Hans Dieter Huber
Installation und Modell.
Systemanalytische Interpretationen zum skulpturalen Oeuvre von Joseph Beuys

(veröffentlicht in: Klaus Güthlein/ Franz Matsche (Hrsg.): BEGEGNUNGEN. Festschrift für Peter Anselm Riedl, Worms: Wernersche Verlagsgesellschaft 1993, S. 301 - 324)


1.Vor 11 Jahren wurde Joseph Beuys in einem Video-Interview (1) anläßlich des Aufbaus seiner Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum auf die Zukunft unseres Planeten angesprochen. Er antwortete, daß er überzeugt sei, daß die entscheidenden Impulse für die Zukunft nicht von den Vereinigten Staaten von Amerika ausgehen würden, sondern von Europa, genau da, wo sich zwei bis an die Zähne bewaffnete militärische Blöcke gegenüberstehen, die die Welt in zwei ideologische Lager teilen. Die Wunde in Form einer deutlich sichtbaren Mauer geht mitten durch das Herz Europas und würde von daher alle Energien zu ihrer Überwindung auf sich ziehen. Von diesem Herzen Europas, damit waren die beiden deutschen Staaten gemeint, würde der Einigungsprozeß auf die übrige Welt ausstrahlen. Joseph Beuys hat also die Entwicklungen in Ost und West, die wir heute mit atemlosem Staunen verfolgen, in seiner künstlerischen Konzeption bereits vor über zwölf Jahren klar vorausdenken können. Er sah die Auflösung der beiden Militärblöcke und das Aufeinanderzugehen der unterschiedlichen Wirtschafts-, Rechts-, und Kultursysteme als einen konsequenten und nötigen Entwicklungsschritt in der geistig-evolutionären Entwicklung der Menschheit voraus.

Wäre er heute noch am Leben, würde er sicherlich einen großen Teil seiner schöpferischen Kraft dafür einsetzen, daß die "aktive Neutralität, die Überwindung von Kapitalismus und Kommunismus" - wie der Titel eines seiner Vorträge lautete2-, als ein dritter Weg zwischen dem westlichen Privatkapitalistischen System und dem östlichen staatszentralisierten Kommunistischen System konkrete gesellschaftliche Form annehmen würde.

Seit 1961 hat Joseph Beuys konsequent auf die Entwicklung solcher Gesellschaftsformen hingearbeitet: als Hochschullehrer, indem er sich weigerte, das elitäre Aufnahmeverfahren für das Kunststudium an der Kunstakademie Düsseldorf zu akzeptieren und jeden Schüler, der bei ihm studieren wollte, unter der Bedingung aufnahm, daß er in einem kritischen Selbstprüfungsprozeß nach zwei Semestern selbst beurteilen sollte, ob




Seite 300


seine künstlerische Begabung ein Weiterstudium rechtfertigen würde oder nicht. 1969 gründete er die Deutsche Studentenpartei, die unter anderem als ihr Programm folgende Punkte enthielt: "Absolute Waffenlosigkeit"/" Die Überwindung der Blöcke in Ost und West- ein neutrales, geeintes Europa"/"Die Überwindung des Einheitsstaates"/" Die Selbstverwaltung der autonomen Glieder wie Kultur-Recht-Wirtschaft in einem freien, föderativen System"/" Die Gleichberechtigung von Mann und Frau"/(...)/"Die Entgiftung von Erde, Wasser und Luft"/.3 1971 gründete er die "Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung", welche im Jahr darauf auch auf der documenta 5 für 100 Tage ihr Domizil hatte. Einen Tag nach dem Ende der documenta wurde Joseph Beuys vom damaligen Wissenschaftsminister Johannes Rau als Lehrer der Kunstakademie Düsseldorf fristlos gekündigt, eine Kündigung, die später wieder zurückgenommen werden mußte. 1977 rief er anläßlich seines documenta 6-Beitrages "Honigpumpe am Arbeitsplatz" die Freie Internationale Universität aus, die zwei Jahre darauf zusammen mit der Aktion 3.Weg, der AUD, anderen organisierten Umweltschutzinitiativen, sowie der von Herbert Gruhl gegründeten grüne aktion zukunft die Initiative zur Gründung der GRÜNEN ergriff.

Beuys war für viele ein unbequemer Künstler. Mit seiner Kunst provozierte er in vielen Fällen das Publikum ebensosehr wie die Kritiker und die Medien. Provokation war ein wichtiger Bestandteil seiner Strategie, das Publikum aus seiner Teilnahmslosigkeit und Reserviertheit herauszulocken und die gewünschten Diskussionen in Gang zu setzen.4 Intensität und Emotionalität der öffentlichen Diskussionen über seine Person und sein Werk stehen in einem merkwürdigen Kontrast zu der eingetrockneten und oftmals spießigen wissenschaftlichen Gelehrsamkeit, mit der die deutsche Kunstgeschichte ihn lange Jahre weitgehend ignoriert hat.5 Es existieren unter den Wissenschaftlern immer noch große Vorurteile über die spezifische Natur seiner künstlerischen Konzeption und deren ästhetischer und gesellschaftlicher Wirksamkeit. Auf der anderen Seite stand Beuys selbst dem akademischen Universitätssystem und dem mangelnden sozialen Enga-




