Hans Dieter Huber
"was ist die wirklichkeit, er sagt man könne sie hier finden". Zur Installation "Höhen" von Silke Koch

First Installation: 05.12.1998 Last Update: 05.12.1998

erschienen als: Eröffnungsrede zur Ausstellungseröffnung Kunstverein Elsterpark, Leipzig am 2. Juli 1998

In einem der zahlreichen Stimmenfragmente der Installation kann man folgenden Spruch hören: "von welcher Herausforderung war vorhin die Rede, der Wirklichkeit, was ist die Wirklichkeit, er sagt, man könne sie hier finden".

Dieses Bruckstück umschreibt so etwas wie ein Motto oder ein mögliches Motiv dieser Ausstellung. Es geht um die Wirklichkeit und wie man sie finden kann. Aber damit fangen die Probleme auch schon an. Denn was ist "die Wirklichkeit" und wie kann man sie "wirklich" finden? Man kann sie hier finden, in diesem Raum und in dieser Installation. Sie erschafft eine Wirklichkeit, indem sie diese mit den spezifischen Mitteln der Kunst erzeugt, also ver-wirklicht.

Fragen wir daher nach den Bestandteilen dieses Systems von Welterzeugung. Da sind zunächst einmal schwarze Punkte an der Wand mit Zahlen. Auf den ersten Blick ergeben sie keinen Sinn. Auf den zweiten Blick jedoch merkt man, daß die Zahlen umso höher werden, je weiter man an den Wänden nach oben blickt. Eine horizontale Schichtung imaginärer Höhenlinien bildet sich im kognitiven System des Beobachters. Assoziationen an Berggipfel oder an Wettkampfwertungen können auftauchen.

Hinzu kommt der Raum als konstitutives Element des Systems. Es handelt sich um einen merkwürdigen, seltsamen Raum. Er ist nämlich wesentlich höher, als er breit ist: 6.20m x 5,00m x 5,20m. Eine Art Schacht, ein Kamin, der den Blick quasi automatisch an den Wänden nach oben lenkt. Man hat das Gefühl, in einem Bassin oder oder einem Treppenhaus zu stehen.

Ein weiteres Element des Systems ist die Einladungskarte mit dem Titel "Höhen". Er liefert ein erstes externes Feld von Referenzen: Berghöhen, Tonhöhen, Anhöhen, auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe seines Erfolges. Allerdings sind die Buchstaben auf der Karte vertikal angeordnet, so daß man sie zuerst automatisch von oben nach unten liest. Man verliert im Lesen sozusagen buchstäblich an Höhe, bevor sich dann der Sinngehalt des Wortes von unten nach oben als ein mühseliger Aufstieg allmählich konkretisiert. Erst der Fall, dann der Aufstieg, eine sehr symbolische Einladungskarte, die einen wichtigen referentiellen Kontext für die Arbeit bereitstellt.

Die dominantesten Elemente des Systems sind jedoch die fünf Lautsprecher, aus denen Stimmenfragmente zu hören sind. An jeden Lautsprecher ist ein CD-Player angeschlossen, der per Zufallsgenerator die einzelnen Soundtracks abruft. Insgesamt handelt es sich um ca. 60 verschiedene Soundfiles. Durch ihre räumliche und zeitliche Abfolge entstehen verschiedene imaginäre Gesprächssituationen. Einer sagt z. B. etwas, aber niemand antwortet. Oder einer sagt etwas und zwei andere antworten fast gleichzeitig. Zwei sagen etwas und einer antwortet, oder alle reden durcheinander. Soziale Interaktion wird auf diese technische Weise vorgetäuscht. Wir hören Sätze, verbinden die einzelnen Anschlußkommunikationen mit dem vorher Gesagten, wägen ab, beziehen Stellung, hören aufmerkam zu, bis unser Interesse nachläßt und das Gehörte zum Hintergrundrauschen der Umwelt wird.

Wir wissen genau, was die Pausen bedeuten. das Schweigen, die Anschlußlücke, das zu lange Warten auf Antwort. Ein stockendes, unvollkommenes, von schlechtem Einverständnis getragenes Gespräch entsteht. Man redet dazwischen und unterbricht.

Von zentraler Bedeutung dagegen wird unsere eigene Interpretation des Gehörten. Da alle Soundfiles vollkommen zufällig abgerufen werden, ist der Sinn und die Bedeutung, die wir der Unterhaltung beimessen, volständig unsere eigene Interpretation. Die Toninstallation ist ein gutes Beispiel dafür, daß Sinn eine absolut selbstrefrentielle Konstruktion des kognitiven Systems eines Beobachters ist und nichts, aber rein gar nichts mit den zufälligen Abfolgen der Soundfiles zu tun hat.

