Hans Dieter Huber
"Draw a distinction."
Ansätze zu einer Medientheorie der Handzeichnung
(veröffentlicht in: Deutscher Künstlerbund e.V.
(Hrsg:): zeichnen. Der deutsche Künstlerbund in Nürnberg 1996.
44. Jahresausstellung Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 1. Dezember
1996 - 6. April 1997, S. 8 - 21)
Wenn man von Zeichnung oder Zeichnen spricht, muss man unbedingt zwei
verschiedene Gebrauchsweisen dieses Mediums auseinanderhalten. Auf der einen
Seite gibt es zahllose Zeichnungen, die für den Alltagsgebrauch hergestellt
wurden und vorwiegend eine demonstrative Funktion im Zusammenhang mündlicher
Kontexte haben. Sie werden zur Verständigung von verbal schwer erklärbaren
Sachverhalten gebraucht und ohne den expliziten Anspruch, Kunst zu sein,
angefertigt und benutzt.1
Auf der anderen Seite gibt es Zeichnungen, die mit einem expliziten Kunstanspruch
hergestellt, ausgestellt und als solche wahrgenommen werden. Ihre Funktion
ist in erster Linie ästhetische Sinnstiftung. Diesem speziellen Bereich
der künstlerischen Handzeichnung steht ein umfassenderer, sozialer
Gebrauch von Zeichnungen gegenüber, der nicht künstlerischen Zielsetzungen,
sondern in erster Linie erklärenden Absichten folgt. Die künstlerische
Handzeichnung ist als ein Medium in diesen umfassenderen Bereich kultureller
Bildproduktionen einer Gesellschaft eingebettet. Zwischen beiden kulturellen
Teilsystemen, der Kunst im engeren Sinne und der Zeichenproduktion im weiteren
Sinne, gibt es stets einen regen Austausch. Eine Grauzone von Anregungen,
Innovationen, Übernahmen und Überläufern kennzeichnet die
Grenzschichten dieser Bereiche.
Die Oberfläche der Zeichnung
Wir müssen bei einer Medientheorie der Handzeichnung unseren Ausgangspunkt
von der einzelnen Zeichnung nehmen und von dort aus, Stück für
Stück, zunächst seine medialen und sodann seine sozialen Funktionen
beschreiben. Unser Ausgangspunkt ist daher als erstes die Oberfläche
der Zeichnung selbst. Sie ist (als Unterscheidung eines Beobachters) die
Grenzfläche zwischen zwei geschlossenen Systemen: nämlich der
Handzeichnung selbst und dem Beobachter. Die Oberfläche ist diejenige
Fläche, auf der die Zeichnung erscheint und auf der sie potentiell
jederzeit öffentlich beobachtbar und mit den Händen ertastbar
ist. Sie ist die Fläche, auf der sich die Formen der Zeichnung als
Linien, Spuren oder Einschreibungen verdichten.2
Oberflächen sind Grenzflächen zwischen verschiedenen Zuständen
der beteiligten Materie.3 Jede Oberfläche besitzt eine charakteristische
Textur, ein charakteristisches Reflexionsvermögen sowie eine charakteristische
Flächenanordnung. Bezogen auf die Handzeichnung heisst dies, dass das
Trägermaterial als strukturierte Oberfläche stets eine bestimmte
Textur besitzt, die man erkennen und mit Begriffen wie rauh, glatt, matt,
glänzend, seidig, etc. bezeichnen kann. Allen Oberflächen ist
gemeinsam, dass sie eine stabile, beständige Flächenanordnung
besitzen. Die Beständigkeit der Oberfläche hängt dabei vom
Widerstand der jeweiligen Substanzen gegenüber Veränderung ab.
Oberflächen schlucken Licht oder werfen es zurück. Beständige
Oberflächen sind in dem Sinne öffentlich zugänglich, da sie
potentiell für jedermann sichtbar und greifbar sind. An der Oberfläche
geschieht am meisten: Reflexion und Absorption von Licht, Berührung
mit Lebewesen, chemische Reaktionen, Verdampfungen oder Diffusion von Substanzen.
Die Form der Faser hat beim Papier einen grossen Einfluss auf die Eigenschaften
und die Materialität des Blattes. Dickwandige, steife Fasern ergeben
ein lockeres, saugfähiges Papiergefüge von geringer Festigkeit,
während dünnwandige Fasern, die bandförmig zusammenklappen
und sich eng aneinanderschmiegen, biegsam und plastisch sind und dadurch
ein dichtes Blatt bilden. Bei der Oberfläche eines Papiers kann man
die Siebseite von der Filzseite unterscheiden. Letztere wird auch "Schönseite"
genannt, weil sie wegen der grösseren Geschlossenheit der Oberfläche
die bevorzugte Zeichen- oder Druckseite bildet. Um dem Papier eine bestimmte
Glätte zu geben, kann der Papierhersteller verschiedene Massnahmen
ergreifen. Durch Zugabe von Füllstoffen kann das Gefüge dichter
und damit die Oberfläche glatter gemacht werden. Zum anderen sorgen
Glättwerke und Kalander in der Trockenpartie der Papiermaschine für
eine Glättung der Oberflächen. Ferner können die Oberflächen
von Papieren, Kartons und Pappen mit Pigmentstrichen geglättet werden.
Man nennt das Papier dann ein gestrichenes Papier. Trifft Licht auf eine
Papieroberfläche, wird es je nach Oberflächenbeschaffenheit gerichtet
oder gestreut reflektiert, teils absorbiert, teils hindurchgeworfen. Maschinenglatte
Papiere werfen das Licht grösstenteils diffus zurück. Der Glanz
eines Papiers hängt mit dem Grad der Lichtreflexion zusammen, wenn
der grösste Teil des auftreffenden Lichtes spiegelnd zurückgeworfen
wird. Diese Eigenschaften machen zusammen mit der Textur und dem Gewicht
die Materialität eines Papiers aus. Sie gehen in die ästhetische
Erfahrung einer Zeichnung ein und können nicht abgelöst von ihr
gesehen werden.
Die Oberfläche einer Zeichnung trägt daher aufgrund der Geschichte
ihrer Spuren, ihrer Herstellung und gemäss ihrer kulturellen Logik4
einen spezifischen Ausdruck, den sie als Materialität in die ästhetische
Erfahrung hineinträgt. An der Oberseite einer Zeichnung spaltet sich
die Bedeutung des Blattes in zwei Komponenten. Sie teilt sich einmal in
die beobachtbare Materialität der Spur und ihres Trägers: weisse
Wand, weisses Papier, schwarze Kohle, braune Kreide, bestimmte Spur, silbriges
Schimmern des Graphits. Die andere Abspaltung läuft dagegen in die
Immaterialität der Welt hinaus, in die prinzipielle Abwesenheit des
Dargestellten von dieser Oberfläche. Die mit Formen strukturierte Oberfläche
einer Zeichnung ist also die entscheidende Grenzschicht, an der sich die
Bedeutung in einen anwesenden und einen abwesenden Teil spaltet.
Die Materialität der Zeichnung
Die Frage nach der Funktion der Materialitäten einer Handzeichnung
lässt sich auf eine einfache Weise stellen. Haben die Trägermaterialien
einer Handzeichnung, wie Linien, Spuren, Verwischungen, Einschreibungen,
Radierspuren, Papier, Karton, Format usw. eine Bedeutung für die Sinngenese
einer solchen Zeichnung oder haben sie es nicht? Die Frage lenkt die Aufmerksamkeit
des Lesers auf das, was allen Formen, Linien, Spuren und Papieren zugrundeliegt
und als selbstverständliche Grundlage jedes Zeichnens entweder gänzlich
übersehen wird oder nur gelegentlich als Hintergrund aufscheint. Im
Bereich der künstlerischen Handzeichnung haben die Materialitäten
eines Blattes eine fundamentale und konstitutive Bedeutung für die
ästhetische Erfahrung einer solchen Arbeit. Formen und Inhalte einer
Zeichnung sind stets über und durch diese Materialitäten vermittelt.
Sie sind medialisiert und unter Ausblendung dieser Materialitäten nicht
adäquat ästhetisch erfahrbar.5
Wir müssen daher zuerst klären, inwieweit sich die Begriffe
der Materialität, des Mediums und der Materie voneinander unterscheiden.
