Interkontextualität und künstlerische Kompetenz. Eine kritische Auseinandersetzung


First Installation: 02.09.2000 Last update: 02.09.2000


Interkontextualität

Die Vorsilbe "Inter-" hat gegenwärtig große Konjunktur. Von Intertextualität über Intermedialität und Interorganisationssysteme bis hin zu Interkontextualität reicht die Spannweite. Da die Definitionsschwierigkeiten bei ähnlich gelagerten Begriffen wie Intertextualtiät oder Intermedialität enorm sind, soll in diesem Beitrag die Chance genutzt werden, eine möglichst genaue Definition der Begriffe Interkontextualität und Kompetenz zu geben.

Aber zunächst zum semantischen Feld dieses neuen Kunstwortes. "Inter" bedeutet soviel wie zwischen, mitten, hin und wieder, inmitten, unter. Es kann sowohl räumlich als auch zeitlich gebraucht werden. Semantisch hängt der Begriff Interkontextualität eng mit den Begriffen Intermedialität und Intertextualität zusammen. Der Begriff der Intertextualität ist der historisch ältere. Er wurde 1966 von der französischen Sprachwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva in ihrer Auseinandersetzung mit dem russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin und seinem Konzept der Dialogizität formuliert. Später rückte Kristeva allerdings wieder von diesem Begriff ab und ersetzte ihn durch den Begriff der Transposition. So schreibt sie in die Die Revolution der poetischen Sprache.

"Der Terminus Intertextualität bezeichnet eine solche Transposition eines Zeichensystems (oder mehrere) in ein anderes: doch wurde der Terminus häufig in dem banalen Sinne von Quellenkritik verstanden, weswegen wir ihm den der Transposition vorziehen; ..."

Während Intertextualität die Beziehung zwischen verschiedenen Texten meint, Intermedialität die Beziehung zwischen verschiedenen Medien, sollte der Begriff Interkontextualität analog dazu aufgefasst werden, nämlich als die Beziehung zwischen verschiedenen Kontexten. Es stellt sich dann die Frage, wie man diese Beziehung beobachten kann. Um die Art der Relation besser verstehen zu können, ist es sinnvoll, den hier zugrundeliegenden Begriff des Kontextes näher zu erläutern. Kontexte sind einfach gesagt, Rahmenbedingungen, Umfelder oder Zusammenhänge. Sie bilden Verhältnisse, in die z.B. ein Text, eine Performance oder ein Musikstück von einem Beobachter eingebettet werden. Kontexte können aber auch zeitlich oder diskursiv aufgefasst werden. Deutlich wird dabei, daß es nicht einen einzigen, für immer feststehenden Kontext eines Werkes gibt, sondern viele verschiedene, räumliche, zeitliche oder diskursive Kontexte, in denen ein Werk stehen und in denen es erscheinen kann. Die Präsenz eines Textes, einer Performance oder eines Musikstückes ist immer relativ zu einem Kontext, zu dem es von einem Beobachter in Beziehung gesetzt wird. Entscheidend ist, daß es immer irgendeinen Kontext geben wird. Ein Werk kann nicht ohne jeglichen Kontext beobachtet werden.

Über die jeweiligen Kontexte, in die ein Werk wie eine Musikaufführung, ein Bild oder eine Performance gesetzt werden kann, entscheidet immer der Beobachter. Im Prinzip gibt es soviel verschiedene Kontexte, wie ein Beobachter in der Lage ist, für sich herzustellen. Er entscheidet durch seine spezifische Art der Kontextualisierung darüber, in welchen Kontext er ein Werk einbetten möchte. In jeder neuen Kontextualisierung, die eine explizite oder implizite Inbeziehungssetzung ist, also das Resultat von Unterscheidungen und Bezeichnungen eines Beobachters, werden andere Eigenschaften und Bedeutungen des Werkes thematisiert und können auf diese Weise beobachtet werden. Interkontextualität ist also die Frage nach dem Beziehungen zwischen verschiedenen Kontexten.