Allmählich kristallisieren sich verschiedene Sprecher heraus, zwei Frauen und drei Männer. Nennen wir sie die Protagonisten. Je länger man zuhört, desto deutlicher werden der Charakter und die Einstellungen des jeweiligen Sprechers. Es geht ums Durchhalten, Wissen, Zweifel, Möglichkeiten, Siege, Eroberungen, Kraft, Gründe, Einsamkeit, Gefühle, Ängste,Träume, Inspirationen, Sinnfragen.

Damit wird die Arbeit Silke Kochs zu einem treffenden Bild, zu einem Symbol oder einer Metapher für die Höhen und Tiefen des Lebens, für die Unsicherheiten, die Zweifel, den Willen, die Pläne, die Gründe oder die Ängste einer Zeit. Es spielt keine Rolle, woher die Töne ursprünglich stammen. Die Etikettierung der Ursprungsreferenzen verengt die ästhetische Weite an Erfahrungsmöglichkeiten unnötig. Wenn ich jetzt sage, woher die Sounds stammen, werden sie an sich selbst beobachten können, wie Ihre Wahrnehmung der Bedeutungshorizonte schrumpft. Sie stammen nämlich aus dem amerikanischen Spielfilm "The White Tower" von Ted Tetzlaff aus dem Jahre 1950, in dem es um die Erstbesteigung eines noch nie bezwungenen Berges geht, und in dem im Laufe des Gipfelsturms die unterschiedlichen Charaktereigenschaften der einzelnen Personen immer schärfer in Kontrast zueinander treten. Aber es wäre eine Fehlwahrnehmung oder eine Fehlkonstruktion, die Installation lediglich auf eine Bergproblematik oder Naturmetaphorik begrenzen zu wollen.

Fragen wir deshalb, ob wir schon alle Systemelemente benannt haben? Es fehlt die wichtigste und zentralste Instanz, nämlich der Beobachter bzw. das Publikum, das heute hier ist. In ihren kognitiven Systemen entstehen Sinn und Bedeutung der Arbeit Silke Kochs auf eine Art und Weise, die eine ureigene, persönliche Struktur erzeugt. In jedem Beobachter treffen die Zahlen und die Sätze auf eine präformierte Oberfläche, die aufgrund unterschiedlicher Biographien, Sozialisationen, Lebenserfahrungen oder Einstellungen verschieden ausgebildet ist. Das kognitve System eines Beobachters kann dabei nur dasjenige verarbeiten, was es zu diesem Zeitpunlkt kognitiv verarbeiten kann. Was ein bestimmter Beobachter zu einem gegebenem Zeitpunkt nicht verarbeiten kann, das kann er auch nicht als bewußte, ästhetische oder kognitive Erfahrung mit nach Hause nehmen. Das heißt, radikal gesprochen, daß diese Installation, die aufgrund ihrer zufallsgenerierten Struktur immer anders abläuft, immer auf eine unterschiedliche Betrachteroberfläche auftreffen wird, auf der sie immer schon, von vorneherein, selektiv und kontingent verarbeitet wird. Es ist jedesmal eine neu generierte Struktur, die jedesmal auf einen anderen kognitiven Gesamtzustand im Beobachter trifft. Jedesmal ist die Erfahrung daher in zweifachem Sinne eine völlig andere. Es wird kein zweites Mal geben, an dem sich zwei ästhetische Erfahrungen gleichen.

Genau das ist das zentrale ästhetische Moment in der Installation "Höhen" von Silke Koch. Sie trifft immer auf unterschiedliche Höhen und Tiefen der einzelnen Betrachter und prägt in ihnen eine Erfahrung, eine Erinnerung ein, die sie als Bild, Erinnerung oder Erkenntnis mit in ihr eigenes Leben nehmen werden. Dadurch wird das System, das zuerst nur eine schlichte physikalische Struktur war, zu einem sozialen Sinnsystem. Erst in den einzelnen kognitiven Systemen der Beobachter transformiert sich die Arbeit von einer Fiktion zu einer Wirklichkeit, die wirkt, und zu einer Wirklichkeit, die man für sich selbst gefunden hat, indem man sie für sich selbst und in sich selbst erzeugt hat. Die Herausforderung des Lebens ist also letztendlich die Wirklichkeit, die man finden kann, indem man sie in eigener Verantwortung erzeugt und hervorbringt. Aber wer sagt das?



 

designed by Hans.Dieter.Huber