Seite 301


gement seitens seiner Gelehrten äußerst kritisch gegenüber.6 Seiner Überzeugung nach gehörten die Kunsthistoriker schlichtweg geköpft.7 Erst in den letzten Jahren haben vor allem jüngere Wissenschaftler begonnen, sich mit seinem fundamentalen Einfluß auf die bildenden Künste, der sich nicht wegleugnen läßt, auseinanderzusetzen. Die Kunstwissenschaft beginnt eigentlich erst heute, die oft 30 bis 40 Jahre zurückliegenden historischen Prozesse und Vorgänge zu rekonstruieren und die Vielfalt seines hinterlassenen Materials zu sichten und zu sortieren. Vom Wissenschaftlichen her gesehen, befinden wir uns daher erst am Anfang eines adäquaten historischen Verständnisses seiner Kunst.

Im Falle von Joseph Beuys ist es oftmals schon schwierig genug, anzugeben welche Teile zum Werk gehören und welche nicht. Traditionelle Auffassungen von einem Kunstwerk wie Einheitlichkeit, Geschlossenheit, handwerkliche Sorgfalt, Harmonie, Zusammenpassen der Teile , Komposition, etc. führen nicht weiter. Gerade die radikale Infragestellung traditioneller künstlerischer Werte zwingt wiederum die Kunstwissenschaft dazu, neue Beschreibungs- und Interpretationsverfahren zu entwickeln. Sie wird nicht darum herumkommen, denn mit den bekannten Werkzeugen kommt man hier nicht weiter. Seine zahlreichen Vitrinen sind ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten, in die man sofort gerät, will man die darin ausgestellten Gegenstände nur identifizieren oder sie in eine sinnvolle Beziehung zu den anderen Objekten bringen. In den allermeisten Fällen braucht man schon eine ganze Menge an Zusatzwissen., um überhaupt entscheiden zu können, ob zwei verschiedene Gegenstände, die nebeneinanderliegen, Teile eines einzigen Werkes sind oder ob sie zu zwei verschiedenen Werken gehören. Das Problem der Individuation und der Identifikation, nämlich anzugeben, was ein Werk ist und was zwei Werke sind, ist daher das Kernstück eines jeglichen Versuches, eine neue Beschreibungs- und Interpretationsmethode entwickeln zu wollen.




Seite 302


2.Die Systemtheorie ist im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Verfahren besonders gut für die Beschreibung und Analyse komplizierter Werke geeignet.8 Auf der einen Seite läßt sich die Komplexität und wechselseitige Verbundenheit aller Elemente, Eigenschaften und Beziehungen auf einfache und unkomplizierte Weise darstellen. Auf der anderen Seite ist die Systemtheorie bisher das einzige wissenschaftliche Verfahren, welches die Umgebung, in der sich ein Werk befindet, genauso zum Gegenstand der Erforschung macht, wie die internen Qualitäten des Kunstwerkes. Auf diese Weise können Einflüsse und Wechselwirkungen, die zwischen dem Werk und z. B. dem Raum, der Zeit, dem Beobachter oder der Gesellschaft bestehen, untersucht werden. Aber zunächst scheint es mir notwendig zu sein, einige Unterscheidungen zu treffen, um möglichen Mißverständnissen aus dem Weg zu gehen.

Jeder beliebige Gegenstand in der Welt und jede mögliche Beziehung zwischen zwei Gegenständen in der Welt kann als ein System aufgefaßt werden. Welchen Gegenstand man als System auffassen will oder welchen nicht, hängt von den eigenen wissenschaftlichen Interessen ab und nicht von irgendwelchen "objektiven" Eigenschaften dieser Gegenstände. Systeme sind Beschreibungen der Welt und die Welt ist nicht beschreibbar ohne irgendeine Beschreibung.9

Ein System wird im Allgemeinen folgendermaßen definiert: Es besteht aus Elementen (welche Dinge, Objekte, Komponenten, Teile, Bausteine, oder Mitglieder, etc. sein können), die bestimmte Eigenschaften haben. Die Elemente eines Systems stehen durch Beziehungen miteinander in Verbindung. Diese Verbindungen können verschiedenster Art sein: Kopplungen, wechselseitige Abhängigkeiten, Kausalverbindungen, Korrelationen, etc.). Der Systembegriff wird von Disziplin zu Disziplin unterschiedlich definiert. Aber die grundlegenden Begriffe "Element", "Eigenschaft" und "Beziehung" bleiben überall dieselben.

Erstens: Die Elemente eines Systems können von verschiedenster Art sein. Es kann sich um Atome, Zellen, Dinge, Individuen, oder ganze soziale Institutionen handeln. Sie müssen auch nicht homogen sein, d. h. von ein und derselben Beschaffenheit, wie beispielsweise die Elemente einer mathematischen Klasse. Was in dem einen System als Element funktioniert, kann in einem anderen selbst wiederum ein kompliziertes Teilsystem sein. So werden z. B. Atome im chemischen Periodensystem als Elemente behandelt, in der Nuklearphysik jedoch als komplexe Teilsysteme. Was innerhalb eines gegebenen Systems als Element definiert wird, hängt von der Wahl der Basiseinheiten dieses Systems ab. Und diese Wahl hängt wiederum von den wissenschaftlichen Zielen des Beobachters und Forschers ab.

