Hans Dieter Huber
In every Dream Home a Heartache (Roxy Music)
Zu den Fotoarbeiten von Dan Graham

In: Ulrich Bischoff (Hg.): 4x1 im Albertinumn. Dan Graham, Astrid Klein, Wolfgang Koethe, Alf Schuler. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister, 14.12.97 - 22.3.98, S. 8-14

Die Fotoarbeiten von Dan Graham sind die am meisten negierte Werkgruppe des Künstlers. Liegt dies daran, dass sie so offensichtlich sind und jedes Wort zu viel erscheint oder daß ihnen die von Kritikern und Kuratoren so geschätzte technische Perfektion fehlt? In seiner Dissertation über Dan Graham schreibt der Autor Rainer Metzger: "Dan Grahams zeichnerisches und fotografisches Werk sei, der schieren Unübersichtlichkeit wegen, nur am Rande erwähnt. ... Sie in ihrer Gesamtheit aufzulisten ist nicht möglich."(1) Selbst der Ausstellungskatalog Walker Evans & Dan Graham, dem das Verdienst gebürt, sich zum erstenmal auf die Fotoarbeiten Dan Grahams konzentriert zu haben, wenn auch aus einem relativ einseitigen Blickwinkel, befasst sich mit allgemeinen philosophischen Reflexionen statt mit genauer Beobachtung und Beschreibung der Werke. Der Ausstellungskatalog Dan Graham. The Suburban City geht außer im Vorwort überhaupt nicht auf die ausgestellten Fotografien ein, sondern druckt lieber zwei theoretische Texte über Städtebau von Rem Koolhaas und Herzog/De Meuron ab.

 

Beobachtungen

Kunsthistorische Arbeit beginnt stets bei einer genauen und sorgfältigen Auseinandersetzung mit den vorliegenden Werken. Zunächst sollte man die Fotoarbeiten genauestens anschauen und beschreiben, was man sehen kann. Dann kann man gemeinsame Themenstränge herausarbeiten, die sich in den Fotoarbeiten immer wieder auffinden lassen. Der dritte Schritt liegt in einer genauen Untersuchung der Kompositons- und Kombinationsmethode, mit der Dan Graham seine Montagen zusammenstellt. Der vierte klassische, kunsthistorische Schritt ist dann die historische Einbettung der Fotografien in die geistigen Zusammenhänge und Strömungen ihrer Zeit, der späten 60er und frühen siebziger Jahre.

Eines der frühesten Motive besteht in mehreren Aufnahmen von der Eröffnung eines Fast Food Highway Restaurants in Bayonne, New Jersey aus dem Jahre 1967. Es gibt mindestens fünf verschiedene Aufnahmen von diesem Tag. In der wohl bekanntesten Aufnahme sieht man eine Familie mit einem etwa 6-jährigen Sohn auf runden, chromglänzenden Metallhockern mit schwarzer Plastiksitzfläche sitzen und offensichtlich ihren Hamburger verzehren. Die Familie ist sonntäglich gekleidet. Die Mutter trägt weisse Stöckelschuhe, einen scharlachroten Mantel mit schwarzem Pelzimitat und einer gelben Fliege im Haar. Auf der Rückseite ihres Mantels zeichnet sich der Lichtreflex eines Fensters ab. Der Vater trägt einen dunkelgrauen Anzug mit zu kurzen Hosenbeinen, braunen Socken und schwarzen Halbschuhen. Der Junge trägt eine ockerbraune Hose und ein relativ neues, schwarzweißkariertes Tweedjacket. Vor ihm liegt das auseinandergebreitete Packpapier eines Hamburgers. Er wirkt gedankenversunken und mit sich selbst beschäftigt. Er nimmt seine Umwelt nicht wahr. Der Vater blickt gedankenversunken aus dem Fenster hinaus wie in ein Aquarium und hat seine Aufmersamkeit von sich selbst weg auf die Außenwelt verlagert. Die Mutter nimmt eine unbestimmte und unentscheidbare Zwischenhaltung ein zwischen Gedankenversunkenheit und Aufmerksamkeit für die Außenwelt. Die Wandverkleidung unterhalb der rotlackierten Tischfläche besteht aus abwaschbarem Dekorlaminat mit Marmormusterung. Die verchromten Hocker sind durch ein schräg nach unten führendes Vierkantrohr in einer Aluminiumbodenleiste mit rundem Wulst, auf dem man seine Füße abstellen kann, am Fußboden befestigt. Der Blick nach draußen in das menschenleere Aquarium eines vorstädtischen Monotopia läßt die Trauer und Tristesse über die Verödung der Vorstädte trotz sonnigem Sonntagvormittag deutlich werden. Darüber befindet sich eine zweite Aufnahme