In dem vermessen erscheinenden Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu
geben, betritt man eines der grössten Schlachtfelder in der Geschichte
der Philosophie.6 Ich kann hier nur kurz auf die meiner Meinung nach wesentlichen
Unterschiede zwischen Materialität und Medium einer Handzeichnung eingehen.
Materialität umschreibt die Materialhaftigkeit, das Material-Sein
bestimmter Dinge. Als Material ist Papier nur Papier, nur ein Material unter
vielen. Erst wenn dieses Material zu einem bestimmten Zweck benutzt wird,
wird es zu einem Medium. Wenn man Papier und Kreide zum Zeichnen benützt,
werden das Papier und die Kreide zu Medien. Sonst sind sie nur Materialien;
Kreide bleibt Kreide, Papier bleibt lediglich Papier. In dem Moment aber,
in dem beispielsweise ein Schulkind eine Hauswand mit weisser Schulkreide
bekritzelt, werden sowohl die Kreide als auch die Hauswand zu einem Medium,
da sie Mittel geworden sind zur Bildung von Formen. Wenn man Materialien
für Formbildungen (In-Formationen) in Beschlag nimmt, wird daraus ein
Medium. Ein Medium ist daher in-formierte Materie bzw. materialisierte Information.7
Die Materialitäten eines Mediums werden von den spezifischen Eigenschaften
der beteiligten Materialien gebildet, die als Medium benutzt wurden und
in die Formen eingegangen sind.8 Die Materialität des Mediums ist die
spezifische Art und Weise der Verkörperung der In-Formation.9
Die Frage nach den Eigenschaften des Mediums kann aber nicht aus den
Eigenschaften des Materials alleine beantwortet werden, sondern nur mit
Hilfe der aus den Materialien geschaffenen Formen und In-Formationen. So
bildet Papier, auf dem geschrieben wird, das Medium der Schrift; Papier,
das gefaltet, geknüllt oder geknetet wird, das Medium der Plastik;
Papier, auf dem gezeichnet wird, das Medium der Handzeichnung; Papier, auf
dem gedruckt wird, das Medium der Druckgraphik. Erst der spezifische Kontext
und der soziale Gebrauch, in dem in-formierte Formen verwendet werden, gestattet
also eine Aussage über das zugrundeliegende Medium. Dieser funktionale
Medienbegriff ist insofern flexibel, als wir nicht endlose Listen von Materialien
aufzählen müssen, die das Medium der Handzeichnung ausmachen und
andere möglicherweise davon ausschliessen müssen. Man achtet vielmehr
auf den sozialen Gebrauch, der von den einzelnen Blättern gemacht wird
und auf den Kontext, in dem sie gebraucht werden.
Es ist daher völlig gleichgültig, aus welchen Materialien eine
Handzeichnung besteht, ob sie auf Papier, Karton, Pappe, Glas, Metall, Gips,
Stein oder Holz aufgetragen ist, ob sie mit Graphit, Kreide, Farbe, dem
Schnittmusterrad gefertigt ist oder im Internet in Form elektronischer Pixels
existiert. Hier wird die Leistung einer funktionalen Unterscheidung zwischen
Materialität und Medium deutlich. Wenn man das Medium Handzeichnung
unter Zuhilfenahme typischer Materialien definieren will, hat man das Problem,
wie man mit Grenzfällen wie Himmelszeichnungen, Farbe auf Papier, Kreide
auf Leinwand oder Gravierungen umgehen will. Wenn man dagegen beobachtet,
wie verschiedenene Zeichnungen unter dem Begriff der Kunst spezielle Kommunikationsbeiträge
für das Kunstsystem liefern können, kann man diese Medienformen
als Teilbereiche des Kunstsystems ansprechen und beschreiben.
Die Referentialität der Zeichnung
Jeder Zeichnung ist eine fundamentale Differenz zu eigen, die niemals
überwunden, überbrückt oder re-integriert werden kann: die
Differenz zwischen dem, was auf der Oberfläche des Blattes vorhanden
ist und dem, was nicht vorhanden ist. Diese Differenz lässt sich am
besten mit dem Begriff der Bezugnahme (Referenz) erklären. Eine Zeichnung
kann erstens auf etwas Bezug nehmen, was gar nicht anwesend ist, was nur
dargestellt werden kann. Der Verweis, die Bezugnahme oder Referenz läuft
hier aus dem Blatt hinaus. Das Dargestellte verweist aus der Zeichnung hinaus
in die Welt. Sie ist hier nur ein Stellvertreter für Abwesendes, für
etwas, was mit dem Medium der Zeichnung selbst nicht verkörpert werden
kann. Diese Art der Bezugnahme wird als Fremdreferenz bezeichnet.10 Ihre
Grundlage und Voraussetzung ist die Selbstreferenz des Zeichensystems.
Auf der anderen Seite aber kann eine Zeichnung aber auch auf etwas verweisen,
was in der Zeichnung tatsächlich anwesend ist. Sie kann nämlich
auf sich selbst oder auch auf bestimmte Teile von sich selbst hinweisen.
Zeichnung kann mit ihrem eigenen Medium auf sich aufmerksam machen, auf
sich selbst hinweisen und einige ihrer Eigenschaften, die sie tatsächlich
besitzt, thematisieren.11 Besonders in der Zeichnung der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts werden diese selbstreferentiellen Eigenschaften zu
einem wichtigen Gegenstand der autonomen Handzeichnung. Indem Zeichnung
auf sich selbst verstärkt aufmerksam macht, betont sie ihre Autonomie,
ihre Selbstreferentialität und verstärkt damit ihren Anspruch
auf eine radikale und kompromisslose Freiheit von jeglichen dienenden Zwecken.
Als Stellvertreter von Abwesendem, also in ihrer fremdreferentiellen
Verweisungsfunktion, macht sie dagegen verstärkt auf bestimmte Teile
oder Bereiche von Welt, die ausserhalb der Zeichnung liegen, aufmerksam.
Sie lenkt den Blick und die Aufmerksamkeit eines Beobachters von sich selbst
ab und auf anderes. Damit hat sie eine dienende Funktion. Zeichnung wird
instrumentalisiert als Mittel zum Zweck, als Medium externer Referenzen.
Diese Möglichkeit, auf Externes zu referieren, basiert allerdings strikt
auf den selbstreferenten Mitteln des Mediums. Denn eine Zeichnung kann nur
mit den ihr möglichen, eigenen Mitteln, und das sind stets selbstreferentielle
Elemente, Fremdreferenzen konstruieren. Beide Weisen des Bezeichnens sind
als die zwei grundlegenden Symbolisierungsmöglichkeiten des Mediums
der Zeichnung im Spiel. Wie zwei Seiten ein und derselben Unterscheidung
funktionieren sie nur in auschliesslicher Differenz zueinander.
Wendet der Beobachter seine Aufmerksamkeit auf das Dargestellte, blickt
er durch die Zeichnung wie durch ein Fenster, einen transparenten Stellvertreter
oder Platzhalter, auf die Welt. Wendet er seine Aufmerksamkeit dagegen auf
die Zeichnung selbst, auf die Frage, wie diese gemacht ist, wie beispielsweise
der Strich des Graphits schimmert und die Textur des Papiers zum Anfassen
reizt, blickt er auf die Materialität der Zeichnung, auf ihre Präsenz
oder ihre Anwesenheit in der Gegenwart. Die Selbstreferenz einer Handzeichnung
ist also immer mit ihrer Materialität gekoppelt. Fremdreferenz dagegen
ist mit Immaterialität gekoppelt, mit Abwesendem, das nur geistig-kognitiv
vorgestellt werden kann.12
Zeichnungen scheinen damit in einer Paradoxie gefangen zu sein.13 Auf
der einen Seite sind sie selbst Oberflächen aus Spuren, Linien, Verwischungen,
Wülsten, Rändern, Materialien und Gewichten. Auf der anderen Seite
sind sie leere, transparente Platzhalter. Sie sind Verweise auf etwas, was
nicht anwesend ist, was nicht mit Stift und Papier dargestellt werden kann,
was nicht mit den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten des Mediums
Handzeichnung repräsentiert werden kann. Gelungen sind sie in dem,
was sie selbst geworden sind durch die Hand des Zeichners, also vor allem
in ihrer Selbstreferenz. Gescheitert sind sie dagegen immer gegenüber
dem, was sie nicht darstellen können, nämlich gegenüber der
Welt. Jede Zeichnung führt diese Differenz als eine Spaltung an der
Oberfläche vor, an der sich der Sinn zweiteilt. Er teilt sich in einen
Sinn, der wieder in die Zeichnung zurückführt und mit dessen Hilfe
man über die Authentizität, Glaubwürdigkeit oder Originalität
der Spur als Spur, des Materials als Material, der Oberfläche als Oberfläche
diskutieren kann.
