Hans Dieter Huber
Unterhaltungsfetzen
Ein Gespräch zwischen Stefan Germer und Hans Dieter Huber am 22.7.1994
in Mannheim
(veröffentlicht in: Ausst. Kat. prima idea. Der deutsche
Künstlerbund in Mannheim 1994. Landesmuseum für Technik und Arbeit
in Mannheim, 8.10.-27.11.94, S.76-79 )
Germer: Systemtheoretisch gesprochen, ist der Anfang ja eine perverse
Idee, ja eigentlich ein völlig unbeobachtbarer Zustand. Und insofern
ist schon das Konzept, prima idea zeigen zu wollen, eigentlich paradox.
Warum hast Du Dich darauf eingelassen?
Huber: Eigentlich hat mich das Thema sehr interessiert. Ausgelöst
von dem Titel habe ich dann angefangen über das ganze Thema nachzudenken
und bin dann in den Bereich reingekommen: Inspiration, Beatmungsvorgänge,
Belebungsvorgänge; also ursprüngliche Faszinationen, und habe
gemerkt, daß das in meiner künstlerischen Arbeit einen relativ
großen Stellenwert hat. Auch wenn ich das bisher nie so bewußt
wahrgenommen habe.
Germer: Kannst Du das konkretisieren? Wo siehst Du Dinge, die in Deiner
Arbeit mit Inspiration zu tun haben?
Huber: Ich habe mich jetzt wieder über dieser Arbeit für den
Künstlerbund daran erinnert, daß ich schon in den achtziger Jahren
eine Arbeit mit dem Titel 'What we take there to be is pretty much of what
there is' gemacht habe, bei der ich immer einen Fotoapparat dabei hatte
und alles das fotografiert habe, was mir irgendwie aufgefallen ist, von
was ich irgendwie auf eine unerklärbare Art und Weise fasziniert war.
Und ich habe das ein Jahr lang gemacht. Das war auch der Zeitpunkt, als
wir nach Mannheim gezogen sind, 1984. Und wenn Du neu in eine Stadt ziehst,
siehst Du die Dinge ja zum ersten Mal. Und in einer besonderen Weise reagierst
Du darauf. Da ist noch keine Gewohnheit da. Und da habe ich immer das fotografiert,
was mir einfach auffiel. Und mir war oft nicht klar, warum mir manche Dinge
ins Auge fallen, andere dagegen nicht, und so ... Und das hat etwas mit
dieser ersten Faszination zu tun.
Germer: Ich würde das umgekehrt sagen. Von dem, was ich gesehen
habe, von Deinen Arbeiten, hab ich das Gefühl, daß Du versuchst,
die Problematik des Anfangs genau zu umgehen. Also: Collagen zu machen,
von bearbeiteten Materialien auszugehen. Im Grunde sich genau dem Druck
zu entziehen: hier beginnt die Schöpfung, sondern zu sagen: es gibt
einen Text, der dem eigenen Werk vorausgeht und das eigene Werk ist eine
Störung. Mir schien das vielmehr so, daß es eher eine secunda
idea wäre als eine prima idea.
Huber: Natürlich ist klar, daß dieses Konzept der ersten Idee
ein Blödsinn ist. Denn wenn man danach zurückfragt, was ist denn
der erste Eindruck, den ein Mensch hat, dann kommt man irgendwie auf den
Fötus im Mutterleib zurück und auf die Befruchtung der Eizelle
durch den Samen. Dann muß man weiterfragen, ist die Befruchtung einer
Eizelle wirklich die erste Idee? Dann kommt man darauf, daß die Funktion
von Eizelle und Samen selbst wiederum eine komplexe Transformation im Zusammenhang
der langen evolutiven Gattungsentwicklung darstellt, usw. Also, diese Frage
ist Quatsch. Man kann sie nicht beantworten. Ich würde das eher als
eine gezielte Transformation sehen. Ausdifferenzierte Zustände werden
durch irgendwelche Eingriffe in ihrer Dynamik vehement verändert. Es
sind feste Bilder, die sind schon da, die sind schon an irgendeinen Endpunkt
gelangt. Sie sind eigentlich tot. Aber dadurch, daß ich in das Verhältnis
eingreife, bringe ich eine gezielte Störung ein, und dadurch löse
ich einen Prozeß aus, der wieder zu einer Transformation und zu einem
anderen Zustand führt.