Die Familie schlingt ihr Fast Food hinunter. Statt zum Gottesdienst geht sie zur Highway Restauranteröffnung und sieht sich ihre eigene triste Wirklichkeit im Cinemascope Breitwandformat an. In dieser, einer der ersten Fotografien des 25-jährigen Dan Graham, sind bereits wesentliche Momente und Motive seiner Kunst versammelt: Das Interesse für die sozialen Beziehungen von Menschen zu ihrer Umgebung, die vor allem eine Umgebung aus schäbiger, anonymer Spekulationsarchitektur ist; das Verhältnis zwischen Innen- und Außenräumen, zwischen Privatheit, Öffentlichkeit und ihren Grenzen und Schnittstellen, den Bürgersteigen und Fenstern; die perverse Umkehrung durch scheinöffentliche Atrien, sowie das Interesse für Serialität und Spiegelungen.

Über das soeben beschriebene Foto hat Graham eine zweite Aufnahme desselben Raumes montiert. Sie gibt wahrscheinlich das links von der Familie gelegene Fenster wieder. Der Raum ist menschenleer und nur mit Resten ihrer Präsenz versehen. Auf der roten Ablagefläche steht in der Mitte ein flacher, runder Aschenbecher, im rechten Teil liegt ein zusammengeknülltes Hamburger-Papier, daneben eine angebissene Frühlingsrolle auf einem Pappteller. Der Blick des Betrachters fällt durch das "Schau"-Fenster auf den Parkplatz, auf dem in der rechten Ecke die Heckpartie einer geparkten Limousine zu erkennen ist. Man ist mit dem Auto gekommen und nicht zu Fuß. Links erkennt man einen großen Abfalleimer sowie zwei gelbe Telefonzellen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse fällt der Blick auf ein weisses Ölfaß, das als Straßenrandmarkierung dient, eine Einmündung sowie die Brandmauer eines mehrstöckigen Gebäudes mit weissem Giebel. Im Schatten des Niemandslandes hängt weisse Wäsche auf einer Leine. Im Hintergrund stehen zwei Personen, die in Richtung des Restaurants blicken. Man erkennt zwei Telegraphenmasten aus Holz, eine Reihe wild geparkter Autos sowie die Zeile eines einfachen Reihenhauses oder Bürogebäudes. Blickt man wieder auf die Oberfläche des Schaufensters zurück, erkennt man eine leichte Spiegelung, in der sich Dan Graham selbst (und jeder andere Betrachter auch, der an diesem Ort stehen würde und durch das Fenster blicken würde) in Umrissen abbildet sowie ein hinter ihm liegendes Fenster mit zahlreichen perspektivisch fluchtenden Telegraphenmasten, die wiederum auf die Existenz einer Strasse schliessen lassen. So verschmilzt der Innenraum mit der Außenwelt und deren Spiegelung in der Oberfläche des "Schau"-Fensters.

Dies kann als Beispiel und als Anregung zu genauem Hinsehen genügen. Im Prinzip müßte man diese Art der Beobachtung bei allen Fotoarbeiten Grahams auf eine gleich sorgfältige Art und Weise durchführen. Erst dann würde sich etwas von ihrer visuellen Botschaft erschliessen. Alles andere ist dagegen nur oberflächliches Blicken. Richtiges und intensives Schauen braucht Zeit und Geduld. Dafür wird man durch den Reichtum dessen, was man dann zu sehen bekommt, entlohnt.