Zweitens: An den Elementen eines Systems werden bestimmte Eigenschaften, die für das Forschungsinteresse von Bedeutung sind, untersucht. Andere nicht-relevante Eigenschaften, die das Element ebenfalls besitzt, werden vorläufig zurückgestellt. Die Eigenschaften eines Gegenstandes lassen sich in Merkmalsgruppen zusammenfassen, die sich




Seite 303


aus unserem alltäglichen Umgang herleiten, den wir mit Gegenständen in verschiedenen Situationen haben.10 Die verschiedenen Objekteigenschaften sind in unserem Gehirn in einer systematischen Ordnung gespeichert, dem sogenannten semantischen Feld.11

Drittens: Die Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems können ebenfalls sehr unterschiedlich hinsichtlich Art und Anzahl sein. Sie können einseitig, wechselseitig, aktiv oder passiv, hierarchisch, raum-zeit-abhängig oder -unabhängig sein ,oder sie können eine bestimmte Geschichte besitzen. Welche Verbindungen zwischen zwei Elementen eines Systems relevant oder irrelevant sind, hängt wiederum vom wissenschaftlichen Blickwinkel ab. Aus der Beschreibung der Beziehungen der einzelnen Elemente können wir wichtige Schlußfolgerungen über die Eigenschaften ableiten, die gerade in dieser Beziehung eine wichtige Rolle spielen. Eigenschaften eines Elementes werden sozusagen erst über die Herstellung von Beziehungen aktiviert. So kann es vorkommen, daß eine bestimmte Objekteigenschaft nur in einer ganz bestimmten Verbindung aktiv wird. Sonst bleibt sie rezessiv und latent. In einer Beziehung nicht verwendete, aber dennoch vorhandene Eigenschaften können also durch eine neue Beziehung gezielt angesprochen werden. Im Fall von Joseph Beuys tun wir gut daran, uns an diese entscheidende Einsicht der Systemtheorie zu erinnern, da gerade die Aktivierung potentieller Eigenschaften durch Beziehungen eine seiner künstlerischen Strategien ist.

Viertens: Die Gesamtheit aller Beziehungen, die zwischen den Elementen eines Systems besteht, bildet seine individuelle Struktur aus: Anatol Rapoport, ein amerikanischer Systemtheoretiker:




Seite 304


Struktur ist eine Beschreibung der Beziehungen zwischen den Komponenten eines Systems: des Arrangements seiner Teile und des potentiellen Einflusses, den sie aufeinander ausüben können.12

Fünftens: Die Systemtheorie hat den Begriff der Umwelt als einen gleichberechtigten Begriff zu dem des Systems selbst eingeführt. Soweit ich weiß, ist die Systemtheorie der bislang einzige wissenschaftliche Ansatz, der sich nicht nur mit den internen Bedingungen und Beziehungen seiner Gegenstände befaßt, sondern auch mit dem Austausch zwischen dem System als Ganzem und bestimmten externen Bedingungen und Einflüssen, die das System oder seine Teile möglicherweise beeinflussen können. Auf der anderen Seite können dadurch mögliche Einflüsse des Systems auf seine Umgebung erkannt und beschrieben werden.13 Die Systemtheorie hat für diese spezifische Art und Weise der Umwelteinbettung den Begriff der strukturellen Koppelung entwickelt.14 Der Begriff der strukturellen Koppelung besagt, daß das System von der Umwelt sozusagen >gehalten< und gestützt wird und mit den für die Aufrechterhaltung der Systemfunktionen notwendigen Ressourcen versorgt wird. Die Umwelt stellt also eine Art >support< oder Unterstützung für das System bereit. Das System kann nur in dieser strukturellen Koppelung existieren. Geht der Umwelt->support< verloren, hört auch das System auf zu existieren.

In der Kunst von Joseph Beuys ist der Beobachter des Kunstwerkes mindestens genauso wichtig wie das skulpturale System selbst. Der Begriff der Umgebung einer Skulptur erlaubt dem aufmerksamen Beobachter, seine Aufmerksamkeit den gegenseitigen Einflüssen und Wechselwirkungen zuzuwenden. Er wird in die Lage versetzt, auf gewisse Einflüsse zu achten, die nicht aus den internen Eigenschaften und Funktionen des künstlerischen Systems erklärt werden können, sondern nur aus der Wechselwirkung zwischen System, Umwelt und Beobachter. Indem wir auf die spezifische Umgebung, den Kontext oder die besondere Situation achten, in der das jeweilige skulpturale System von Joseph Beuys aktiv wird, entgehen wir einer künstlichen Einengung unserer Blickes. Die Teile einer Installation von Beuys beziehen sich zu allererst und hauptsächlich auf den Menschen selbst, den Betrachter, Beobachter oder Interpreten. Das skulpturale System zusammen mit seiner Umgebung und allen seinen möglichen Beobachtern, die ein Teil dieser Umgebung sind, bilden das Feld (the universe of discourse ), in dem das Beuyssche Werk ästhetisch und gesellschaftlich wirksam ist.