Germer: Prima idea heißt im Grunde Fixierung auf den Künstler.
Wenn man es auf den Betrachter bezieht, dann haben wir ja den Prozeß,
den Du in Deiner Produktion aufnimmst, nämlich die Reaktion auf einen
bereits vorliegenden Text, der sich eben nicht erschließt im Sinne
einer Ursprünglichkeit, sondern Ansatzpunkt für eine eigene Lektüre
ist.
Huber: Ich sehe mein Werk streng aus der Perspektive des Betrachters.
Ich versuche, permanent bei meiner eigenen Arbeit von mir selbst als Künstler
soweit wie möglich zu abstrahieren. Denn nur dadurch gelingt es mir,
in einer ¯ sagen wir mal ¯ unscharfen Art und Weise vielleicht
einigermaßen vorauszuahnen, was das, was ich machen will, in einem
anderen auslösen könnte.
Germer: Du bist ja selber Kunsthistoriker und beziehst zum Teil ja in
Deiner Arbeit - auch ganz bewußt - die Rolle des Kunsthistorikers
mit ein. Was sind die Vorteile oder die Nachteile, die die beiden Rollen
für Dich haben?
Huber: Die Vorteile sind sicher leichter aufzuzählen als die Nachteile.
Sie bestehen in dem, was man cross fertilisation nennen könnte. Mir
fällt immer auf, wenn ich am Schreibtisch sitze und über irgendetwas
Kunsthistorisches oder Kunsttheoretisches nachdenke, daß mir dann
in einer gewissen Undiszipliniertheit der Gedanken die besten Ideen für
meine künstlerische Arbeit kommen, die ich dann schnell notiere. Umgekehrt,
wenn ich dann im Atelier handwerklich arbeite, irgendetwas anstreiche, zeichne
oder säge, dann kommen mir gute Ideen für irgendwelche neuen Kapitel
in irgendeinem Buch. Das hat mit freien Hirnkapazitäten zu tun oder
mit halb geordneten Geisteszuständen. Und das habe ich immer als sehr
fruchtbar empfunden. Und das ist im gewissen Sinne auch für mich selbst
zu einer Einheit geworden, d. h.: Ich könnte das eine nicht ohne das
andere tun. Das sind ¯ sagen wir mal ¯ zwei völlig selbstverständliche
Teile. Und es ist auch nicht klar, ob diese zwei Teile überhaupt das
Ganze schon sind. Zu den Nachteilen würde ich sagen, daß sie
in der Reaktion der Umwelt auf mich bestehen: in den Schwierigkeiten, die
bestimmte Personen haben, daß sie mich nicht zu klassischen Berufsbildern
zuordnen können. Für die Künstler bin ich irgendwie eine
komische Figur, kein richtiger Künstler, und für die Kunsthistoriker
bin ich auch irgendwie kein richtiger Kunsthistoriker. Es ist offenbar für
viele Menschen sehr schwierig, mit so jemanden wie mir umzugehen.
Germer: Also hängt das damit zusammen, wenn man das mal systemtheoretisch wendet, daß innerhalb von Kunst- und Wis-
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senschaftssystem unterschiedliche Kategorien zur Anrechnung von Reputation
in Anschlag gebracht werden.
Huber: Ja, klar. Unterschiedliche Qualifikationen und Urteilskategorien.
Germer: Wie ist Deine Mannheimer Installation aufgebaut?
Huber: Momentan sieht es so aus, daß ich den Kubus völlig
schließen und zu einer black box machen will, zu einem Modell für
das geschlossen operierende Gehirn. Völlig dunkel, kein Zugang. Es
ist von außen nur durch zwei kleine Gucklöcher, wahrscheinlich
Türspione oder die Sucheroptik einer billigen Kamera zugänglich.
Und drin wird mit Hilfe eines umgebauten Projektors, der mit Blitzen operiert,
auf einer mit Nachleuchtpigmenten beschichteten Fläche ein Bild projiziert,
das kurze Zeit nachleuchten soll. Also die Gedankenspur eines Geistesblitzes.