 

Themen

Jean Francois Chevrier hat im Katalog Walker Evans & Dan Graham 1993 versucht, die Fotoarbeiten Grahams in vier Gruppen einzuteilen: 'Homes for America', 'Häuser und Menschen', 'Die Stadt' und 'Interieurs und Ornamente'. Diese Einteilung ist jedoch oberflächlich und den Arbeiten äußerlich. Stattdessen erscheint es angemessener, aus induktive Weise verschiedene Themenstränge aus den Fotoarbeiten selbst herauszufiltern, die als verallgemeinerbare Leitlinie für weitere Unterscheidungen dienen können. Ein wichtiges Thema der frühen Fotoarbeiten der 60er Jahre ist die Serialität, die Wiederholung gleicher Motive bzw. die Permutation verschiedener Varianten.(2 ) Man kann dies beispielsweise an der Fotoarbeit Trucks, New York City 1966 sehr gut erkennen.(3) Dieses Interesse rückt Dan Graham in die Nähe zu Sol Lewitt und Donald Judd, mit denen er in diesem Jahren befreundet war und die sich ebenfalls mit mehr oder weniger systematischen Permutationen von kubischen Grundelementen auseinandergesetzt haben.(4) Ein weiteres, wichtiges Motiv seiner Fotoarbeiten ist die Spiegelung, die auf eine Oberfläche gleichzeitig das Dahinterliegende und das Davorliegende abbildet und auf komplexe Weise überlagert.(5) In Two Way Mirror Office Building, Rotterdam 1975 wird die Umgebung auf die Oberfläche des Bürogebäudes projiziert. Auf diese Weise entsteht ein Bild, eine Abbildung. Die Grenze zwischen Innen und Außenraum, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Ich und dem Anderen wird in der Spiegelung aufgelöst und zu einem Bild der Welt. Das Thema der Spiegelung spielt in späteren Jahren dann eine zentrale Rolle in Grahams Performances und Pavillons. Die Spiegelung hat eine wesentliche Funktion für die Selbsterfahrung des Betrachters, der sich in der Spiegelung selbst in Beziehung zu seiner Umwelt erkennt.(6) Wenn man die Fotoarbeiten Grahams etwas salopp als "Spiegelung der bestehenden Verhältnisse" interpretiert, dann müßte der Betrachter sich eigentlich selbst darin erkennen und sich in seiner eigenen geistigen Vorstadtideologie beobachtet fühlen.

Ein weiteres, wichtiges Thema im fotografischen Werk Dan Grahams bilden Durchblicke und Übergänge zwischen Innen und Außen, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. (Vorhänge, Türen, Durchgänge, Fenster) Graham thematisiert die Grenze bzw. die Übergänglichkeit architektonischer und sozialer Zonen und Bereiche. Der Soziologe Hans Paul Bahrdt bemerkte zu dieser Verwischung der Grenzen:"Ist erst einmal die Aufteilung der Lebensbereiche in eine private und eine öffentiche Sphäre sehr weit fortgeschritten und nehmen die früher beherrschenden >dritten< Bereiche, die weder öffentlich noch privat sind, nur noch einen schmalen Raum ein, dann untergräbt eine Schwächung der Öffentlichkeit die private Welt und umgekehrt."(7) Hinzukommen immer wiederMenschen in ihren Beziehung zu architektonischen Situationen. Sie treten vorwiegend in öffentlichen und halböffentlichen Räumen wie Restaurants, Corporate Arcadias(8), im Freien auf industriell vorgefertigten Spielgeräten und Sitzmöbeln sowie auf Bürgersteigen auf.