Seine künstlerischen Werke sind ausdrücklich im Hinblick auf ihre soziale Wirksamkeit hin entworfen, auf eine Übertragung von Energie vom skulpturalen System direkt in das soziale Umgebungsgefüge hinein. Die ästhetische Kraft der




Seite 305


Skulptur wirkt in diesem Vorgang zuerst auf das Individuum als ein repräsentatives Mitglied der menschlichen Gemeinschaft und dann in einem zweiten, komplizierteren Schritt, nämlich über die Sprache, auf die gesamte soziale Gemeinschaft selbst.


3. Wenden wir nun den Blick auf ein konkretes Werk von Joseph Beuys. (Abb. 1)
Erstens. Die materiellen Bestandteile können so unterschiedliche Substanzen umfassen wie Blut, Papier, Fett, Filz, Gips, Bronze, Holz, Metalle, Glas, Textilien, und so weiter. Solche Substanzen wollen wir als die materiellen Elemente des Kunstwerkes bezeichnen.

Zweitens: Da alle physikalischen Substanzen auf irgendeine Art und Weise zusammengesetzt sind, ergibt die jeweilige Zusammensetzung ihre spezifische Form. So kann Gips beispielsweise Skulptur, Architektur oder Wanddekoration sein, je nachdem, wie das Rohmaterial Gips zusammengesetzt wird. Der Unterschied zwischen einem Holzbrett und einem Holzbalken ist kein Unterschied im Material, sondern in der Form, also ein Unterschied in der Zusammensetzung des Materials. Zusammengesetzte physikalische Materialien bilden also die syntaktischen Elemente eines Kunstwerkes wie seine Form oder seine Farbigkeit. Eigentlich handelt es sich bei ihnen um komplexe Teilsysteme. Da jedoch ihre interne Organisation, ihre Physikalität momentan nicht von Interesse ist, sondern nur die Beziehungen zu anderen Teilen des Systems, können syntaktische Teilsysteme wie Elemente behandelt werden.

Drittens: Bedeutungen entstehen durch sprachliche Benennung.15 Die semantischen Elemente eines Kunstwerkes werden durch Etikettierung mit Hilfe verbaler Begriffe gebildet. Was sich mit einem Wort benennen läßt, ist ein semantisches Element. Die Bedeutungsbestandteile müssen nicht deckungsgleich mit den materiellen oder syntaktischen Elementen sein. Sie können sich überlappen oder überschneiden. Wenn ein Beobachter oder Interpret ein Objekt oder Element mit einem linguistischen Begriff benennt, funktioniert dieses Bildelement von diesem Augenblick an immer als eine Instanz oder ein Fall dieses Begriffes.16 Es exemplifiziert diesen Begriff, wenn die Benennung zutreffend war. Das benannte Element kann nur sehr schwer wieder von diesem linguistischen Begriff befreit werden.

Wenn ich z. B. die beiden Flaschen als Blutkonserven bezeichne, werden sie von diesem Moment an stets im semantischen Feld dieses Begriffes gesehen. Wenn ich sie andererseits als Maria Magdalena und Johannes den Täufer benenne, nimmt man diese Behälter durch ihre Namen hindurch, in einem anderen semantischen Feld wahr. Die Bedeutung des Werkes schwingt dann innerhalb des semantischen Feldes der Passion Christi, speziell von Kreuzigung und Erlösung, hin und her. Wenn




Seite 306


ich die auf der Flasche liegenden Papierstückchen als Zeitungsschnitzel benenne, auf denen Textfragmente wie "Schuld", "Saldo", "effektive Zunahme" und "zurückgegangen"17 zu lesen sind, erhalten diese Elemente ihre Bedeutung in dem semantischen Feld von Ökonomie, Wirtschaft, Geldkreislauf und darin ihre ästhetische Bedeutung.

Dieses Beispiel soll lediglich zeigen, wie unsere Wahrnehmung durch Begriffe und Konzepte beeinflußt wird und wie schwierig es wird, diese linguistischen Zusammenhänge wiederum von dem abzutrennen, was wir sehen. Durch den Prozeß des Benennens wird jedes Element eines Kunstwerks und jeder Teil von ihm ein semantisches Element. Diese Konzeption erlaubt es uns, jedes materielle, syntaktische oder semantische Element eines Kunstwerkes als bedeutungsvoll anzusehen, insoweit als es sich mittels linguistischer Begriffe benennen läßt.

Versuchen wir in diesem Sinne, ein relativ kleines skulpturales Werk zu interpretieren. (Abb. 2) Es besteht dem ersten Anschein nach aus fünf Elementen. Zwei Schmelztiegel für den Bronzeguß sind mit zinnoberrotem Farbpigment überzogen. Im rechten Schmelztiegel befindet sich ein Plastikschlauch für Blutransfusionen zusammen mit Schlauchklemmen, Tropfregulatoren und einem Infusionsbeutel. Eine Jakobsmuschel mit blauem Kupfersulfat ist in das Arrangement hineingelegt. Es ist ein fremdes und hermetisches Arrangement, das keineswegs zum Betrachter "spricht". Auf den ersten Blick läßt sich jedenfalls keine zusammenhängende Bedeutung aus den Einzelteilen oder ihrer Anordnung erschließen.