Aber es ist noch nicht klar, ob sich das technisch so realisieren läßt.
Wenn das erste Bild praktisch gerade am Verschwinden ist, soll dann schon
das nächste kommen. Und das ist für mich praktisch ein Modell
für einen technischen Belebungsvorgang, der von der Maschine kommt,
der überhaupt nichts mit irgendetwas ¯ sagen wir mal ¯ Handarbeitlichem
oder Handwerklichem zu tun hat. Hinzukommt wahrscheinlich noch, was ich
allerdings noch nicht so genau weiß, das muß ich testen, eine
Toninstallation, die irgendetwas mit Atmung, Herzschlag, Blitzschlag zu
tun hat. Der Atemrhythmus hat ja etwas ungeheuer Sexuelles, was Erotisches.
Und diese Beatmung als Eingebung des Lebens, als Zeugungsvorgang, der soll
also hörbar sein. Auf der einen Seite hast Du diese kalte, visuelle
Maschine, -das Gehirn- und auf der anderen Seite die warme, akustische Sexualität
-den Körper. Und das bewußt als zwei verschiedene - sagen wir
mal ruhig ¯ gegeneinander arbeitende Bereiche, so daß irgendwie
ein komischer Hybrid aus Atmung und Maschine entsteht.
Germer: Wieso diese metaphorische Handlungsweise? Ich frage deshalb,
weil in Deinem Text zu diesem Projekt sagst Du ja: mich interessiert vor
allem die Situation vor der Kunst, neben der Kunst, hinter der Kunst. Also
der Moment oder die Zeitspanne, in der sich flüchtige Gedankenspuren
kondensieren, die auch in das Medium eintreten, aber noch nicht Kunst sind.
Das "Noch nicht Kunst Sein" ist ja eine institutionelle Zuschreibung
...
Huber: ... also wo die Grenze zur Kunst beginnt.
Germer: Richtig. Also, d. h. ob etwas als Krickelkrackel, als erster
genialer Entwurf, als entscheidende Idee gesehen wird, ist ja immer die
Frage, wo ein solches Medium dann rezipiert wird.
Huber: Und wie es rezipiert wird.
Germer: Richtig. Interessiert Dich für diese Mannheimer Arbeit der
institutionelle Kontext nicht oder warum hast Du ihn ausgeblendet?
Huber: Also, jetzt müßte ich nachfragen, was Du mit institutionellem
Kontext genau meinst.
Germer: Wenn ich mich für Zeichnung interessiere, wenn ich mich
für prima idea interessiere, das sind ja alles durchaus datierbare
Momente ¯ kunsthistorisch gesehen, die an eine bestimmte Geschichte
des Sehens, an eine bestimmte Geschichte des Sammelns, des Blickens usw.
gebunden sind. Das meine ich damit. Wenn wir sagen, der Anfang ist immer
konstruiert, dann gibt es natürlich Institutionen, die bestimmte Dinge
als das Anfängliche eingrenzen oder aussondern. Und d. h. für
mich wäre eben bei der Frage prima idea, eigentlich die Frage zunächst
mal danach zu stellen, was sind eigentlich die Mechanismen, die sagen: dieses
Blatt mit Handzeichnungen ist der Anfang und nicht etwa - was weiß
ich ¯ die ausgeführte Version mit Ölfarbe.
Huber: Du sprichst jetzt über Konventionen, die innerhalb bestimmter
klassischer Verständnisweisen von Kunst bestimmten Dingen einen Anfangsgehalt
zusprechen und bestimmten anderen Dingen dann eine Endgestalt geben.
Germer: So, wie Du die Mannheimer Arbeit jetzt beschrieben hast, machst
Du ja eine doppelte Metapher von Anfänglichkeit.
Huber: Ja. Und Vergänglichkeit ...
Germer: Du hast das Verglimmen und Du hast das Atmen, beides sind metaphorische
Formen, mit Anfänglichkeit umzugehen.
Huber: Genau. Richtig.
Germer: Warum hat Dich nicht interessiert, in einem solchen Zusammenhang
das zu thematisieren, das Umfeld, in dem solche Formen von Anfänglichkeit
intensiv werden. Konkreter gefragt: spielst Du nicht ein Spiel aus Vorgegebenem.