Das andere Doppel des Sinns, das sich an der Oberfläche abspaltet,
läuft von der Zeichnung weg. Es läuft in das kognitive System
des Beobachters, also in die Welt hinaus und kehrt nicht mehr in die Zeichnung
zurück. Es wird zur Imagination, zur geistigen Vorstellungsleistung
eines bestimmten Beobachters. Es ist der Verweis auf das Abwesende, auf
das, was im Bild selbst nicht anwesend sein kann, weil es mit dem Medium
der Handzeichnung nicht hergestellt werden kann, sondern nur als Verweis,
als Referenz gehandhabt werden kann. Das Dargestellte ist an der Oberfläche
des Mediums abgespalten worden und kann - mit den Mitteln der Zeichnung
- nicht mehr zurückgewonnen werden.
Die Form der Zeichnung
'Draw a distinction.' Mit diesen Worten beginnt das zweite Kapitel des
Formenkalküls des englischen Logikers und Mathematikers George Spencer
Brown.14 So einfach diese drei Worte zu verstehen sind, so schwer kann man
diese Anweisung ins Deutsche übersetzen: 'Triff eine Unterscheidung,
setze eine Unterscheidung, mach eine Unterscheidung' würden wir übersetzen.
Aber im englischen Verb 'to draw' ist der Begriff des Zeichnens und die
Tätigkeit der Hand auf fundamentale Weise enthalten. Dennoch würden
wir nie übersetzen: 'Zeichne eine Unterscheidung'. Am besten klingt
noch 'Zieh eine Unterscheidung', wie man eine Linie auf einem Papier zieht.
Die Suggestion von Visualität ist hier sehr stark. Man stellt sich
ein Blatt Papier vor, auf dem eine Linie gezogen wird. Die Linie teilt das
weisse Papier in zwei Bereiche: links und rechts oder oben und unten. Gleichzeitig
bezeichnet sie als Grenze einen Ort: hier, an dieser Stelle, so-und-so-lang.
Diese Anweisung impliziert jedoch die Anwesenheit von mindestens zwei
Personen, nämlich desjenigen, der die Anweisung gibt (der Beobachter)
und desjenigen, der die Unterscheidung trifft (der Zeichner).15 Damit ist
der Kalkül von vorneherein in einen sozialen Raum eingestellt, in dem
der Beobachter den Zeichner bei der Ausführung seiner Gesten beobachten
kann.16 Darüber wird allerdings erst am Ende des Formenkalküls
etwas ausgesagt.17
Und dann folgt der zweite Satz des Formenkalküls: 'Nenne sie die
erste Unterscheidung'.18 Jeder Zeichner muss mit einer ersten Markierung
auf einem weissen Papier beginnen, wenn er zeichnen will. Die Linie erschafft
mit ihrem ersten Strich auf dem Papier ein Universum. Vorher war alles nichts,
ungetrennte Potentialität, aber kein Universum. Erst die Linie stiftet
ein Universum als Setzung. Sie bestimmt dieses Universum, indem sie es in
zwei Teile teilt.19 Die Setzung eines Universums durch den ersten Strich,
den der Zeichner zieht, ist sein grösstes Risiko. Von ihm hängen
alle weiteren ab, das Gelingen oder Misslingen der entstehenden Zeichnung.20
Die dritte Anweisung des Formenkalküls lautet: "Nenne den Raum,
in dem sie gezogen wurde, den Raum, der von der Unterscheidung getrennt
oder gespalten wurde.'21 Jede Linie spaltet eine Fläche oder einen
Raum in zwei Hälften, die durch die Grenze der Linie getrennt wurden.
Diejenige Seite der Unterscheidung, der die Aufmerksamkeit zugewandt wird,
heisst die bezeichnete Seite der Unterscheidung (marked space). Diejenige
Seite der Unterscheidung, die von der Aufmerksamkeit des Beobachtenden ausgeschlossen
bleibt, heisst die unbezeichnete Seite (unmarked space). Man kann aber nur
eine Seite der Unterscheidung in seiner Beobachtung akzentuieren. Der Preis
für die Aufmerksamkeit ist das Ausgeblendete, das Weggelassene, der
blinde Fleck der Beobachtung. Ein einfaches Beispiel macht deutlich, was
gemeint ist. Wenn ich beispielsweise das Adjektiv 'rauh' ausspreche, wird
die gesamte Welt als ein Universum von Oberflächen in zwei Teile gespalten,
nämlich in alle rauhen und alle nicht-rauhen Oberflächen. Der
rauhe Teil kennzeichnet die bezeichnete Seite der Unterscheidung, auf der
die Aufmerksamkeit des Beobachters ruht. Der nicht-rauhe Teil dagegen bildet
gleichzeitig die unbezeichnete Seite oder Aussenseite der Unterscheidung,
den blinden Fleck in der Beobachtung des Beobachters. Aber erst beide Seiten
zusammen, also 'rauh/nicht-rauh' als die Einheit der verwendeten Unterscheidung,
bilden die spezifische Form oder die Unterscheidung selbst, die hier Verwendung
findet. Als die erste Unterscheidung, mit der begonnen wurde, bildet sie
den Ursprung dieses besonderen Universums von Oberflächen.
Zeichnen als Unterscheiden und (Be)Zeichnen
Zeichnen ist also in seiner allgemeinsten Form ein Beobachten und (Be)Zeichnen
von Unterscheidungen. Das Beobachten von Unterscheidungen durch das Auge
und das (Be)Zeichnen durch die Hand des Zeichners sind zwei verschiedene
Tätigkeiten, die in enger Koordination zwischen Auge und Hand geschehen
müssen. Jede Setzung einer Linie oder eines Striches auf einem Blatt
Papier, also jedes Setzen einer Unterscheidung, spaltet das Universum des
zeichnerisch Möglichen in einen bezeichneten Teil, welcher der Aufmerksamkeit
unterliegt und einen unbezeichneten Teil, welcher als blinder Fleck der
Beobachtung stets mit durchläuft. Daher steht jede Zeichnung als eine
Gesamtform von Unterscheidungen sowohl in einem Verhältnis zu dem,
was mit den jeweiligen Einzelformen als Einzelunterscheidungen be-zeichnet
oder ge-zeichnet wurde sowie zu dem, was auf der Aussenseite der Bezeichnung
weggelassen wurde. Kunst macht also nicht nur sichtbar, wie Paul Klee in
seinem Pädagogischen Skizzenbuch von 1925 konstatierte, sondern sie
bringt auch zum Verschwinden. Sie macht durch ihre Unterscheidungen zwangsläufig
Welt unsichtbar.22 Dieses Verschwinden von Welt durch die Tätigkeit
des Zeichnens läuft parallel zur Sichtbarmachung und dem Entwerfen
von Welt auf der Oberfläche des Papiers. Die Kosten des Sichtbarmachens
von Welt liegen in dem, was gleichzeitig zum Verschwinden gebracht wird,
was durch eine Zeichnung verdeckt wird, nämlich die Unterscheidung
selbst, die differánce, wie Derrida sagen würde.23 Durch diese
Sachlage von bezeichneter Seite und unbezeichneter Seite ist jede Handzeichnung
von Beginn an einer Dynamik von Anwesenheit und Abwesenheit, von Präsenz
und Absenz ausgesetzt, der sie nicht mehr entgehen kann. Denn Präsenz
und Absenz von Welt in der Zeichnung sind Resultate ihrer Unterscheidungsoperationen.