Wenn unterschiedliche Kontexte miteinander interagieren, werden sie dadurch in ihrer Bedeutung verändert. Nur in einem interkontextuellen Blickwinkel werden die Eigenschaften unterschiedlicher Kontexte beobachtbar und bedeutungsmäßig erfassbar. Während bei Intertextualität der Blick auf einzelne Texte oder Werke gelegt wird und die Frage nach ihren Interaktionen mit anderen Texten/Werken gestellt wird, wird im Falle der Interkontextualität die Aufmerksamkeit auf einzelne Kontexte gelegt und auf ihre Beziehungen zu anderen Kontexten. So macht es zum Beispiel für die Kontextualisierung eines Kunstwerkes einen bedeutenden Unterschied aus, ob ich es als Beobachter in den ökonomischen Kontext des Kunstmarktes mit Preisbildung, Angebot und Nachfrage situiere oder in den angeblich "neutralen" Kontext des wide white space und seinen Bedingungen. Wenn aber das Werk ausgeblendet wird und der ökonomische Kontext mit dem Ausstellungskontext direkt in Interaktion miteinander treten, erhellen sie sich gegenseitig und geben wechselseitig neue Bedeutungsbeziehungen frei. Das könnte meiner Meinung nach der Kerngedanke von Interkontextualität sein. Jeder Kontext ist Teil einer Kette von endlosen Kontexten. Jeder neu von einem Beobachter unterschiedene Kontext wird in ein immer schon im voraus bestehendes Universum bereits existierender Kontexte eingeschrieben.

 

Kompetenz

Eine ganz andere Begriffskarriere hat dagegen der Begriff der Kompetenz hinter sich. Der lateinische Begriff competentia stammt von dem Verb competere ab: zusammentreffen, aber auch zukommen, zustehen. Die römischen Rechtsgelehrten gebrauchten nur das Adjektiv competens im Sinne von zuständig, befugt, rechtmäßig, ordentlich. Seit dem 13. Jahrhundert bezeichnet competentia die jemandem zustehenden Einkünfte, den notwendigen Lebensunterhalt, insbesondere den Notbedarf der Kleriker. Im römischen Recht hatte sich das beneficium competentiae als ein Instrument etabliert, dem Schuldner nur soviel Geld abzunehmen, daß ihm sein Existenzminimum zum Lebensunterhalt gewährt bleibt. Bis heute ist das beneficium competentiae in der rechtsprechung die Einrede des Notbedarfs gegenüber Verurteilung und Vollstreckung.

In Johann Heinrich Zedlers Universallexikon von 1753 werden die Begriffe competentia und Competenz mit der heutigen Wortbedeutung in Zusammenhang gebracht. Seit diesem Zeitpunkt sind Kompetenz, Kompetenzstreit und Kompetenzkonflikt mit der Ausdifferenzieung einer modernen, arbeitsteiligen und funktionalen Gesellschaftsorganisation verbunden. Der Kompetenzbegriff wurde in der Folge der Völkerschlacht von Leipzig und der Entstehung der europäischen Nationalstaaten seit etwa 1817 auch im Sinne von Rechten und Pflichten eines Staatsorgans im Deutschen Bundesstaatsrecht verwendet. Im Staatsrecht bedeutet Kompetenz daher die Zuständigkeit oberster Staatsorgane und nachgeordneter Behörden, Anstalten und Körperschaften bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben und der Ausübung hoheitlicher Befugnisse. Verwaltungsrechtlich beschreibt die Kompetenz die Bindung der Behörde an ihre Funktion. Kompetenz ist dabei der zentrale Begriff, der die Beziehungen der Behörden untereinander beschreibt.

in der deutschen Militärsprache des 19. Jahrhunderts bezeichnete Kompetenz nach den Angaben des Handbuch für Heer und Flotte. Enzyklopädie der Kriegswissenschaften und verwandter Gebiete aus dem Jahre 1912, dasjenige, was Teilen oder Angehörigen des Heeres und der Marine an Geld, Naturalien, Unterkunft, Bekleidung, usw. den Vorschriften und Bestimmungen nach gewährt werden mußte. Der Begriff der Kompetenz hat also einerseits Wurzeln im römischen Rechtswesen, andererseits im frühen militärisch-industriellen Komplex des 19. Jahrhunderts. Er beschreibt die Zuständigkeit, die Befugnis oder Rechtmäßigkeit eines Organs, einer Institution oder einer Person wie z. B. eines Richters.

Von dieser juristisch-militärischen Begriffsgeschichte finden sich drei Ableitungen bzw. metaphorische Verwendungsweisen: in der Immunologie, der Motivationspsychologie und der Kommunikationswissenschaft. So versteht man etwa in der Biologie unter Kompetenz die Fähigkeit eines tierischen oder pflanzlichen Organismus, eine bestimmte Entwicklungsreaktion einzuleiten. In der Immunologie beschreibt der Begriff die Fähigkeit bestimmter Zellen des lymphatischen Systems, auf Kontakt mit Antigenen mit der Entwicklung immunologischer Fähigkeiten zu antworten. Hier wird also Kompetenz im Sinne einer latent vorhandenen Fähigkeit verwendet, zu deren Ausprägung oder Entwicklung es entsprechend auslösender Situationen bedarf.