Eine nicht zu unterschätzende Thematik seiner Fotoarbeiten liegt in der Darstellung von Oberflächen. Allerdings interessieren ihn eher solche Oberflächen, die andere Oberflächen vortäuschen wie gemusterte Tapeten, Backsteinfassaden, die in Wirklichkeit nur flach applizierte Klinkerkacheln sind; Schindeln aus Dachpappe, die Schiefer imitieren, applizierte Granitplatten, die massives Bruchsteinmauerwerk vortäuschen(9), Gummiplatten ,die ein Steinplattenpflaster nachahmen. Allen diesen gefakten Dekoroberflächen ist gemeinsam, daß sie nicht sie selbst sind und nicht sich selbst meinen, sondern immer eine andere Oberfläche repräsentieren: Gummiplatten repräsentieren Stein, Resopal repräsentiert Marmor, Kachel repräsentiert Ziegel, Tapete repräsentiert Brokat. in dieser Repräsentationsfunktion symbolisieren die Oberflächen bestimmte Ideologien der Dekoration: die mittelalterliche Burg aus "massivem" Bruchsteinmauerwerk, die bürgerliche Backsteinarchitektur des goldenden Zeitalters Hollands im 17. Jahrhunderts, venezianische Renaissancepaläste mit Stoffbespannungen.(10 )

In einer Fotoarbeit mit dem Titel People in Highway Restaurant, First Day of Opening, Bayonne, New Jersey 1969 Bottom: Hallway 'Model Home', Staten Island, New York City 1967 sieht man die vier gedrechselten Säulen des Salomonischen Tempels, die von einem Rundbogen gekrönt werden.(11) Dazwischen befindet sich ein Spiegel, in dem sich der Betrachter oder der zukünftige Bewohner des "Model Home" in die Mitte des Triptychons, das sonst nur Maria oder Christus vorbehalten ist, an seiner statt einfügen kann. Das Motiv erinnert an den Tempel Salomons, römische Thriumphbögen, frühchristliche Altarziborien, an die mittelalterlichen Kanontafeln der Buchmalerei sowie den baldacchino Berninis im Petersdom. Der in den Spiegel Blickende wird durch diese Rahmung symbolisch überhöht. Er wird zu einem Gottvater oder zu einer Muttergottes in einem Triptychon. Als Abbild und als Spiegelung wird der Betrachter/Bewohner in diese zweitausendjährige Ideologie von Repräsentation eingebunden, ohne es zu wissen oder zu ahnen. Die schäbige Tapete mit dem Spiegel im Flur eines Musterhauses gibt ihm noch ein letztesmal ein Gefühl von Größe, bevor er hinaustritt in die öde Anonymität der Vorstädte, bevor ihm klar wird, daß er nichts zu sagen hat, daß er in Wirklichkeit ein Nichts ist, ein Niemand, der mit tausenden anderen nobodies in überfüllten U-Bahn-Zügen zur Arbeit fährt. Diese Dekorsymboliken bieten einen Ersatz an für Familienwerte, die im kapitalistischen Spekulationswohnungsbau der 60er Jahre längst verloren gegangen sind und nun als Sublimationsdekor in Form einer bedruckten Tapete Einzug in die private Wohnräume halten. Und, das muß man hinzufügen, von den Käufern als Hoheitszeichen, als Würde- und Pathosformel(12) längst verloren gegangener Werte geschätzt und bewahrt werden.

 

Die Form der Montage

Es gibt Fotoarbeiten, die einzeln stehen und solche, die jeweils zu zweit auf einen gemeinsamen Trägerkarton montiert wurden. Entweder sind sie übereinander (zwei querformatige Fotografien) oder nebeneinander (zwei hochformatige Fotografien) befestigt worden. Zahlenmäßig befinden sich die Montagen von zwei Fotografien auf einer gemeinsamen Trägerfläche gegenüber den Einzelarbeiten in der Überzahl. Sie sind etwa doppelt so zahlreich wie die Fotoarbeiten mit einer Fotografie. Ihre jeweilige Höhe bewegt sich zwischen 17,5 und 29,7 cm. Ihre Breite zwischen 25,6 und 39,5 cm bzw. umgekehrt bei hochformatigen Fotografien. Selten gibt es größere Format wie 32,5 x 48,5cm(13) In der Kombination von zwei verschiedenen Fotografien verfährt Dan Graham sehr grosszügig. Dasselbe Foto kann in verschiedenen Kombinationen mit anderen Fotografien auftreten. Ein frühes Foto aus den sechziger Jahren kann auch in den 90er Jahren noch einmal mit einer aktuellen Fotografie konfrontiert werden, wie z.B. in Burned House, Hilversum, Holland 1996 Bottom: Corridor, High School, Westfield, N.J., 1965.

