber der Umwelt eine höhere Flexibilität und Anpassungsgeschwindigkeit.

In den Fotografien Gerhard Gäblers ist genau zu sehen, wie sich die Dargestellten auf die neuen sozialen Systembedingungen eingestellt haben. Die Temporalisierung verändert auch den Formenreichtum und den Dispositionsbereich der Gegenwart, weil sie Formen von Identität ermöglicht, die für verschiedene Wechselschicksale zugleich bereitgestellt werden können. Sie steigert dadurch die Ausdifferenzierung des eigenen Selbst. Das bedeutet Abhängigkeit von einem anspruchsvolleren inneren Arrangement und damit eine erhöhte Abhängigkeit von der Umwelt durch eine gesteigerte Reizbarkeit.

Für die Paradoxalität von Geschichte heisst das, dass die neuen Arbeiten Gerhard Gäblers durch das Medium der Fotografie einen wahlfreien Zugriff auf den Sinn von vergangenen bzw. zukünftigen Ereignissen ermöglichen. Denn die Geschichte entsteht ja geradezu durch ihre Entbindung von der zwanghaften Sequenzierung. Geschichte ist daher immer gegenwärtige Vergangenheit bzw. gegenwärtige Zukunft. Und genau dies gilt für die Fotografien Gerhard Gäblers.

 

Leipzig, am 9.Oktober 1999

Anmerkungen:


Hans Dieter Huber