Aber Zeichnen heisst nicht nur, Unterscheidungen ziehen und eine Seite
davon zu bezeichnen. Sondern es heisst auch, bereits getroffene Unterscheidungen
durch neue zu überlagern, die alten zu verschleifen, unscharf zu machen,
auszuradieren, sie in eine Grauzone, eine Schleifspur, in einen borderline
case, einen unentscheidbaren Grenzfall, einen Grenzkonflikt zu verwandeln.
Zeichnen als Be-Zeichnen und Ver-Schleifen von Unterscheidungen ist daher
ständig mit einer Dynamik aus Setzung und Auslöschung (von Unterschieden)
befasst, mit einer Paradoxie aus Sichtbarmachung und Verschleierung.24
Die Hand des Zeichners
"Die Hand kann Alles fahren lassen, nur sich selbst nicht."25
Die menschliche Hand ist ein spezialisiertes Organ, das aus einer komplexen
Anordnung von Knochen, Muskeln und Sehnen besteht, die Bewegungen für
eine grosse Vielzahl von Aufgaben ermöglicht. Die hochentwickelte Opposition
des Daumens gegenüber den anderen vier Fingern, die einzigartig für
die menschliche Hand ist, erlaubt Greif-, Zieh- und Stossbewegungen auf
eine Weise, die den Menschen von den Primaten unterscheidet. Die Hand besitzt
27 Knochen und 20 Gelenke. Ihre Bewegungen werden von 33 verschiedenen Muskeln
ausgeführt. Man schätzt, dass eine Hand im Laufe eines Tages über
1000 verschiedene Bewegungen durchführt. Die Finger besitzen eine besonders
hohe Konzentration von Nerven, die für die sensorische Bewertung der
Tast- und Greifresultate nützlich sind.
Besonders beim Zeichnen sind vor allem die drei ersten Finger in ihrer
äusserst differenzierten Feinmotorik beteiligt. Ringfinger und kleiner
Finger dienen meistens nur als unterstützende motorische Glieder. Durch
die Spur des Stiftes auf dem Papier ist der direkteste, feinfühligste
und differenzierteste Ausdruck möglich, den man sich vorstellen kann.
Die Handzeichnung gilt von daher immer als besonders direkter, anschaulicher
und authentischer Ausdruck der inneren Zustände des Zeichners. "...
und manchmal ist man sogar versucht zu sagen, dass sie denkt."26
Hand und Gehirn sind allerdings keine Instrumente im Sinne von Einrichten,
sondern von Verarbeiten. Die Hände gehen dem Menschen und seinem Geist
voraus. Die Hand projiziert durch ihren Willen und durch ihr Können,
das aus ihrer einzigartigen Physiognomie entspringt, Ausdruck und Bedeutung
in ein Medium, indem sie Unterscheidungen setzt. Sie ist daher ein (nonverbaler)
Entwurf der Vernunft. Fast könnte man sagen, dass die Hand selbst denkt,
dass sie selbst unterscheidet, dass sie ein selbstlernendes, autonomes und
intelligentes System ist, die genauso Auge und Gehirn steuert, wie sie selbst
von Auge und Gehirn gesteuert wird.
In die Physiognomie der Hand ist die ständige Wiederholung der Begegnung
mit der Welt eingeschrieben. Die Hand lebt und lernt buchstäblich nur
aus der Wiederholung. Und doch ist keine Wiederholung gleich. Diese Wiederholungen
als 'Zirkulärreaktionen' im Sinne Jean Piagets sind für die Herausbildung
einer konstanten Objektwelt beim Kinde wesentlich. Die Hand ist daher ein
ausserordentlich wichtiges, organisches Dispositiv. Sie stellt durch wiederholtes
Tasten, Greifen und Empfinden eine Aussenwelt her, indem sie sich selbst
herstellt. Sie ermöglicht im Gegensatz zum Blick als einer Aufzeichnungsfläche,
als einer Präsentation der Gegenwart, die konstante Konstruktion der
Aussenwelt, der Dinge und des eigenen Körpers durch "Handeln".27
Menschlich wird die Hand vor allem durch die vielfältigen Werkzeuge,
die sich von ihr lösen können und nicht durch das, was sie selbst
ist. Die Operationen des Schneidens, des Zerschlagens, Formens, Kratzens
und Grabens wandern in der menschlichen Evolution allmählich von der
Hand in das Werkzeug hinaus. Die Hand hört schrittweise auf, Werkzeug
zu sein und wird stattdessen Antrieb und Auslöseorgan.
Die Befreiung der Hand von der Funktion der Fortbewegung hat eine allmähliche
Hinausverlagerung der motorischen Aktivitäten aus der Hand selbst zur
Folge. Zunächst erfolgt die Aktivität der Hand in direkter Motorik,
durch Halten, Greifen, Tasten. In der nächsten Evolutionsstufe steuert
die Hand nur noch in indirekter Motorik den motorischen Antrieb von einfachen,
mechanischen Apparaten, wie z.B. einer Flachsspindel oder einer Seilwinde.
Schliesslich verlässt auch die motorische Kraft den Arm und löst
den motorischen Prozess in mechanischen Maschinen oder Nutztieren lediglich
aus. Im letzten Stadium der Evolution löst die Hand einen programmierten
Prozess an einer komplexen Maschine aus, die nicht nur das Werkzeug, die
Geste und die Motorik exteriorisiert,28 sondern auch das Gedächtnis
und das mechanische Verhalten auf die Maschine überträgt.29
Arme, Beine, Rumpf und Körper helfen unter Umständen mit, die
Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Hand zu steigern. Die
Muskeln und Sehnen bestimmen die Art des Zupackens und Festhaltens, die
empfindliche Haut das Abtasten und Fühlen des Materials, das Auge steuert
die Bewegung. Aber entscheidender als diese integrierten Tätigkeiten
ist der Verstand, der sie leitet und das Gefühl, das sie beseelt. Jede
Bewegung der Hand ist im Gehirn verankert. So wunderbar die Komplexität
dieses organischen Instrumentes auch ist, für Automatisierung eignet
sie sich denkbar schlecht. Keine Bewegung gleicht der anderen, kein Strich
dem nächsten. Die Hand kann es zwar durch Training zu einer hohen,
automatischen Fertigkeit bringen, aber sie kann im Gegensatz zur Maschine
nicht ununterbrochen und gleichmässig tätig sein. Sie kann ihre
Bewegungen nicht in endlosem Kreislauf vollziehen.30
Genau diese Unregelmässigkeit, im Prinzip Unwiederholbarkeit der
Geste, ist das, was an der Hand des Zeichners und an der Spur der Zeichnung
ihre Originalität, Individualität, Authentizität und Ausdruckskraft
sichert. Die Arbeit mit der Hand erinnert daran, dass das Erreichen von
Vollkommenheit in der Zeichnung nicht menschlich ist. Das einfachste, mechanische
Werkzeug erreicht dagegen eine Vervollkommnung, der sich der Mensch nur
durch eine fast übermenschliche Anstrengung nähern kann. Das mechanische
Werkzeug ist einfältig und sein Produkt vollkommen. Die Hand des Zeichners
ist dagegen das komplizierteste Kräftegefüge, das es überhaupt
gibt, und sein Resultat ist nicht reproduzierbar.31 Aus dieser Tatsache
resultieren sowohl die Authentizität als auch das Testamentarische
jeder Linie. Obwohl die Hand nichts Vollkommenes erzielen kann, bemüht
sie sich doch darum, und sucht oftmals Hilfe bei Werkzeugen wie Stiften,
Haltern, Verlängerungen, Linealen, Radiergummis, Spitzern und Zirkeln.
Die Zeichnung gehört in der Evolution der Hand zu den ältesten
Ursprüngen von Schrift und graphischer Darstellung. Sie gehört
zur ersten Stufe der Evolution, in welcher die Hand in direkter Motorik
ein Werkzeug verwendet. Aus diesem Grunde haftet Handzeichnungen immer etwas
Archaisches an, etwas für unsere Zeit eigentlich Anachronistisches,
historisch (scheinbar) Überholtes. Deshalb erinnert eine gute Handzeichnung,
egal aus welcher Epoche sie stammt, immer an die Arbeit und das Können
der Hand. Sie wird in unserer heutigen Zeit zu einem anachronistischen Sondermedium
mit einer Sonderleistung an ästhetischer Sinnstiftung, die uns in einer
Zeit, in der Handarbeit einen niedrigen, gesellschaftlichen Status besitzt,
wieder an die ungeheure Präzision und Fähigkeit der Hand erinnert.