Was passiert mit der Bedeutung der Bilder in einer solchen Montage? Die einzelnen Abzüge werden dadurch in einen anderen Kontext gebracht. Allein stehende Fotos können sich diesen Kontext dagegen selbst suchen. Präzise ausgedrückt konstruiert der Betrachter diesen abwesenden Kontext aus einer Reihe von Möglichkeiten. Damit spezifiert und verändert sich ihre Bedeutung. Denn eine spezifische Bedeutung bekommen die einzelnen Abzüge erst durch den spezifischen Kontext der Montage. Das am häufigsten auftauchende Motiv ist die Rückfront eines Housing Projects in Bayonne.(14) Auch die Fotografie der bereits ausführlich beschriebenen Familie am Eröffnungstag des Highway Restaurants ist in mindestens drei verschiedenen Montageversionen bekannt.(15) Sinn und Bedeutung eines Bildes ändern sich selbstverständlich, wenn es einmal oben, als erstes, gesetzt wird und wenn es unten, sozusagen als letztes, gesetzt wird. Dasselbe gilt für links und rechts. Der Sinn ändert sich auf profunde Weise, wenn man links und rechts miteinander vertauscht. Das liegt an unseren Lesegewohnheiten. Wir lesen von oben nach unten und von links nach rechts. Das obere bzw.linke Bild kommt daher sinngemäß zuerst und gibt das Thema der Arbeit vor. Das untere bzw. das rechte Bild stellt dann, semantisch gesehen, eine Ergänzung zum ersten dar und spezifiert die Bedeutung des ersten Bildes, engt sie ein auf einen bestimmten thematischen Zusammenhang oder einen spezifischen Kontext ein. In einer anderen Montage desselben Abzugs sieht man zuerst die essende Famile und dann die leere Öde ihrer Vorstadtbehausung als Konsequenz oder in Hinblick darauf.(16) In der Arbeit View Interior, New Highway Restaurant, Jersey City, N.J. 1967 wird zuerst das menschenleere Schau-Fenster gezeigt, die Trennung zwischen Innen und Außen. Erst dann kommt die Familie, wie sie sich mit dieser ontologischen Setzung arrangiert und diese Trennung wahrnimmt.(17) Der Sinn der Montage ist jeweils grundverschieden.

Die Rechts-Links-Dialektik der querformatigen Montagen mit hochformatigen Abbildungen operiert dagegen auf andere Weise. Die Diktion und Setzung des linken Bildes ist hier deutlich stärker als die des rechten Bildes wie bei New Office Buildings, Pittsburgh 1993. Das linke formuliert den Auftakt, das rechte kommentiert den Fortgang bzw. das Ende der Bilderzählung. Die Erzählstruktur ist hier in einer zeitlichen Sukzession geordnet, während in den hochformatigen Montagearbeiten das Oben-Unten-Verhältnis der querformatigen Fotos eher als räumliche, denn als zeitliche Sukzession wahrgenommen wird.(18 )

Die Bildunterschriften von der Hand Dan Gahams geben jeweils eine genaue geographische und zeitliche Verankerung. Sie lokalisieren den jeweiligen Abzug an einem Ort, der eine bestimmte Bedeutung und Symbolik trägt und in einem Jahr, das ebenfalls bestimmte Bedeutungszusammenhänge und Referenzen besitzt. Die Bildunterschriften spezifizieren im Medium der Schrift den Kontext der Fotografien auf eine neue Art und Weise. Sie sind Indizes und Ettiketierungen einer Chronologie und einer Topologie. Nachdem man die Unterschriften gelesen hat, kann man die Fotografien kaum mehr ohne diesen Text/Ort/Zeit/Kontext lesen. Eine besondere Funktion für die ästhetische Wahrnehmung erhalten diese Texte nun, wenn zeitlich weit auseinanderliegende Fotografien miteinander montiert werden, wie in Top: House, Outside of Pittsburgh, 1993 Bottom: Neo-Colonial Garage, Westfield, N.J., 1978 oder in Top: Burned House, Hilversum, Holland 1996; Bottom: Corridor, High School, Westfield, N.J., 1965 . Durch dieses Verfahren werden verschiedene historische Schichten von Architektur miteinander in Kontakt gebracht. Das Bild der Gegenwart wird durch das Bild der Vergangenhit nicht nur bestätigt, sondern auch korrigiert, erweitert oder entwertet.(19)