In die Motivationspsychologie wurde der Kompetenzbegriff 1959 von R.W. White eingeführt. Dort bezeichnet das Konzept Ergebnisse von Entwicklungen grundlegender Fähigkeiten, die weder genetisch angeboren noch das Produkt von Reifungsprozeßen sind, sondern vom Individuum selbst hervorgebracht wurden. Das Motiv der optimalen Anpassung an die jeweilige Umgebung und der Wunsch nach Kontrolle über die Umwelt begünstigen die Entwicklung und Ausbildung von Kompetenzen. Kompetenz im Sinne von White ist eine Form von Performanz, die das Individuum aufgrund intrinsisch, d.h. zweckfrei oder von selbst motivierter Interaktion mit seiner Umwelt herausbildet. Theoretisch ist der Kompetenzbegriff von White allerdings bis heute nicht weiterentwickelt worden.

In der Kommunikationswissenschaft ist Kompetenz vor allem von Noam Chomsky 1960 zusammen mit dem Pendantbegriff der Performanz in die linguistische Terminologie eingeführt worden. Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit von Sprechern und Hörern, mit Hilfe eines begrenzten Inventars von Kombinationsregeln und Grundelementen potentiell unendlich viele (auch neue, noch nie gehörte) Sätze bilden und verstehen zu können. So schreibt Chomsky in Aspects of the theory of syntax:

Wir machen somit eine grundlegende Unterscheidung zwischen Kompetenz (das Wissen des Sprecher-Hörers von seiner Sprache) und Performanz (der aktuelle Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen).

Es bezeichnet andererseits aber auch die Fähigkeit, einer potentiell unendlichen Menge von Ausdruckselementen eine ebenso potentiell unendliche Menge von Bedeutungen zuzuordnen. Chomsky stützt sich hierbei u.a. auf Wilhelm von Humboldts Schrift Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues von 1836. Dort heißt es:

"Das Verfahren der Sprache ist aber nicht bloss ein solches, wodurch eine einzelne Erscheinung zustandekommt; es muss derselben zugleich die Möglichkeit eröffnen, eine unbestimmbare Menge solcher Erscheinungen, und unter allen, ihr von dem Gedanken gestellten Bedingungen, hervorzubringen ... [Die Sprache] muss daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen"

Kompetenz im Sinne Chomskys ist die Kenntnis der Sprache, über die Sprecher und Hörer intuitiv verfügen, über die sie aber nur in seltensten Fällen explizit Rechenschaft ablegen können. Sehr ähnlich verhält es sich bei Künstlern, die über ihre künstlerische Kompetenz selten explizit sprachliche Rechenschaft ablegen können. Wenn Performance also eine Sprache ist oder wie eine Sprache funktioniert, dann kann der Performer aus einer endlichen Menge von Grundelementen einen unendlichen Gebrauch machen.

An dieser Stelle haben wir erstmals eine einigermaßen brauchbare Definition für eine mögliche Theorie künstlerischer Kompetenz vorliegen. Künstlerische Kompetenz ist demzufolge ganz allgemein die Fähigkeit, aus einem begrenzten Inventar von Grundelementen, Kombinationsregeln und Medien eine potentiell unendliche Vielfalt von Texten, Werken, Aufführungen und Kontexten zu bilden.

Nun aber stellt sich die Frage nach der Beobachtbarkeit von Kompetenzen. Wie können künstlerische Kompetenzen, wenn sie innere, unbeobachtbare Fähigkeiten, Kenntnisse oder Wissensbestände einer Person sind, öffentlich beobachtet werden? Sie können nur an der tatsächlichen Performanz beobachtet werden. Künstlerische Kompetenz muß also unbedingt durch den Begriff der künstlerischen Performanz ergänzt werden. Anhand der Performanz als einer öffentlich beobachtbaren, prinzipiell jedermann zugänglichen Oberfläche können wir auf die Kompetenz des Künstlers zurückschliessen. Die Zuschreibung von Kompetenz an einen Künstler ist also eine Form von Attribution. Sie geschieht aufgrund eines Urteils des Beobachters. Wir schreiben ihm aufgrund bestimmter, beobachtbarer Verhaltensweisen bestimmte Eigenschaften oder Dispositionen von Kompetenz zu.