Der französische Paläanthropologie Andre Leroi-Gourhan hat
darauf hingewiesen, dass zu Beginn der ersten graphischen Darstellungen,
also etwa um 30 000 v. Chr., zur Zeit des Übergangs vom Präanthropus
zum homo sapiens, die Entwicklung der Zeichnung und der Schrift nicht getrennt
voneinander begriffen werden können. Beide haben ihre gemeinsamen Ursprünge
in der Befreiung der Hand von der Funktion der Fortbewegung und in der Spezialisierung
des Gesichts für Beobachtung und Sprache. Beide gehen von abstrakten,
rhythmischen und gestischen Darstellungen aus. Die ältesten bildlichen
Darstellungen sind rhythmische Knochen- oder Felsritzungen. Sie stellen
graphische Pflöcke dar oder abstrakte Notationen ohne deskriptiven
Bezug. Sie sind Stützpunkte eines mündlichen Kontextes, der längst
verlorengegangen ist.32 Zeichnung und Schrift haben also, anthropologisch
gesehen, denselben Ursprung in der Geste der Hand und in der reflexiven
Beobachtung des Gesichtssinnes. Der aufrechte Gang befreite die Hand und
die Hand setzte die Schrift und die Zeichnung frei. Das Auge kontrollierte
die motorische Koordination der Hand, welche dadurch ihre Feinmotorik entwickeln
konnte . Man muss, medienanthropologisch gesehen, von einer gemeinsamen
Entwicklung von Aufzeichnungssystemen wie der Schrift und der Handzeichnung
ausgehen.33 In der Handzeichnung spaltet sich ein Teil des Denkens von der
linearisierten Sprache ab, um den Zugang zu jenen Inhalten zu bewahren,
die einer strengen Notation entgehen. Welche Zugänge, die der linearen
Schrift nicht möglich sind, bewahrt die Handzeichnung auf? Sie ist
eine direkte Ausdrucksmöglichkeit der Logik der Hand. In der sichtbaren
Spur der Hand lässt sich das visuelle Denken des Zeichners re-konstruieren.
Im Gegensatz zur geschriebenen oder gesprochenen Sprache, die ihre Unterscheidungen
nur in der linearen Sukzession von Wort zu Wort und von Zeile zu Zeile setzen
kann, kann die Zeichnung ihre visuelle Logik strahlenförmig ausbreiten.
Damit steht sie sowohl in einem basalen Verhältnis zum Unaussprechlichen
wie zur Religion, als Mythographie eines mündlichen Kontextes, der
längst verlorengegangen ist. 34
Handzeichnung erinnert an unsere Ursprünge, an den gemeinsamen Ursprung
von Schrift und Zeichnung. Immer haftet ihr etwas von einer verzweifelten
Überwindung dieser permanenten Auslöschung unserer Ursprünge
an, den Erinnerungen an unsere eigene Kindheit, der Evolution unserer Gattung
und der Geschichte der Kunst als einer Geschichte ihrer von Künstlern
mühselig freigekämpften Errungenschaften an. Im Grunde haben wir
im Prozess des Zeichnens einen kybernetischen Regelungskreislauf vor uns,
zwischen muskulärer Bewegung, hinterlassener Spur und visueller Beobachung.
Heute erscheint die Hand nur noch als flaches, zweidimensionales Ikon mit
ausgestrecktem Zeigefinger über den Schaltflächen eines Internet-Bildschirms
oder als Datenhandschuh einer digitalen Hand.35
Durch die Unmöglichkeit der Zeichnung, Welt zu repräsentieren,
begründet sich rückwirkend der Wunsch nach einer verstärkten
Präsenz. Erst dort, wo nichts mehr anwesend ist und alles nur noch
vertreten wird, kommt der Wunsch nach Präsenz, nach Anwesenheit, nach
Gegenwart, nach direkter Anschauung, nach 'Gegebenem', nach Materialität
erst auf. Jedes Kürzel, jeder Fleck, jeder Ritzer auf einem Blatt ist
seinem Wesen nach testamentarisch.36 Daher steht für den Zeichner,
und vielleicht auch für den aufmerksamen Beobachter, die Zeichnung
in einem grundlegenden und nicht reduzierbaren Verhältnis zur Ökonomie
des Todes. Die Zeichnung als authentischer Ausdruck der Hand ist in jedem
Moment direkt mit dem Tod und mit dem Gedanken der Quelle verknüpft.
Als Form der Präsenz ist sie der Ort der Geburt von Sinn. Als Form
der Abwesenheit ist sie der Ort des Todes.
Das Medium des Zeichnens
Die Technik des Zeichnens beruht in ihrer allgemeinsten Form auf zwei
Methoden. Erstens operiert sie mit der Abreibung eines weicheren Mediums
wie des Stiftes, der Kreide oder Pigmenten auf einem härteren Medium
wie z.B. dem Papier, dem Karton oder der Wand. Das weichere Medium reibt
sich dabei ab, ver-formt sich oder geht verloren. Das härtere Medium
bleibt dagegen als Form, als In-Formation bestehen.37 Zeichnen beruht also,
von der Produktion des Mediums her gesehen, sowohl auf einem Gewinn wie
auf einem Verlust. Verloren geht das Weichere, erhalten bleibt das Härtere,
Dichtere, und Festere. Das Weichere bleibt dagegen als Abrieb, als Spur,
als vermeintlicher Ursprung im Härteren erhalten. Somit ist die Spur
auf einem Blatt von Anfang an ein Stellvertreter, ein 'transparenter' Platzhalter
von etwas Verlorengegangenem.38
Es gibt in der Zeichnung allerdings auch den umgekehrten Vorgang, der
jedoch seltener benutzt wird. Er beruht auf dem Eindrücken einer härteren
Form in ein weicheres Medium, wie der Kaltnadel ins Kupfer, der Ritzung
ins Glas oder in den Schiefer, Schnitte ins Papier, oder Einprägungen
von Modeln in Karton. Hier wird ein weicheres Medium von einem härteren
'gezeichnet'. Es handelt sich hier um eine Form von 'Stigmatisierung' oder
'Kenn-Zeichnung'. Das härtere Medium bleibt hier als Spur, als Ver-Formung,
als In-Formation im weicheren Medium erhalten. Die zwei allgemeinen Methoden
des 'Zeichnens' eines Mediums geschehen also entweder durch Abrieb oder
durch Einprägung.
Was ist nun das Medium der Handzeichnung? Dazu muss man differenzierend
hinzufügen, dass es sich um einen Sammelbegriff handelt, der eigentlich
eine Mediengattung zusammenfasst, in der viele verschiedene Einzelmedien
vereint werden. Papierzeichnung, Wandzeichnung, Tafelzeichnung, Plotterzeichnung,
das Skizzenbuch, etc. sind typische Einzelmedien. 'Das Medium' selbst ist
ein abstrakter Begriff. Es lässt sich nicht beobachten. Wir können
nur anhand von einzelnen Zeichnungen und einzelnen Formen auf das ihnen
zugrundeliegende Medium zurückschliessen. In den einzelnen Blättern
und ihren Formenhat sich das Medium auf Dauer gestellt. Es hat sich zu einer
Speicherform verdichtet, auf die bei Bedarf zurückgegriffen werden
kann. Die wichtigste mediale Funktion der Zeichnung ist die Speicherfunktion,
die Stellung von Kommunikation auf Dauer. Hier bildet das Medium eine wichtige
Schnittstelle in der Kopplung von (privatem) Bewusstsein und (öffentlicher)
Kommunikation. Sie gliedert sich in das grosse und vielfältige Archiv
der Medien und Speicherformen unserer Kultur ein. Sie entlastet als überdauernde
Speicherform den Beobachter von einer direkten Reaktion oder Anschlusskommunikation.