 

Architektur als Sozialmontage

Damit sind wir beim historischen Zeitbezug dieser Fotoarbeiten angelangt. Anfang bis Mitte der sechziger Jahre entstand sowohl in USA wie in Europa eine immer stärker werdende Kritik an der blutleer und formalistisch gewordenen Architektur des Funktionalismus. Er war in der Nachkriegszeit schnell zu einem schonunglosen, spekulativen Wohnungsbau pervertiert, der in den Satelliten- und Trabantenstädten der Metropolen seinen heute noch schockierenden physischen Ausdruck fand. In Amerika war es der Soziologe David Riesman, der bereits 1956 auf die Probleme suburbaner Dislokatisation hinwies.(20 ) Bücher wie Kevin Lynch's The Image of the City von 1960 oder Jane Jacobs' The Death and Life of Great American Cities von 1961 heizten die Diskussion um menschenfeindliche Großstadtarchitektur zusätzlich an, bis dann 1966 Robert Venturis Complexity and Contradiction in Architecture erschien, das sich dezidiert gegen das Dogma von Mies van der Rohe "Less is more" (Weniger ist mehr) mit dem Satz "Less is abore" (Weniger ist langweilig) stellte.(21) Der Begriff des eindimensionalen Menschen, der von der kapitalistischen Industriegesellschaft seiner gesamten Kreativität beraubt wurde, wurde von Herbert Marcuse 1964 geprägt.(22) Ein halbes Jahr nach Dan Grahams Homes for America veröffentlichte Marcuse in derselben Zeitschrift den Aufsatz "Art in the One-Dimensional Society".(23 ) In diesem äußerst sozialkritischen Diskussionsklima muß man das intellektuelle Umfeld der Fotoarbeiten Dan Grahams erkennen. Sie kritisieren die öde Monotonie der Vorstadtarchitektur mit den Mitteln des Fotojournalismus und der Montage wie Riesman, Lynch, Jacobs oder Venturi mit den Mitteln der Schrift. Die Fotoarbeiten Dan Grahams haben bis heute ebenso wenig an sozialer Brisanz und Gesellschaftskritik verloren wie Alexander Mitscherlichs Streitschrift von 1965:

"Wenn der Jugendliche aus den Slums oder aus komfortablem Vorstadtmilieu mit emotioneller Spar- und Rohkost aufgezogen - wenn beide Jugendliche, äußerlich so verschiedener Herkunft, plötzlich sadistische Gewalttaten verüben, an blindem Zerstörungsdrang Gefallen finden, wenn der Städter, dem die Einsamkeit angeblich nichts anhat, Jahr für Jahr mehr Alkohol trinkt, nicht weil er sich am Saft der Trauben labt, sondern weil er sich besaufen muß, wenn er Jahr für jahr blindlings mehr Kilometer herunterrast in seiner zwecklosen Freizeit, weil er es nirgends mehr aushält - dann wird mir eine gewisse, sich ganz unsentimental gebende soziologische Auffassung, die das alles als Unvermeidlichkeiten des sozialen Daseins hinzunehmen bereit ist, fragwürdig. Es gibt einen modernen Snobismus: er kommt sich wirklichkeitsnahe, aufgeklärt vor, weil er die sentimentalen Rückwärtsträume unter der Last dessen, was uns gegenwärtig weh tut, nicht mitmacht; aber de facto vollzieht er ein faules appeasement mit allem, was ungekonnt, brutal, verachtungswürdig an unserer Gegenwart ist."(24)

 

Anmerkungen:

1 Rainer Metzger: Kunst in der Postmoderne Dan Graham. Köln 1996, S.221 f.

2 Dieser Aspekt wird in dem frühesten Artikel Dan Grahams "Homes for America" dezidiert angesprochen.

3 Die gesamte erste Kategorie in dem Katalog Walker Evans & Dan Graham ist von einem starken Interesse für serielle Permutationen gekennzeichnet. Ich sehe dies aber durchaus in einem kritischen Sinne, als eine Kritik an der Schäbigkeit solcher montonen Reihungen funktionalistischer Architektur. Man sieht dies deutlich an Grahams Fotoarbeiten der World War II Housing Projects in Vancouver. Vgl. hierzu auch Katharina Sykora: Das Phänomen des Seriellen in der Kunst. Aspekte einer künstlerischen Methode von Monet bis zur amerikansichen Pop Art. Würzburg 1983, S. 9-12 und S.27

4 Vgl. Hans Dieter Huber (Hrsg.): Dan Graham. Interviews. Ostfildern-Ruit 1997, S. 32 Siehe auch die Interpretation der Arbeiten Sol Lewitts von Rosalind Krauss in Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. eine kritische Retrospektive, Dresden [u.a.] 1995; sowie Sol Lewitts Serial Project no.1 von 1966 in: Alicia Legg (ed.): Sol Lewitt. Ausst. Kat. The Museum of Modern Art, New York 1978, S.72f. und 170/171, wo ebenfalls wie bei Homes for America dieselbe permutative Zählung mit den ersten Großbuchstaben des Alphabetes ABCD auftaucht.

5 Beispiele Walker Evans&Dan Graham, a.a.O., S. 143; Die verspiegelten Wolkenkratzeroberflächen auf S.165,-167, S. 171-173, S. 178, S. 182

6 Diese Zusammenhänge habe ich ausführlicher dargelegt in Hans Dieter Huber: Split Attention. Performance und Publikum bei Dan Graham. In: Ders. (Hrsg.): Dan Graham. Interviews. Ostfildern-Ruit 1997, S. 47-63

7 Hans Paul Bahrdt. Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Reinbek bei Hamburg 1961, S. 79

8 Siehe die Fotoarbeiten in Walker Evans & Dan Graham, a.a.O. auf S. 135, S. 140, S. 151, S. 154, S. 157-159, S. 183

9 Siehe die Fotoarbeit Staten Island Home, 1978; in Walker Evans & Dan Graham, a.a.O., S.149

10 Siehe die Fotoarbeit Bedroom Suite, "Model House", Staten Island, N.Y. 1967; in Walker Evans & Dan Graham, a.a.O., S. 181

11 Der aufgebogene Architraph ist ein architektonisches Motiv, das sich zum erstenmal am sog. Canopus der Villa Hadriana bei Tivoli (zw. 118 und 134 n.Chr.) findet sowie beim Hadrian-Tempel in Ephesos, um 230/40 n. Chr.

12 Klaus Lankheit: Das Triptychon als Pathosformel; in: Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, 1959, Heft 4

13 Siehe die Fotoarbeiten in Walker Evans & Dan Graham, a.a.O., S. 143 oder S. 149 (32,5x49cm)

14 Außer in den verschiedenen, späteren Montageversionen zu Homes for America taucht diese Fotografie in folgenen Abbildungen auf: In Walker Evans & Dan Graham, a.a.O., auf S. 135 und S. 182 sowie in The Suburban City, Ausst. Kat. Basel 26. Okt. 1996- 2. Februar 1997, auf S.35

15 Aufgrund der inneren Logik der Montage ist davon auszugehen, daß es noch mehrere Variationen gibt. Vgl. z.B. die Abb. in The Suburban City, Ausst. Kat. Basel 26. Okt. 1996- 2. Februar 1997, S. 3; ferner in diesem Katalog die Abb. ...; in Walker Evans & Dan Graham, a.a.O., die (offensichtlich seitenverkehrte) Abb. auf S.135.

16 The Suburban City, Ausst. Kat. Basel 26. Okt. 1996- 2. Februar 1997, S. 3

17 Zum Begriff der ontologischen Setzung vgl. Willard van Orman Quine: Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980, S. 53 f.: "Vom Standpunkt einer Beschreibung des Vorgangs der Theoriebildung ist alles, dem wir Existenz zubilligen, eine Setzung, und, vom Standpunkt der gebildeten Theorie, gleichzeitig real."