Chomskys Kompetenzbegriff ist in der Folge zahlreichen Kritiken und Modifikationen unterworfen worden. Ein Hauptargument lautet, daß eine theoretische Trennung von Kompetenz und Performanz methodisch nicht zufriedenstellend durchgeführt werden kann. Nach Nathan Stemmer hängt eine zufriedenstellende Theorie der Kompetenz in letzer Konsequenz von der jeweiligen Performanz ab, da seiner Ansicht nach die Adäquatheit einer solchen Theorie nur auf der Basis von Performanzen determiniert werden kann. Dieser Einwand weist bereits auf die grundlegenden Schwierigkeiten hin, eine Theorie künstlerischer Kompetenz ohne eine adäquate Theorie künstlerischer Performanz entwickeln zu wollen.

 

Performanz

Der Begriff der Performanz entstand aus der Einsicht heraus, daß Fähigkeiten und Dispositionen von Lebewesen der unmittelbaren Beobachtung unzugänglich seien. Performanzen als aktuelle Handlungen sind dagegen jederzeit öffentlich beobachtbar. Je nach Theorielage tritt dabei der Performanzbegriff in Relation zu verschiedenen Gegenbegriffen. So ist er beispielsweise ein Komplement zum Begriff der Fähigkeit, des Lernens, der Motivation, aber auch zum Begriff der Kompetenz.

Besonders im Rahmen linguistischer Theorien der Sprachkompetenz ist Performanz als Gegenkonzept zu Kompetenz weiterentwickelt worden. So ist nach Fritz Hermanns unter Performanz ein vom Können, der Fähigkeit oder der Sprachbeherrschung unterschiedenes aktuelles Tun zu verstehen (also die konkrete Sprachverwendung). Performanz bezeichnet zweitens die konkrete Anwendung eines bestimmten Mechanismus oder einer bestimmten kulturellen Logik, die wir letztendlich Kompetenz nennen. Performanz ist also die Anwendung und der Gebrauch von Kompetenz. Damit aber enthält eine mögliche Theorie der (künstlerischen) Performanz als die umfassendere Theorie eine mehr oder weniger explizite oder implizite Theorie von Kompetenz als einen ihrer Bestandteile. Das Verhältnis zwischen Kompetenz und Performanz ist dann dasjenige einer Teil-Ganzes-Beziehung. Das Kompetenz-Performanz-Modell wurde in verschiedenen soziologischen bzw. soziolinguistischen Arbeiten in den übergeordenten Rahmen einer Theorie der kommunikativen Kompetenz integriert bzw. erweitert. Dabei wurde der Begriff der Performanz teilweise ganz aufgegeben, wie bei Jürgen Habermas zugunsten des Begriffs des kommunikativen Handelns.

Wenn man die inneren Fähigkeiten einer Person nicht unmittelbar beobachten kann, -und davon können wir ausgehen-, muß man Kompetenz als einen theoretischen Terminus im Rahmen einer spezifischen Theorie über Kompetenz behandeln. Der Kompetenzbegriff ist theorierelativ, d.h. er hat nur innerhalb der spezifischen Konstruktion einer Theorie von Kompetenz eine bestimmte semantische Bedeutung. Außerhalb jeglichen theoretischen Rahmens ist der Kompetenzbegriff dagegen vollkommen bedeutungslos.

 

Modelle

Wenn Kompetenzen erst über Performanzen beobachtbar werden, stellt sich die Frage, durch welche Modelle die abstrakte Theorie künstlerischer Kompetenz empirisch beobachtbar wird. Modelle sind spezifische Interpretationen einer Theorie, die eine anschauliche Brücke zur Peripherie der empirischen Beobachtung herstellen. Einfachstes Beispiel für ein Modell ist das Molekülmodell aus farbigen Holzkugeln und farbigen Stäben, welche die Bindungsverhältnisse kennzeichnen. Aber Moleküle sind weder farbig noch aus Holz und sie sind auch nicht direkt beobachtbar, sondern nur über Modellbildungen, welche die theoretischen Postulate der Theorie veranschaulichen.

Wenn wir nun zur künstlerischen Kompetenz als abstraktem, unbeobachtbarem Terminus zurückkehren und seiner spezifischen Relation zur künstlerischen Performanz, kann man u.U. folgende These formulieren: Künstlerische Performanz veranschaulicht jeweils ein bestimmtes, kontingentes, d.h. immer auch anders mögliches Modell künstlerischer Kompetenz und macht diese potentiell öffentlich beobachtbar. An den spezifischen Formen künsterischer Performanz können wir als externe Beobachter, die keinen epistemischen Zugang zum Inneren einer anderen Person besitzen, modellhaft beobachten, wie sich künstlerische Kompetenz in spezifisch künstlerischen Handlungsformen formuliert.