Es wird Dir vorgegeben zu sagen: prima idea. Du schaffst eine Metapher für
prima idea.
Huber: Ich bin von der Ausstellungsthematik so stark angeregt und fasziniert
worden, daß automatisch dieses Bild in mir entstanden ist und sich
das entwickelt hat. So daß ich irgendwie einfach davon abgesehen habe,
die institutionelle oder kulturelle Einbettung dieser Thematik in das Kunstsystem
selbst zu thematisieren, dieses konventionelle System von Anfang, Ausführung
und Beendung selbst zum Thema einer Arbeit zu machen, also sozusagen eine
Metakritik der Inspirationstheorien oder sowas zu liefern. Das hat mich
in dem Fall nicht interessiert. Denn die erste Idee, die ich hatte, die
erschien mir so verlockend, daß ich sie unbedingt realisieren wollte.
Sie gefiel mir einfach. Und ich will sie dann nicht nur vor meinem inneren
Auge sehen, sondern ich will sie dann wirklich in der Realität sehen,
wie sie funktioniert. Ich gebe Dir natürlich völlig recht, daß
ich damit keine institutionellen Rahmenbedingungen thematisiere oder in
Frage stelle.
Germer: Aber auch auf Deine eigene Rolle gewandt, mußt Du ja doch dem Kunsthistoriker, der sagen kann, eine Anfangsästhetik gibt es in dem Moment oder eine Begeisterung für den Anfang gibt es in dem Moment, wo man von einer mimetischen zu einer Ausdrucksästhetik übergeht, den Mund zuhalten, um Dir als Künstler die Möglichkeit zu geben, diesen Moment des Anfangs zu leben.
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Huber: Dieses Verhältnis interessiert Dich. Da fragen mich alle
Leute danach, wie das geht. Ich weiß es auch nicht so genau. Einmal
ist es natürlich ein völlig integrales Verhältnis. Es ist
beides eines. Es sind nicht zwei verschiedene Dinge. Sondern nur im Denken
erscheinen sie als etwas verschiedenes. D. h. mit dem selben Hirn, mit dem
ich systemtheoretische Texte schreibe, mit dem entwickle ich auch meine
Werke. Umgekehrt schreibe ich auch mit den Händen, mit denen ich Latten
säge, Leinwände grundiere oder zeichne. Und insofern ist das schon
eins und dasselbe. Ich kann es vielleicht nur so beantworten: ich selbst
habe ja keinen so guten Zugang zu den verschiedenen Facetten meiner eigenen
Person. Aber ich stelle jedenfalls immer wieder erstaunt fest, daß
mir dieses ganze Wissen, dieser ganze systemtheoretische Überbau oder
das ganze kunsttheoretische Wissen in den meisten Phasen der künstlerischen
Arbeit eigentlich nichts nutzt. Sondern ich bin sozusagen in dem Moment,
indem ich arbeite, völlig hilflos und völlig meinem Material ausgeliefert.
Der einzige Moment, der mir nutzt, ist der der kritischen Reflexion, in
der ich versuche, mein eigenes Werk streng aus der Perspektive eines Betrachters
zu sehen. In der künstlerischen Arbeit bin ich dem Material, dem Prozeß
vollkommen hilflos ausgeliefert. Das ist ein Prozeß, der auch Angst
macht, denn jedesmal, wenn ich neu anfangen will, könnte alles weg
sein. Ich könnte nie wieder in der Lage sein, etwas zu malen oder etwas
künstlerisch zu machen. Diese Angst habe ich permanent. Jedesmal, wenn
ich irgendetwas anfange, habe ich immer die Angst: kann ich noch oder ist
es weg? Und ich bin dann immer wieder froh, daß es doch noch geht.
Germer: Gibt es die Angst beim Schreiben nicht?