Ein möglicher Beobachter muß angestrengt arbeiten, um die spezifischen Beziehungen der einzelnen Elemente herzustellen und die Unbestimmtheiten aufzulösen, die aus dem ungewöhnlichen Arrangement folgen. Hinter der abweisenden und hermetischen Struktur des Systems liegt eine absichtliche Strategie des Künstlers, sein Werk auf der einen Seite vor unverantwortlichen und oberflächlichen Betrachtern zu schützen und auf der anderen Seite diejenigen, die wirklich an einer genaueren Wahrnehmungsauseinandersetzung Interesse haben, zu veranlassen, aktiv an die Herausbildung ihres eigenen, subjektiven Erlebens heranzugehen.

Um die allgemeinen Bedeutungsfelder dieses Systems herausbilden zu können, müssen wir zuerst nach den semantischen Verknüpfungen suchen, in denen das einzelne Objekt normalerweise auftritt und funktioniert. Dies geschieht schon durch die Benennung. Durch die Aktivierung der semantischen Umfelder der jeweiligen Elemente läßt sich deren Geschichte als eine Geschichte von linguistischem Gebrauch von Sprach-Gebrauch verstehen und für ein Wahrnehmungsurteil verwerten.




Seite 307


Der semantische Funktionszusammenhang des Infusionsinstrumentes ist der des Krankenhauses, der Lebensrettung nach schweren, lebensbedrohlichen Unfällen, als ein wichtiges Instrument, die Lebenskräfte in einem Augenblick bedrohlicher Verfassung zu unterstützen. Der Blutkreislauf des menschlichen Organismus ist eines der wichtigsten Systeme der Lebenserhaltung. Darin ist es auch ein Symbol für die Schöpferkraft von unzähligen Menschengenerationen.18 Die Jakobsmuschel birgt normalerweise ein Lebewesen, eine Schöpfung der Natur. Heutzutage sind Muscheln aufgrund der Umweltverschmutzung sehr gefährdete Lebewesen, da sie extrem sauberes Wasser zum Leben benötigen. In ihrem Fleisch reichern sich giftige Substanzen wie Schwermetalle an, die wiederum über die Nahrungsmittelkette an den Menschen weitergegeben werden und ihre Toxizität erhöhen. Kupfersulfat ist eine sehr giftige Substanz, die Mikroorganismen wie Bakterien und Plankton tötet. Die Jakobsmuschel ist schon tot, von der Chemikalie vergiftet. Die zwei Schmelztiegel stammen aus dem Funktionsbereich des Bronzegusses und der Metallverarbeitung. Sie gehören damit zum entgegengesetzten Pol der Welt, zum anorganischen, kristallinen Sektor. Aber sie haben auch mit künstlerischer Produktion zu tun, mit der Formgebung durch Gießen und Erstarren. Sie sind Formwerkzeuge. Der rote Zinnoberüberzug verleiht ihnen eine aktive, magische Kraft, eine Vitalität des Herzens. Der rechte Schmelztiegel fungiert als das Herz eines Organismus, der Plastikschlauch als Symbolisierung des Blutkreislaufes. Aber der fiktive Organismus ist bedroht. Die Muschel als das Organ, das empfängt und aufnimmt, also ein Rezeptionsorgan ist, ein sehendes Auge, ist erblindet. Es wurde durch chemische Substanzen vergiftet. Das Blut zirkuliert nicht mehr, es ist koaguliert und ebenfalls tot. Der Zustand des Systems ist sehr alarmierend. Deshalb auch der Titel "Alarm II".

In diesem Vorgang der Herausbildung der semantischen Beziehungen der einzelnen Elemente zueinander werden die Eigenschaften, die diese Elemente kraft ihrer Benennug und Einordnung in bestimmte Funktionsbereiche und semantische Felder erlangen, augenscheinlich. Schritt für Schritt öffnet sich das Kunstwerk dem aktiven und forschenden Beobachter. Parallel zur Herausbildung der speziellen Bedeutung des Kunstwerkes scheinen allgemeinere Fragen nach dem Zustand der Umweltverschmutzung und den toxischen, tödlichen Prozessen auf, die unser gegenwärtiges Gesellschaftssystem durchziehen. Diese Gedanken lassen sich nicht verhindern, wir können sie nicht mutwil-




Seite 308


lig aus der Erfahrung des Kunstwerkes zurückhalten . Sie sind einfach mit da und sie gehören zur kalkulierten Wirkung des Werkes. Von der anderen Seite her gesehen, ist diese Auslösung von Gedanken auch die entschiedene Absicht des Künstlers. Das Kunstwerk fungiert als ein Auslöser für die Entstehung von Gedanken über unser gegenwärtiges Leben und unsere gegenwärtige Gesellschaftsform.


4. Die möglichen Erfahrungsverläufe von verschiedenen Beobachtern gegenüber Kunstwerken können generell in zwei Phasen unterschieden werden. Erstens, in die Herausbildung der Bedeutungszusammenhänge eines Kunstwerkes im aktiven Vorgang des Wahrnehmens und Denkens selbst und zweitens, in die Verarbeitung der so erfahrenen Bedeutungszusammenhänge durch den jeweiligen Beobachter.19 In beiden Phasen ereignen sich verschiedene kognitive Vorgänge mit unterschiedlichen Erkenntnisfunktionen .