Damit sind Zeichnungen, medientheoretisch gesehen, Pufferungen, die das
Risiko von Kommunikationen, also die Möglichkeit, missverstanden zu
werden, abfedern, indem sie kommunikative Anschliessbarkeit auf Dauer verfügbar
machen. Damit wird die Komplexität der ästhetischen Erfahrung,
d.h. ihre strikte Bindung an ein Hier und Jetzt der Ausstellung von Handzeichnungen
temporalisiert, d.h. ins Zeitliche verlagert.
Das Gedächtnis der Zeichnung
Handzeichnungen stellen eine besondere Form von sozialem Gedächtnis
dar. Denn sie bewahren als stabile Speicherformen Elemente des (kollektiven)
Gedächtnisses unserer Kultur auf. Zunächst einmal scheint es so,
als seien sie nur Darstellungen individueller oder privater Erfahrungen,
welche durch die erfahrene Hand des Künstlers in eine stabile und überdauernde
Form gebracht wurden. Aber der Soziologe Maurice Halbwachs hat wiederholt
darauf hingewiesen, dass es keine privaten Gedächtnisse geben kann.39
Sie scheiden aus, weil sich ein solches Gedächtnis immer, um überhaupt
verstanden werden zu können, öffentlich beobachtbarer, sozialer
Medien wie Sprache, Schrift oder Bild als Speicherformen bedienen muss.
Jedes scheinbar noch so 'private' Gedächtnis ist daher immer schon
ein soziales Gedächtnis, eine kulturelle Form, die sich in historischer
Evolution herausdifferenziert hat.
Es bietet sich bei dieser Frage an, die Formen eines aktuellen, benutzten
Gedächtnisses von den Formen eines nicht benutzten, archivierten, aber
für Kommunikation bereitgehaltenen Gedächtnisses in der Gesellschaft
zu unterscheiden. Den aktuellen Teil, der in der Kommunikation gerade benutzt
wird, könnte man Erinnerung nennen.40 Den nicht gebrauchten, abgespeicherten
und ausgelagerten Teil könnte man Gedächtnis nennen. Das kommunikative
Gedächtnis besteht in der mündlichen Überlieferung, in dem,
was vom jüngsten Ursprung der Geschichte in den persönlichen Erinnerungen
der Lebenden noch existiert. Dieses Gedächtnis für die rezente
Vergangenheit reicht jedoch in der Regel nicht mehr als drei Generationen
zurück.
Der Übergang von der Erinnerung zum Gedächtnis, das längerfristige
Speicherformen kennt, wird in erster Linie durch Medien gewährleistet.
Dadurch können auch spätere Generationen zu Zeugen eines längst
vergangenen, in seinen Einzelheiten vergessenen Ereignisses werden. Bildhafte,
schriftliche oder elektronische Aufzeichnungssysteme erweitern daher drastisch
den Radius der Zeitgenossenschaft. Durch Materialisierung der In-Formationen
auf beständigen Trägern sichern sich Medien einen dauerhaften
Bestand im kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft. Allerdings ist
der Rückweg einer solchen stabilen Speicherform aus dem kulturellen
Archiv in die Erinnerung keineswegs automatisch sichergestellt. Dazu bedarf
es wiederum anderer Medien wie der Sprache, der Schrift oder des Bildes,
welche die in einer Zeichnung gespeicherten In-Formationen re-aktualisieren
oder re-konstruieren. Zu solchen Medien der Re-Aktualisierung oder Ver-Gegenwärtigung
zählen vor allem kognitive Medien wie das Gehirn und die Sprache. Erst
über erneute Anschlusskommunikationen mit Hilfe anderer Medien werden
Zeichnungen als kulturelle Speichergedächtnisse in die aktuelle Erinnerung
unserer Gesellschaft zurückgeholt.
Während also die Erinnerung als ein aktuelles Kommunikationssystem
in den Situationen des Alltags zirkuliert, liegt das kulturelle Gedächtnis
einer Zeichnung nur potentiell für Kommunikation bereit. Es bedarf
spezieller Aktualisierung. In ihrer Materialität ist sie aber vollständig
präsent: als materieller Träger in einer bestimmten Form an einem
bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit.
Der Einsatz von Zeichnungen als Medien in einer vorwiegend bildorientierten
Kultur41 bietet die grundsätzliche Möglichkeit, kulturellen Sinn
extern zu speichern, um ihn damit in dauerhaften Formen und materiellen
Trägersystemen zu bewahren. Das Gedächtnispotential einer Handzeichnung
besteht in der Kodierung und Speicherung von Informationen jenseits lebender
Träger, unabhängig von der Aktualisierung oder Erinnerung konkreter
Beobachter. Da wesentlich mehr gezeichnet und gespeichert werden kann, als
tatsächlich beobachtet und damit aktualisiert werden kann, fallen die
medialen Funktionen von Handzeichnungen in einen aktuellen, benutzten Vordergrund
und in einen inaktuellen, ausgelagerten Hintergrund auseinander. Sie spalten
sich in Aktualität und Potentialität.
Handzeichnungen als Speicher enthalten einen unsortierten Vorrat, der
in verschiedensten Depots, Archiven, Lagern, Institutionen und Zugriffsmöglichkeiten
gestapelt ist (in privater, öffentlicher, zugänglicher oder unzugänglicher
Form). Jede konkrete Kunsterfahrung bildet eine selektive Aktualisierung
und Erinnerung der Speicherfunktionen der Handzeichnung. Das kulturelle
Speicher-Gedächtnis der Handzeichnung verliert dagegen in seiner Archivierbarkeit
an Konturen. Es gewinnt sie erst wieder durch die kommunikative Anknüpfung
eines Beobachters, sei es in einer Ausstellung, in einer Graphischen Sammlung
oder in einer Kunstgalerie. Am Prozess der Erfahrung von künstlerischen
Handzeichnungen sind also verschiedene Mediensysteme beteiligt: Erstens
das Medium der Handzeichnung selbst als materieller Träger und medialer
Speicher der in ihm geformten In-formationen. Zweitens die Medien des Beobachtens
und Aktualisierens: der Wahrnehmung, der Sprache, der Schrift, der Geste,
usw.
Die zweite Bedeutung kultureller Speichersysteme besteht in der besonderen
Lizenz, die in der Entlastung vom permanenten sozialen Gebrauch und Kommunikationszwang
besteht. Gerade dies gilt in besonderem Masse für das Sondermedium
der künstlerischen Handzeichnung. Sie ist gegenüber der erklärenden
Zeichnung von ihrem sozialen Gebrauch in mündlichen Kontexten befreit
und konnte somit, historisch gesehen, auf Dauer gestellt werden, d.h. als
eine erhaltens- und sammelnswerte, kulturelle Medienform erkannt werden.
Typische Kontexte, in denen solche Entlastungslizenzen bestehen, stellen
das Kunstsystem, das Museum, die Bibliothek, das Archiv und die Wissenschaften
dar. In solchen Spezialkontexten werden kulturelle Speicherformen stabilisiert
und auf Dauer verfügbar gehalten. Ein Teil dieser in Handzeichnungen
eingeschriebenen Informationen muss jedoch als unzugänglich gelten.
Es handelt sich um jene Elemente der Zeichnung, die alleine im Rahmen einer
wissenschaftlichen oder historischen Rekonstruktion herausgearbeitet und
aktualisiert werden können. Andere Elemente der Handzeichnung sind
dagegen über didaktische Medien oder Medien der Erfahrung für
das kommunikative Bewusstsein eines zeitgenössischen Betrachters erschliessbar.
Mit der Entwicklung der Schrift und der Zeichnung entsteht zum ersten
Mal in der Geschichte der menschlichen Evolution die Möglichkeit, das
kulturelle Gedächtnis in materielle Träger auszulagern, zu bewahren
und damit von kommunikativem Gebrauch zu distanzieren. Diese Lizenz der
materiellen Medien entlastet vom permanenten Kommunikationsdruck oraler
Kulturen. Die Erfindung der Schrift und der Zeichnung bedeuten daher einen
entscheidenden Einschnitt in die Geschichte der kulturellen Speicherung
und des sozialen, kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft. Die
Kulturtechniken des Schreibens und Aufzeichnens ermöglichten nicht
nur eine Dauerstellung der Materialitäten, sondern auch eine Temporalisierung
der Komplexität von Kommunikation.42 Durch die Lockerung des Kommunikationsdrucks,
wie er für mündliche Kontexte typisch ist, erwerben künstlerische
Handzeichnungen eine Sonderlizenz, die ihren punktuellen Gebrauch von Situation
zu Situation im Rahmen aktualer Kommunikationssysteme wie dem Kunstsystem
sicherstellt.