Huber: Da ist genau dieselbe Angst da. Kann ich jetzt überhaupt
noch was schreiben, kriege ich überhaupt noch was hin, oder ist alles
weg? Und dann fängt es entweder an und es geht, es läuft sehr
gut, es läuft gut, oder es läuft schlecht. Also, diese Möglichkeiten
gibt es immer. Aber, irgendwie, sagen wir mal, je länger ich lebe oder
je länger ich Erfahrungen mit mir selbst als Person mache, habe ich
vielleicht auch mehr Vertrauen in die Sache, daß es irgendwie doch
weitergeht.
Germer: Läßt sich die Angst theoretisieren? Nicht im Sinne
von wegerklären, sondern in dem Sinne, um damit Schwachstellen der
Theorie zu markieren. Sie scheint etwas zu sein, was innerhalb einer Theorie,
die sozusagen immer davon ausgeht: es geht immer weiter, und sozusagen es
wird immer angestückt, nicht vorkommt. Könnte man aus dieser Angst
zum Beispiel eine Kritik des systemtheoretischen Ansatzes entwickeln?
Huber: Also, das wäre eine wunderbare Idee. Ich denke sowieso ¯
und das wird ja eigentlich nie recht deutlich, bei allem, was ich schreibe
¯ daß ich das, was ich gedanklich oder theoretisch formuliere,
immer nur als eine Krücke, als ein Hilfsmittel, als eine Unterstützung
verstehe. Aber wichtig ist mir der Gedanke, daß man, um wirklich selbst
gehen zu können, die Krücken irgendwann einmal wegwerfen muß
und sozusagen alleine laufen muß, ohne Hilfestellung durch die Theorie.
Für mich wird Systemtheorie erst da künstlerisch interessant,
wo ich ein Stück mit ihr gegangen bin und wo ich sie verlassen kann.
Für mich ist der Punkt interessant, wo mich die Systemtheorie in Schwung
gebracht hat und ich nun die ersten Schritte selbst gehe, ohne Unterstützung
durch die Systemtheorie. Mich interessiert also genau der Punkt, wo die
Systemtheorie nichts mehr taugt, wo sie nicht mehr funktioniert. Dazu muß
man aber den theoretischen Apparat so ausdifferenzieren und ausentwickeln,
daß man seine Grenzen deutlich erkennen kann, daß man den Punkt
erkennen kann, wo das systemtheoretische Denken scheitert. Der Begriff des
Scheiterns, der Begriff der Resistenz, spielt eine ganz zentrale Rolle in
meinem Denken. Jede Kunst ist zum Scheitern verurteilt. Nur in den Momenten,
wo wir scheitern, erkennen wir die Realität. Das Scheitern sagt uns
etwas darüber, wie die Dinge sind. Der Konstruktivismus, insbesondere
in der Gestalt von Ernst von Glasersfeld, hat für die Erkenntnis der
Wirklichkeit den Begriff der Viabilität entwickelt. Wenn der Schlüssel
paßt, dann paßt er, und man braucht keine Erklärung, warum
er paßt. Ich glaube, daß das nur die eine Seite der Münze
ist. Denn der Begriff der Viabilität, der Brauchbarkeit und Nützlichkeit
von Konstruktionen, unterschlägt die andere Seite, die des Nicht-Passens,
des Nicht-Funktionierens, des Nicht-Gehens, des Scheiterns. Und das ist
eine der ganz grundlegenden Elemente künstlerischer Erfahrung, und
komischerweise spricht kein Künstler von diesem Scheitern. Aber ich
habe viele darauf angesprochen, und dann kamen sie raus damit, daß
das auch für sie ein wesentlicher Moment in ihrer Arbeit ist. Heute
würde ich sagen, die Kunst ist im Prinzip ein einziges Scheitern. Und
nur aus der Dialektik von Scheitern und Gelingen, von Resistenz und Viabilität,
die beides immer Überraschungen sind, erkennen wir die Welt. Deswegen
muß man mit seinen Händen arbeiten, um die Welt erkennen zu können.
Das Denken allein sagt nichts über die Welt, wie sie ist, aus. Wenn
ich mit verschiedenen Medien arbeite, interessiert mich die Frage, was man
damit machen kann, eigentlich nur sekundär. Die Frage nach den Grenzen
des jeweiligen Mediums, was man nicht damit machen kann, interessiert mich
viel mehr. Ich benutze Medien in erster Linie, um herauszufinden, wo ihre
Grenzen sind, was man nicht mehr damit machen kann. Mich interessiert die
Resistenz des Mediums, der Punkt, wo das Machbare scheitert, ja notwendigerweise
scheitern muß. Mich interessieren die Grenzen mehr als die Möglichkeiten
eines Mediums.