Wenden wir unsere Aufmerksamkeit zunächst dem ersten Stadium zu und fragen, wie ein Beobachter Bedeutungszusammenhänge in einem bestimmten Kunstwerk während des eigentlichen Wahrnehmungsvorganges generiert. Wie wir schon gesehen haben, fungiert das Kunstwerk während des Wahrnehmungsvorgangs als Auslöser bestimmter kognitiver Vorgänge. Die Elemente des skulpturalen Systems werden dadurch automatisch in den subjektiven Wissens- und Erfahrungshaushalt einer Person übergeleitet. Es findet also ein Transformationsprozeß statt. Durch den Vorgang des Benennens und Klassifizierens wird der Kunstgegenstand in Beziehung gesetzt zu unserem eigenen epistemischen Netzwerk aus Begriffen, Meinungen und Überzeugungen, die wir haben. Das ist der Moment, wo uns das Kunstwerk persönlich zu berühren beginnt.

Der Beobachter als ein komplexer und dynamischer Organismus ist selbst ein Teil der konkreten Umgebung des skulpturalen Systems.20 Menschen sind mit sensorischen Oberflächen ausgestattet, die es ihnen erlauben, Informationen aus ihrer Umwelt aufzunehmen und sie in den höheren Gehirnregionen zu verarbeiten. Diese Fähigkeit des menschlichen Organismus, Informationen aus seiner Umwelt aufzunehmen, sie zu speichern, zu verarbeiten, wieder aufzurufen und zu verändern, ist die Fähigkeit zur mentalen Repräsentation der Welt. Das menschliche Denken




Seite 309


ist ein komplexes System zur Repräsentation von Zuständen und Veränderungen. Es funktioniert nur in einem bestimmten Medium, dem biologisch-physikalischen Organismus des Menschen. Das heißt, daß man zum Sehen und Erkennen nicht nur die Netzhaut, sondern auch die Hornhaut an den Füßen braucht, mit der man sich umherbewegen kann, um den Standort und den Blickwinkel zu verändern. Man braucht also zum Wahrnehmen den gesamten menschlichen Organismus, auch die Füße.21 Das Sehen endet nicht auf der Netzhaut.

Wenn nun eine Person mit einer skulpturalen Installation von Joseph Beuys in Kontakt tritt, dann eröffnet das Werk eine Interaktion mit dieser Person, in dem das Kunstwerk und der Beobachter gleichwertige Partner einer Situation sind, in welcher beide als unabhängige Systeme fungieren, die sich wechselseitig aufeinander beziehen. Ohne diese grundlegende Bedingung kann kein Kunstwerk erfahren werden. Für jegliche auch noch so rudimentäre Form von Kunsterfahrung ist diese Wechselbeziehung zwischen Beobachter und Kunstwerk eine absolut notwendige Bedingung. Ohne diese Beziehung gibt es nichts zu beobachten, zu beschreiben oder zu interpretieren.22

Jedes Kunstwerk enthält zahlreiche Stellen von Unbestimmtheit. Sei es, daß die Beziehung zwischen zwei Elementen nicht erklärbar ist, sei es daß wir nur eine Seite sehen können und nicht wissen, was darin, darunter oder dahinter sich befindet. In einem Kunstwerk ist bei weitem nicht alles dargestellt, was für eine präzise Identifikation der Bedeutung der Elemente und ihrer Beziehungen nötig wäre. Aber gerade diese Unbestimmtheiten, dieses absichtliche Offenlassen von Präzisierungen machen die Faszination des Werkes aus, indem sie die Vorstellungskraft des Beobachters anregen und ihn zu einer aktiven Teilnahme inspirieren. Als Beobachter befinden wir uns daher stets in einem Zustand der Desinformation und des Weniger-Wissens gegenüber dem Kunstwerk und den Absichten des Künstlers.




Seite 310


In der Arbeit "Schneefall" von 1965 (Abb. 3) sind drei Fichtenstämme von mehreren Lagen grauen Filzes bedeckt. Wir können nicht wahrnehmen, wie weit die Enden der Fichtenstämme unter den Filz reichen. Dies ist ein sehr einfaches Beispiel für Unbestimmtheit. Wir neigen dazu, die Lücken oder Leerstellen irgendwie aufzufüllen, durch unsere Einbildungskraft und unser Denken zu ergänzen, sie zu "konkretisieren", wie Roman Ingarden sagt.23 Eine komplexere Unbestimmtheit dagegen liegt in der Beziehung zwischen den Filzschichten und den Fichtenstämmen. Warum liegen sie waagrecht auf dem Boden und stehen nicht senkrecht wie gewöhnlich? Warum sind sie mit Filz zugedeckt, als ob sie in einem Bett schlafen würden? Die Stämme sind morsch und abgestorben. Dennoch scheinen sie aus dem Zentrum des Filzes, aus der Unbestimmtheit heraus, Energie auszusenden oder zu übertragen, als ob das Ganze eine Batterie, Akku, eine Sende- oder Übertragungsstation sein könnte. Es kommt jetzt nicht darauf an, ob das, was ich vorschlage, wahr oder falsch ist. Mit Sicherheit können wir auf diese Fragen Antworten produzieren, und zwar unter Umständen sehr phantasiereiche. Wir tun das auch ständig in unseren täglichen Wahrnehmungsauseinandersetzungen. Das ist nicht das Problem, sondern eher der Normalfall. Auf was es mir dagegen ankommt, ist, daß diese Auffüllung und Ergänzung der Unbestimmtheitsstellen, ihre Konkretisation, immer in einer subjektiven und unüberprüfbaren Weise geschieht, die weit über dasjenige, was wirklich da ist, hinausgeht. Das ist der entscheidende Punkt des Argumentes.