Die Sozialität der Zeichnung
Wodurch wird die künstlerische Handzeichnung nun zu einem Sozialmedium?
Solange sie nicht Anlass und Auslöser von Kommunikation ist, sondern
nur Speicherpotential, bleibt jede Zeichnung ein beliebiger Gegenstand wie
jeder andere auch in der Welt. Wenn sie aber in einem kommunikativen Anschlussverhalten
eines Beobachters zu einem spezifisch codierten Kommunikationselement in
der zwischenmenschlichen Verständigung des Kunstsystems wird, dann
wird das Speichergedächtnis der Zeichnung zu sozialer Kommunikation,
durch welche Verständigung innerhalb eines bestimmten Teilbereichs
der Gesellschaft, nämlich dem Kunstsystem, stattfindet. Aufgrund der
Tatsache, dass eine künstlerische Handzeichnung mit einer ganz bestimmten
Art von Kommunikation rechnet, ja rechnen muss, um überhaupt verstanden
werden zu können, wird sie automatisch zu einem öffentlichen,
sozialen Kommunikationsmedium. Wir müssen daher, wenn wir eine Medientheorie
der Handzeichnung anstreben, auf die typischen Gebrauchs- und Verwendungssituationen
von Zeichnungen im gesellschaftlichen Kontext achten. Der soziale Gebrauch
künstlerischer Handzeichnungen findet jedoch nicht in einem luftleeren
Raum oder einem sozialen Vakuum statt. Sie sind vielmehr in ein umfangreiches
Feld aus Konventionen, Standardverhaltensweisen, Werthaltungen, Normen,
Einstellungen, Erwartungen, Wissensbeständen, Vorurteilen usw. eingebettet.
Dieses Feld aus Konventionen ist historisch wandelbar. Es bildet keine absolute,
für immer gegebene 'Natur', sondern entsteht im sozialen Umgang, in
der Bildung von Gewohnheiten, die sich entweder wiederholen oder verändern
können. Man muss die künstlerische Handzeichnung als soziales
Sondermedium stets vor dem Hintergrund dieser speziellen Einbettungssituation
verstehen.
Das soziale Feld, das einen Rahmen für die Kommunikation und im
Falle der Kunst, für die ästhetische Erfahrung abgibt, engt die
mögliche Bandbreite individuellen Produzierens, Präsentierens
und Verstehens von Zeichnungen ausserordentlich ein. Jede Zeichnung ist
daher schon lange, bevor sie entsteht, in ein soziales Umfeld aus Vorbedingungen,
Konventionen, Normen, Sachzwängen und Ansprüchen eingebettet,
innerhalb dessen sie als Kommunikation funktionieren muss, wenn sie als
Kunst geschätzt, beurteilt und verstanden werden will. Ausserhalb dieses
sozialen Raumes funktioniert Handzeichnung als Kunst nicht. Man kann dies
im Rückblick auf historische Epochen erkennen, die andere Konventionen
und Ansprüche an eine 'gute' Zeichnung stellten. Man muss jedoch hinzufügen,
dass das Überschreiten und Missachten solcher Konventionen, Standards
und Erwartungshaltungen spätestens seit dem 16. Jahrhundert, als der
Name des Künstlers für immer mit seinem Werk verknüpft wurde
und das Neue, Überraschende zu einem wichtigen Qualitätskriterium
für Kunst wurde seinerseits zu einer erwarteten und erwartbaren Erwartungshaltung
wurde. Das Missachten der sozialen Konventionen wurde seinerseits zu einer
sozialen Konvention für die Künstler unter der Erwartungshaltung
von Originalität, von Überraschung und von Neuigkeit.43
Die künstlerische Handzeichnung grenzt im Gegensatz zur erklärenden
Zeichnung an Unverständliches, Unaussprechliches, Asoziales, weil sie
als ein Sondermedium des Kunstsystems durchaus damit spielen kann, nicht
erwartet, nicht angenommen und nicht verstanden werden zu müssen. In
einer relativ grossen Bandbreite zwischen privater, unzugänglicher
Hermetik und öffentlichen Erwartungshaltungen an das Verstehen spielt
die künstlerische Handzeichnung Möglichkeiten durch, die den medialen
Kommunikationssystemen der Gesellschaft so nicht gestattet werden. Normale
Alltags- oder Massenmedien operieren dagegen unter dem doppelten Erwartungshorizont
des Verstehens.44
Zeichnung ist also immer schon, noch bevor sie geschaffen wird, ein potentiell
beobachtbares, öffentliches Medium. Sie lässt sich als Ausdruck
innerer, privater oder individueller Zustände nicht ausreichend charakterisieren.
Zur Privatheit innerer Zustände haben wir als Beobachter keinen Zugang.
Ferner strukturiert sich das, was wir als private, innere Zustände
beschreiben, stets gemäss einer öffentlichen Sprache und einer
sozialen Übereinkunft. Zeichnung ist immer öffentlich, da sie
auf Kommunikation zielt, auf Kommunikation angelegt ist und nur in den Anschlüssen
kunstspezifischer Kommunikationen funktioniert. Zeichnung muss daher als
ein Sozialmedium aufgefasst werden, das immer schon, von vorne herein in
einen sozialen Raum von historisch wandelbaren Konventionen und Erwartungshaltungen
eingebettet ist, in dem sie ausschliesslich als Kunst funktioniert.
1 Für die kritische Lektüre einer früheren Fassung dieses
Textes danke ich insbesondere Hannelore Paflik-Huber, Hanns Hubach und Manfred
Lepold.
1 Besonders im Handwerk, in der Architektur und im Design finden wir diese
nicht in erster Linie künstlerischen Bildproduktionen. Darunter fallen
u.a. erklärende Zeichnungen, Skizzen, Graffiti, Diagramme, usw.
2 Vgl. Johannes Meinhardt: Einschreibung und Differentielle Oberfläche.
Die Konstrution von Sichtbarkeit in der Malerei. Diss. Tübingen 1991,
S. 25f.
3 James J. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in
der visuellen Wahrnehmung. München u. a. 1982, S.16. Es gibt deswegen
Grenzflächen zwischen fester und flüssiger Materie, fester und
gasförmiger Materie, flüssiger und gasförmiger Materie.
4 Fredric Jameson: Postmodernism, or the Cultural Logic of Late Capitalism;
in: New Left Review, 146, (1984), S. 53-92; sowie Rosalind Krauss: Die kulturelle
Logik des spätkapitalistischen Museums; in: Texte zur Kunst, Vol.2,
Nr.6, Juni 1992, S.131-145
5 Vgl. Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische
Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt/M. 1991, S. 53
6 Wer den Verlauf der Schlachtlinien verfolgen möchte, der sei auf
die zwar anstrengende, aber faszinierende Lektüre des Stichwortes 'Materie'
in Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch
der Philosophie, Darmstadt 1980, Bd. 5, Sp. 870-923 verwiesen.
7 So Michael Giesecke: Der Buchdruck der frühen Neuzeit. Eine historische
Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien.
Frankfurt/M. 1991, S.38
8 Siehe hierzu Vilém Flusser: Lob der Oberflächlichkeit. Für
eine Phänomenologie der Medien. Bensheim: Bollmann Verlag 1993, S.290:
"In der [Zeichnung] ist die Materie die Art, wie die Formen erscheinen."
9 Siehe zur Materialität der Sprache auch Julia Kristeva: Language:
the Unknown. An Initiation into Linguistics. London u.a. 1989, S. 18-40
10 Niklas Luhmann: Zeichen als Form; in: Dirk Baecker (Hg.): Probleme der
Form. Frankfurt/M. 1993, S.51
11 Nelson Goodman hat diese Symbolfunktion in seinem Buch Sprachen der Kunst.
Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, Frankfurt/M. 1973, S.62-66 unter dem
Begriff der Exemplifikation zu beschreiben versucht. Er hätte es aber
mit dem Begriff Selbstreferenz viel einfacher gehabt, der ihm aber zur damaligen
Zeit offensichtlich noch nicht zur Verfügung stand.