Germer: Weil Du nicht sagen kannst, wo die Grenzen des Mediums liegen,
experimentierst Du?
Huber: Ja.
Germer: Führt nicht das Experimentieren, als permanente Negation
des Konventionellen, als permanentes Verstoßen gegen die Erwartungshaltung
Dich wiederum in eine Fixierung rein, die immer die Negation dessen ist,
was erwartet worden ist, usw. ?
Huber: Nein. Denn die Negation von Konventionen ist ein rein begriffliches Problem. Es stellt sich folglich beim künstlerischen Arbeiten überhaupt nicht, sondern da stellen sich einfache Probleme in der Herstellung, in der Ausführung ein. Das sind ja keine begrifflichen Probleme. Wenn ich sage, daß mich die Grenze eines Mediums interessiert, dann ist das eine begriffliche Reflexion. Wenn ich dagegen im Arbeitsprozeß selbst stecke,
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merke ich nur, daß an bestimmten Teilbereichen, an bestimmten Ecken
und Enden Probleme auftreten. Und erst in dem Auftreten der Probleme entdecke
ich ja sozusagen erst die Grenzen des Mediums. Entweder kann ich die Probleme,
die auftreten, lösen, dann war es meine eigene Unfähigkeit, dann
ist es weiterhin machbar oder die Probleme lassen sich nicht lösen
und ich stoße an eine strukturelle Grenze. Mich interessieren die
Bedingungen und Möglichkeiten, die in der Benutzung dieses Mediums
selbst liegen, nicht die Negation von Erwartungshaltungen.
Germer: Du wechselst ja ziemlich häufig zwischen den Medien?
Huber: Ja, ständig.
Germer: Ist das Teil des Testes der Grenzen?
Huber: Ja, würde ich so sehen. Ja.
Germer: Gibt es von dem Versuch abgesehen, die Grenzen eines Mediums
zu testen, etwas, was die Arbeit in unterschiedlichen Medien verbindet?
Huber: Ja, das habe ich mich auch immer gefragt. Aber ich habe darauf
keine befriedigende Antwort gefunden. Das ist genauso, wie wenn ich Dich
fragen würde, was verbindet alle Deine Aufsätze miteinander. Thierry
de Duve hat dies in seinem neuen Buch "Kant nach Duchamp" hervorragend
beantwortet, indem er auf die Frage, welche Eigenschaft alle Kunstwerke
miteinander verbindet, gesagt hat, es gibt keine einzige, gemeinsame Eigenschaft,
die alle Kunstwerke miteinander verbindet, außer der, daß sie
alle den Eigennamen "Kunst" tragen.
Germer: Gut, wenn es also keine Wesensgemeinschaft gibt, die alle Werke
zusammenhält, so könnte es ja doch taktische Interessen geben.
Auch wenn man kein uvre anstrebt, entwickelt sich ja sowas wie Präokkupationen,
die einen beschäftigen, die wiederkehren und so weiter. Könntest
Du da was benennen?
Huber: Erstaunlicherweise sind diese Themen ziemlich konstant. Da muß
ich zurückgehen in meine früheste Jugend. Ich habe mich ab meinem
sechzehnten Lebensjahr sehr stark für Philosophie interessiert, für
Soziologie und auch für Stadtplanung. In dem Rahmen tauchten relativ
früh Fragen auf, wie: Was ist Wirklichkeit? Was ist Wahrnehmung? Was
ist der Mensch? Und diese Fragen beschäftigen mich heute auch noch.
In ganz allgemeinem Sinne. Die Frage, was ist Kunst, ist eigentlich erst
sekundär entstanden. Erst als ein Problem an der Akademie. Als mir
nämlich keiner erklären konnte, was ich also tun muß in
der Klasse, damit das, was ich mache, Kunst wird. Das konnte mir kein Mensch
sagen. Daraus ist natürlich abgeleitet die Frage entstanden: was ist
Kunst? Die hängt aber wiederum mit den anderen Fragen zusammen: Was
ist der Mensch? Was ist Wirklichkeit? Was ist Wahrnehmung? Und das würde
ich sagen, das sind die drei großen Konstanten, die mich immer beschäftigt
haben, seit ich denken kann.