Jedes Material, jede Form, jeder Farbton, jede Figur, jedes Element und jede Beziehung zwischen zwei Elementen kann zahlreiche Unbestimmtheitsstellen enthalten. Diese Leerstellen sind keine ästhetische Schwäche des Werkes. Ganz im Gegenteil sind gerade sie die zentralen Gelenkstellen im Prozeß der Entfaltung seiner ästhetischen und gesellschaftlichen Wirksamkeit,24 an denen sich das Wahrgenommene mit der eigenen Vorstellungskraft und Imagination des Beobachters auf unkontrollierbare und unüberprüfbare Weise zu vermischen beginnt. Hier ist die Nahtstelle zwischen Werk und Mensch, wo eine Übertragung des Gesehenen in den subjektiven Erfahrungsalltag und Lebenshaushalt eines Individuums in all seinen Konsequenzen stattfindet. Im Vorgang der Konkretisation neigen wir dazu, diese Unbestimmtheiten entweder ganz zu übersehen oder sie mit willkürlichen und subjektiven Determinationen aufzufüllen. Durch das Kunstwerk selbst sind sie in keinster Weise gerechtfertigt, sondern nur durch uns, unsere Lebenserfahrungen, Gewohnheiten und Überzeugungen, eben durch unseren ganz persönlichen, kognitiven Stil. An solchen Punkten gehen wir weit über das vorgegebene skulpturale System hinaus, ohne uns oft bewußt darüber zu sein. Die subjektive Konkretisation ist also der wesentliche Wendepunkt, an dem




Seite 311


das Kunstwerk ästhetisch und sozial wirksam wird, indem seine Sinnzusammenhänge auf subjektive, nicht verifizierbare Weise herausgebildet werden.


5. Kehren wir damit zum Werk von Joseph Beuys zurück. Eine seiner bedeutendsten Installationen ist "Das Kapital Raum 1970-77", das jetzt ständig in den "Hallen für Neue Kunst" in Schaffhausen installiert ist. (Abb. 4) Es ist ein äußerst komplexes System mit verschiedenen Elementen, zahlreichen Beziehungen und unterschiedlichen Lebensgeschichten seiner einzelnen Bestandteile. Das Ganze wirkt auf den ersten Blick mehr oder weniger ungeordnet, eher wie eine offene Arbeitssituation als eine geschlossene Einheit. Dem Betrachter war es bis vor kurzem auch möglich, zwischen den Einzelteilen umherzulaufen und aus der Nähe einen Blick auf sie zu werfen. Das "Kapital Raum" ist - auf fast wörtliche zu nehmende Weise - nur Schritt für Schritt wahrnehmbar, in einer selektiven Aufmerksamkeit, die Stück für Stück dieser Installation in den Blick nimmt.

Ein eher homogenes Teilsystem von Elementen bilden die schwarzen Tafeln, auf denen Diagramme, Sätze, Formeln, Wörter und Zeichnungen mit weißer Tafelkreide gezeichnet sind. Sie hängen von der Wand, liegen auf dem Boden oder lehnen gegen die Rückwand. Ein weiteres Teilsystem wird durch seine Beziehung zum elektrischen Strom gebildet. Zwei 16mm Filmprojektoren mit leeren Filmspulen stehen auf Projektionstischen. Sie sind mittels weiß er Kabel mit dem elektrischen System verbunden. Zwei Spulentonbandgeräte mit ebenfalls leeren Spulen und Kopfhörern stehen in der Nähe auf dem Boden. Sie sind mittels schwarzer Kabel mit dem elektrischen System verbunden. Ein Galgen-Mikrofonständer mit einem Mikrofon ist an eines der beiden Tonbänder angeschlossen. Die Geräte selbst sind wiederum an einen Stereoverstärker mit zwei Lautsprechern angeschlossen. Ein ganz anderes Teilsystem wird dagegen von der wassergefüllten Zinkbadewanne gebildet, in der ein weisses Leinen liegt und an deren Griffe zwei Taschenlampen befestigt wurden. Eine Gießkanne aus Zink, eine weiße Emailschüssel mit einem Stück Seife und ein Handtuch liegen in der Nähe. Zwischen dem Mikrofonständer und der Badewanne liegt ein Weißblechdeckel mit einem Haufen Gelatine. Eine Leiter mit Gelatinefetzen steht in der Ecke des Raumes. Die Installation wird von einem Piano, einer Axt, einem Speer und zwei filzüberzogenen Holzlatten vervollständigt. Soweit also die in etwa vollständige Aufzählung der einzelnen Systembestandteile.