12 Jacques Derrida hat in Grammatologie, Frankfurt/M. 1974, S. 114-128 eine
lange Passage dem Mysterium der Präsenz der Urschrift gewidmet, die
ihren Ursprung verleugnen muss.
13 Niklas Luhmann: Die Paradoxie der Form; in: Dirk Baecker (Hg.): Kalkül
der Form. Frankfurt/M. 1993, S. 197-212
14 George Spencer Brown: Laws of Form, (1968), Neudruck New York 1979, S.
3. Sein Ziel lag in erster Linie darin, die Algebra der Logik vom Gegenstand
der Logik zu trennen und sie wieder mit der Mathematik in Verbindung zu
bringen. Also handelt es sich um nichts, was auf den ersten Blick auch nur
annähernd etwas mit Kunst zu tun haben könnte. Auf den zweiten
Blick ist dieser Formenkalkül jedoch so suggestiv und faszinierend,
dass man ihn ohne weiteres zum Ausgangspunkt einer Theorie der Handzeichnung
machen kann.
15 Vgl. Ranulph Glanville: Objekte. Berlin 1988, S.150 und 152; sowie Fritz
B. Simon: Mathematik und Erkenntnis: Eine Möglichkeit, die 'Laws of
Form' zu lesen. in: Dirk Baecker (Hg.): Kalkül der Form. Frankfurt/M.
1993, S. 56
16 Vgl. in Bezug auf die Malerei Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer
Phänomenologie. Bensheim 1993, S. 96 ff.
17 Spencer Brown, a.a.O., S. 69: "We may also note that the sides of
each distinction experimentally drawn have two kinds of reference. The first,
or explicit, reference is to the value of a side, according to how it is
marked. The second, or implicit, reference is to an outside observer. That
is to say, the outside is the side from which a distinction is supposed
to be seen."
18 Spencer Brown, a.a.O., S. 3: "Call it the first distinction."
19 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen. Aus dem Nachlass hrsg.
von Rush Rhees. Werkausgabe Bd.2, Frankfurt/M. 1984, S.133: "Wovon
3 Striche ein Bild sind, als dessen Bild können sie dienen."
20 Vgl. dazu z.B. die persönlichen Beobachtungen Thomas Lehnerers in
Methode der Kunst, Würzburg 1994, S. 103ff.
21 Spencer Brown, a.a.O., S. 3: "Call the space in which it is drawn
the space severed or cloven by the form."
22 Vgl. Niklas Luhmann: Weltkunst; in: Niklas Luhmann/Dirk Baecker/Frederick
D. Bunsen: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld
1990, S. 42-45
23 Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S. 38,46
24 So schreibt George Spencer Brown in seinen ergänzenden Notizen zum
letzten Kapitel des Formenkalküls folgende kryptische Sätze: "Daher
muss die Welt immer, sobald sie uns, ihren Stellvertretern, als physikalisches
Universum erscheint, so vorkommen, als würde sie mit sich selbst ein
Versteckspiel treiben. Was entdeckt ist, wird verborgen, aber was verborgen
ist, wird wiederum entdeckt. Und da wir sie [die Welt] repräsentieren,
wird diese Verdunkelung unser Leben im Allgemeinen bestimmen, und die Mathematik
im Besonderen."
25 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, II, 1.Teilband,
Zürich 1977, S.43
26 Henri Focillon: Lob der Hand. Mit e. Einf. von René Huyghe über
Henri Focillon als Kunsthistoriker. Bern 1958, S. 20
27 Bernhard Hauser: Die Materialität des Denkens. Über die Zweispältigkeit
der materiellen Vernunftgründe. Diss. Marburg 1979, S.188-192
28 Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik,
Sprache und Kunst. Frankfurt/M. 1988, S. 296-320
29 Siehe hierzu für den Bereich der künstlerischen Handzeichnung
z.B. Angela Bulloch: Betaville; Bench Activated Drawing Machine, 1994; abgebildet
in Klaus Biesenbach/Nicolaus Schafhausen: nach weimar, Ausst. Kat. Kunstsammlungen
Weimar 23.6. -28.7.96, S. 71
30 Siegfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur
anonymen Geschichte. Frankfurt/M. 1987, S.69f.
31 Rudolf Arnheim: Zur Psychologie der Kunst, Köln 1977, S. 278f.
32 Leroi-Gourhan, a.a.O., S. 240
33 Leroi-Gourhan, a.a.O., S. 42.
34 Kristeva, a.a.O., S.26f.
35 Siehe dazu Agnes Hegedüs: Die Hand als Schnittstelle; in: Kunstforum
International, Bd.132, Nov./Dez. 1995, S.176f.
36 Derrida, Grammatologie, a.a.O., S.120
37 Damit etwas Form werden kann, In-Formation für einen anderen, muss
sich eine härtere Form in einem (weicheren) Medium verdichten können.
Die Form des Mediums, also die spezifische Form der Zeichnung, ist härter,
stabiler und dichter als das Medium selbst, das durch eine gewisse Rekombinierbarkeit
und Auflösungsfähigkeit ausgezeichnet ist. Vgl. hierzu auch Vilém
Flusser: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie
der Medien. Bensheim: Bollmann Verlag 1993, S.292
38 Die stoische Philosophie hatte zwischen einem aktiven und einem passiven
Teil der Materie unterschieden. Derjenige Materie-Teil, der die Fähigkeit
des Erleidens besitzt, ist das Zugrundeliegende, die Materie im engeren
Sinne. Der aktive Materie-Teil, der die Fähigkeit des Bewirkens besitzt,
wurde als vernunftartiges, göttliches Pneuma gekennzeichnet. Das Pneuma
durchdringt als äusserst feines, elastisches Medium die trägen
Teile der Materie, d.h. der Materie im engeren Sinne.
39 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/M. 1985;
ders.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt/M.
1985
40 Die folgenden Ausführungen nehmen Anregungen auf von Aleida Assmann/Jan
Assmann: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. in:
Merten, Klaus/ Schmidt, Siegfried J./ Weischenberg, Siegfried (Hrsg.): Die
Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft
. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 114-140. Aleida und Jan Assmann
haben diesen Unterschied durch eine etwas irreführende begriffliche
Differenzierung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis
zu verdeutlichen versucht. Ich möchte stattdessen zwischen Erinnerung
und Gedächtnis unterscheiden, wobei mit Erinnerung stets der aktuelle,
in der Kommunikation benutzte Teil des sozialen Gedächtnisses gemeint
ist und mit Gedächtnis der gespeicherte, ausgelagerte Teil unserer
Kultur, den man sich als einen bereitgehaltenen Speicher, ein Depot, Archiv
oder Lager vorstellen kann.
41 Vgl. Daniela Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur. Analyse
aktueller Medientheorien. Berlin 1995; ferner Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit.
Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt/M. 1990
42 zum Begriff siehe Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer
allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, S. 76ff.; ders.: Temporalization
of complexity. In: R.F. Geyer/Johannes van der Zouwen (Hg.): Sociocybernetics.
An actor-oriented Social Systems Approach, Bd.2, Leiden 1978, S. 95-111
43 Siehe hierzu Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems.
Bern 1994, S. 41-49; ferner ders.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.
1995, S.112-123
44 Gebhard Rusch: Verstehen verstehen. Kognitive Autonomie und sziale Regulation.
in: Funkkolleg Medien und Kommunikation. Konstruktionen von Wirklichkeit.
Hessischer Rundfunk1990, S.3: "Verstehen - einer Orientierungserwartung
entsprechen. In der zwischenmenschlichen Interaktion und Kommunikation bezeichnet
'Verstehen' den Sachverhalt, daß ein Hörer das vom Sprecher erwartete
bzw. erwünschte (das gemeinte) Verhalten zeigt. Verstehen wird dem
Hörer dann vom Sprecher zugeschrieben."
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