 

Die Empirie des Performanzbegriffs

Anders dagegen der Performanzbegriff. Performanz ist durchaus empirisch beobachtbar. In den Begriffen Kompetenz und Performanz stehen sich also ein abstrakter, unbeobachtbarer Terminus einer Theorie und ein empirischer Beobachtungsbegriff gegenüber. Künstlerische Performanz läßt sich beispielsweise an Werken, an Personen, an Kontexten und an Präsentationsweisen ablesen. Es umfasst das gesamte Auftreten, das Handeln des Künstlers, seine Präsenz in der Öffentlichkeit, in Interviews, Zeitschriftenartikeln, Katalogen, Monographien, Symposien, Debatten, Reisen und Eröffnungen. Alles das fällt unter die empirisch beobachtbare Basis seiner Performanz. Nun ist die Art und Weise künstlerischer Performanz natürlich von den jeweiligen Kontexten abhängig, in denen der Künstler bzw. sein Werk oder seine mediale Spur auftreten. Je nach Kontext können dabei völlig andere Kompetenzen relevant und kritisch werden. Immer mehr Künstler arbeiten heute in sehr verschiedenen Kontexten. Sie arbeiten also interkontextuell, als Kritiker, Kuratoren, Designer, Theoretiker oder "freie" Künstler.

 

Die Sozialität der Attribution

Künstlerische Performanz ist daher immer auch eine mediale Performanz. Aber es ist nicht einfach nur eine Form von Präsenz. Denn Präsenz wäre eine einfache, schlichte Anwesenheit oder eine einfache öffentliche Sichtbarkeit ohne ein spezifisches Handeln. Performanz ist dagegen immer in irgendeiner Art und Weise an ein spezifisch künstlerisches Handeln gebunden. Und dieses spezifische Handeln ist die öffentlich beobachtbare Basis, von der aus wir einer Person künstlerische Kompetenz attribuieren, d.h. zu - oder absprechen. Künstlerische Performanz zeigt also nur derjenige, der etwas zeigt. Performanz ist deshalb immer öffentlich. Es kann keine private Performanz in der Kunst geben.

Wenn man nun argumentiert, daß künstlerische Kompetenz als eine innere Fähigkeit unbeobachtbar ist und nur anhand künstlerischer Performanz empirisch beobachtet werden kann, verlagert sich die Problematik auf die Person des Beobachters und seine Rolle bei der Attribution von Kompetenz.

An dieser Stelle werden künstlerische Kompetenz und künstlerische Performanz zu ideologisch aufgeladenen Begriffen, die in einem sozialen Machtgefüge von Zuschreibungen und Abschreibungen, von Ausgrenzungen und Eingrenzungen, in denen der jeweilige Beobachter empirisch operiert, erzeugt werden. Ein Beobachter tritt nämlich nicht als passive, unbeschriebene Projektionsfläche der Kunst gegenüber. Die Beobachtung von Kunst ist kein passiver Prozeß von Aufnahme und Rezeption, sondern eine aktive, selektierende, strukturierende und gestaltende Tätigkeit. Sie ist ebenfalls aktuelles Handeln, ebenfalls eine Form von ästhetischer Performanz, könnte man sagen. Der Beobachter tritt mit seiner Beobachterkompetenz, die sehr verschieden von derjenigen des Performers sein kann, an die Werke der Kunst heran. Seine Kompetenz kann aber wiederum nur aufgrund seiner ästhetischen und diskursiven Performanz beobachtet und beurteilt werden.

Zusammenfassend läßt sich also folgendes festhalten: Im Kunstsystem als einem komplexen Sozialsystem begegnen sich verschiedene künstlerische und ästhetische Kompetenzen in Form von unterschiedlichen Performanzen. Die Performanz eines Künstlers in Form seines Werkes und seines Auftretens im weitesten Sinne trifft in einem bestimmten, öffentlich zugänglichen Kontext auf unterschiedliche Beobachtungskompetenzen des Betrachters, die sich wiederum nur in einer Beobachtung zweiter Ordnung, also in einer Beobachtung des Beobachters, beobachten lassen. Jede Form von ästhetischer Kompetenz, sei es auf Seiten eines Künstlers, eines Kritikers, eines Kurators oder eines Laienbesuchers, ist immer schon, von vorneherein, in eine ideologische Konstruktion aus Überzeugungen, Einstellungen, Präferenzen, Werthaltungen, Vorurteilen und Gewohnheiten eingebettet. Interkontextuelle Performanzen treffen im Kunstsystem aufeinander und erzeugen eine typische Dynamik von Bestätigung und Verwerfung, von Annahme und Ablehnung, von Innovation und Tradition. Sie erhält die autopoietische Selbstreproduktion des Kunstsystems in Gange.


Hans Dieter Huber