Germer: Nun ist das sehr groß ¯ sagen wir mal so: So wie Du
es beschreibst, sind es philosophische Fragen.
Huber: Nicht unbedingt. Es sind keine rein philosophischen Fragen, es
sind eher anthropologische Fragen nach dem Leben, dem Zustand der Welt,
der Möglichkeit von Erkenntnis, usw.
Germer: Wie würdest Du sie, wenn Du sie jetzt mal reformulieren
müßtest, als künstlerische Fragen formulieren. D. h. Wahrnehmung,
Mensch, Kunst, wenn ich jetzt mal die großen Begriffe nehme, kommen
ja in dieser Form in der künstlerischen Produktion nicht vor.
Huber: Doch. Das ist ja das Überraschende: Sie sind immer drin.
Sie sind im Kunstwerk eine Einheit. Diese Fragen spalten sich ja sozusagen
nur dann auf, wenn ich ein begriffliches Medium wie die Sprache verwende.
Wenn ich ein Bild male, wie dieses monochrome Bild hier, dann ist alles
drin. Dann ist da eine Antwort auf die Frage drin, was der Mensch ist. Es
ist eine Antwort drin, was Wirklichkeit ist. Und es ist eine Antwort auf
die Frage drin, was Wahrnehmung ist. Und das ist in jedem Kunstwerk so.
Germer: Das will ich von Dir schon genauer wissen ... wo ist das drin?
Huber: Normalerweise würde man in einer schlichten konstruktivistischen
Manier sagen: Gut, das sind alles Konventionen, das sind Konstruktionen,
die ein bestimmter Beobachter anhand dieser bestimmten, kulturell geformten
Gegenstände formuliert. Das sind Fragen, die ein Beobachter an bestimmte
Gegenstände stellt und die er sich sozusagen selbst beantwortet. Das
ist diese fundamentale Zirkularität. Das heißt, wenn ich sage:
sie sind drin, dann heißt das, daß ich die Antwort, die ich
selbst gebe als Beobachter, nach außen projiziere und sie als eine
Eigenschaft dem Gegenstand zuschreibe und sie nicht mehr als ein Resultat
meiner Fragen oder Beobachtungen wahrnehme. Das muß ich aber, denn
sonst kann ich nicht erklären, was der Unterschied zwischen Kitsch
und großer Kunst ist. D. h. bei großer Kunst muß der Gegenstand
selbst in der Art und Weise, wie er einen Widerstand gegen die eigenen Projektionen
des Verstandes bildet, eine Eigenschaft besitzen, die diesen Widerstand
sichtbar werden läßt Und genau an diesem Widerstand, an dieser
Resistenz der Oberfläche zeigt sich eben der Unterschied zwischen Kitsch
und Kunst.
Germer: Besteht nicht der Witz einer solchen Arbeit, wenn sie als Kunst
Sinn haben soll, darin, sich dieser Art von Begrifflichkeit gerade zu verweigern,
also gerade nicht in einem metaphysischen oder konstruktivistischen System
aufzugehen?
Huber: Völlig richtig. Genau das ist es ja, was ich mit dem Begriff
der Resistenz kennzeichnen will. Eben das Nicht-Aufgehen, das Nicht-Sich-Abrundenlassen
in einer begrifflichen Modellierung. Dieser Rest, der übrig bleibt,
wenn alles gesagt und getan ist und die Bücher zugeklappt werden, und
die Bilder sind immer noch da, der ist exakt das Spezifische an der Kunst,
das, was sich nicht reduzieren läßt. Das ist genau der Widerstand,
den Dir die Bilder entgegensetzen. Du kannst ja an Kunst rauf und runter
schreiben, was Du willst, und die Bilder überleben das mühelos.
Keines geht an einem schlechten Text zuschanden. Die Ohnmacht der Kunst
ist in diesem Sinne ihre größte Kraft.
designed by Hans Dieter Huber