18 Ferner kommt hinzu, was Wassily Kandinsky bereits 1926 in Punkt und Linie zu Fläche über Oben und Unten, Rechts und Links einer Bildfläche gesagt hat: "Das <Oben> erweckt die Vorstellung eines größeren Lockerseins, ein Gefühl der Leichtigkeit, einer Befreiung, und schließlich der Freiheit." Kandinsky, Wassily: Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente. 7. Aufl., mit einer Einführung von Max Bill, Bern 1973, S.131.

Der untere Teil einer Bildfläche ist dazu in seiner Wirkung völlig konträr: " Das <Unten> wirkt vollkommen entgegengesetzt: Verdichtung, Schwere, Gebundenheit." (ibd., S.132)

Nach-Rechts ist eine Bewegung nach Hause, eine Bewegung auf das Gebäude zu: "Das nach &laqno;Rechts» -Insgebundengehen- ist eine Bewegung nach Hause. Diese Bewegung ist mit einer gewissen Müdigkeit verbunden, und ihr Ziel ist die Ruhe. Je näher bei &laqno;Rechts», desto matter und langsamer wird diese Bewegung - so werden die Spannungen der nach rechts gehenden Formen immer geringer, und die Bewegungsmöglichkeit wird immer begrenzter." (ibd., S.137

Eine Bewegung nach links ist dagegen ein Ins-Freie-Gehen, in die Ferne, vom Gebäude weg: "Das nach »Links&laqno;-Insfreiegehen- ist eine Bewegung in die Ferne. Hierhin entfernt sich der Mensch aus seiner gewohnten Umgebung, er befreit sich von den auf ihm lastenden Gewohnheitsformen, die seine Bewegungen durch eine fast steinerne Atmosphäre hemmen, und er atmet immer mehr und mehr Luft. Er geht auf »Abenteuer&laqno;. Die Formen, die ihre Spannungen nach links gerichtet haben, haben dadurch etwas »Abenteuerliches&laqno;, und die »Bewegung&laqno; dieser Formen gewinnt immer mehr an Intensität und Geschwindigkeit." (ibd., S.136f.)

Auf diese Weise werden die Oben-Unten-Montagen bzw. die Links-Rechts-Montagen intuitiv oder unbewußt vom Betrachter gelesen. Man kann das ferner an einigen Beispielen in Walker Evans & Dan Graham, a.a.O., S. 166, S.167 und S. 170 deutlich erkennen. Man muß dazu aber jeweils die andere Seite des Kataloges mit einem weissen Blatt Papier abdecken, sonst funktioniert es nicht.

19 Vgl. zu diesen kognitiven Funktionen in der ästhetischen Wahrnehmung Hans Dieter Huber: System und Wirkung. Fragen der Interpretation und Bedeutung zeitgenössischer Kunst. München 1989, S. 78 f.

20 Riesman, David: The Suburban Dislocation; in : The Annals of the American Academy of Political and Social Science; Vol. 314, 1957

21 In Deutschland wurde diese Diskussion vor allem von Hans Paul Bahrdt und Alexander Mitscherlich mit seinem Buch Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden,. Frankfurt/M. 1965 eröffnet, denen bald weitere Publikationen folgten. So zogen seine Mitarbeiter Heide Berndt, Alfred Lorenzer und Klaus Horn mit dem Sammelband Architektur als Ideologie. Frankfurt/M. 1968 nach. Selbst Theodor W. Adorno beteiligte sich mit seinem Aufsatz Funktionalismus heute, in: ders.: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt/M. 1967, S. 104 -127 an einer Kritik der fehlgeleiteten Dogmen moderner Architektur.

22 Marcuse, Herbert: One-Dimensional Man. Studies in the Advanced Industrial Society. Boston: Beacon Press 1964

23 Marcuse, Herbert: Art in the One-Dimensional Society. Arts Magazine, Vol. 41, 1966/67, S. 26-31.

24 Alexander Mitscherlich, a.a.O., S.24f.

 


Hans.Dieter.Huber