Die Beziehungen dagegen erweisen sich für den Betrachter wiederum als hermetisch, so daß eine aktive Anstrengung nötig wird, die Querverbindungen zwischen den heterogenen Bestandteilen zu untersuchen und deren Bedeutungszusammenhänge herauszubilden. Mit den meisten der hier installierten Gegenstände sind wir zwar aus dem Alltag bestens vertraut, dennoch befremdet uns ihre Anordnung .Sie ergibt auf den ersten Blick keinen einleuchtenden Sinn.

In diesem Werk sind wir mit einer Versammlung verschiedenster Medien konfrontiert, die alle etwas mit dem Vorgang des Erschaffens und der Formgebung zu tun haben. Film kann beispielsweise als ein künstlerisches Medium zur Darstellung von




Seite 312


Handlungen, Ereignissen und Zeitabläufen verwendet werden. Die Projektoren und die Leinwand stehen da, als ob sie nur darauf warten, angeschaltet zu werden, um zu zeigen, was sie zu zeigen haben. Sie befinden sich in einem Zustand der Potentialität. Man könnte beginnen, wenn man will; die Geräte und Werkzeuge sind schon parat. Das Projektionssystem steht in dieser Anordnung als ein Symbol für visuelle Umsetzung. Es re-präsentiert die Fähigkeit, Zeitabläufe visuell zu speichern und - zeitversetzt - wiederzugeben, also zu erinnern. Die Projektoren sind daher eine Metapher für das visuelle Gedächtnis, das Medium der Speicherung optischer Informationen und ihrer zeitversetzten, erinnerten Wiedergabe.

Das akustische System funktioniert analog. Es dient der Tonaufnahme von Lauten, Sprache, Gesang, Musik oder Geräuschen und der Wiedergabe der aufgenommenen Signale über die angeschlossenen Lautsprecher. Im künstlerischen Gebrauch ist es ein Medium zur Herstellung akustischer Form, der akustischen Gestaltung. Das Tonsystem ist ebenfalls im Zustand seiner Potentialität, seiner Fähigkeiten belassen. Fast könnte man sagen, im Zustand seiner medialen Fähigkeiten. Vom Mikrofon über die Kopfhörer bis zum Lautsprecher ist alles Nötige zur Gestaltung vorhanden. Das Tonsystem re-präsentiert den Vorgang akustischer Informationsaufnahme aus der Umwelt, der Extraktion von Schallwellen aus der umgebenden Luft und deren Transformation in elektrische Impulse. Es ist daher eine Metapher für das akustische Gedächtnis, dem Medium der Speicherung akustischer Eindrücke und deren zeitversetzter, quasi erinnerter Wiedergabe. Wie das menschliche Gehirn ist es ein System der Umwandlung, Speicherung und Wiedergabe. Die Projektoren und Tonbänder sind daher Metaphern des menschlichen Gehirnes, sie symbolisieren seine Fähigkeit zum Denken. Der Werkzeugcharakter des Denkens, seine Fähigkeiten und seine Potentialität ist in diesen sichtbaren Metaphern angesprochen. Die geschriebenen Schultafeln re-präsentieren das sprachlich-linguistische Medium der Informationsaufnahme und des Informationsaustausches.

Die genannten Teilsysteme lassen sich daher als Repräsentationssysteme verstehen,25 als Metaphern des visuellen, des akustischen und des linguistischen Denkens und Gedächtnisses. Sie besitzen die Fähigkeit, verschiedene repräsentative Ausschnitte und Erfahrungen der Welt darzustellen. Ihre künstlerische Bedeutung liegt nicht nur in ihrer Darstellungsfähigkeit, sondern in ihrer Transformationsleistung. Sie sind Transformatoren von Welt und als solche Metaphern des menschlichen Denkens. Das ist der Hintergedanke bei diesem Arrangement von Teilen. In der Installation selbst sind sie stumm. Sie stehen nur da, sind ausgestellt als potentielle Elemente von Kreation und Transformation. Daher der Titel "Kapital". Denn Kapital ist zunächst einmal ein Potential, eine mögliche Kraft (nicht nur von Geld), mit der etwas erreicht, gestaltet oder geformt werden kann. Kapital ist eine Fähigkeit.




Seite 313


Die Leiter, der Speer, die Axt, die Gießkanne, die Seife, die Schüssel sind, ganz allgemein gesprochen, Werkzeuge, mit denen man bestimmte Resultate durch Handeln erreichen kann. Alle Gegenstände der Installation sind während der Wahrnehmung in ihren semantischen Funktionszusammenhang eingebettet, in dem sie normalerweise gebraucht werden und in dem sie normalerweise funktionieren. Aber dieser Funktionszusammenhang ist in der Anordnung durch die ungewöhnlichen Beziehungen, in denen diese Gegenstände zueinander stehen, verändert. Die Zusammenhänge wirken fremd und irritierend

Die Gegenstände sind mit der Geschichte ihres Gebrauches getränkt. Sie besitzen sowohl eine Geschichte ihres tatsächlichen Gebrauches als auch eine Geschichte des möglichen Gebrauches, eine Geschichte von Aktualität und Potentialität. Sie tragen Spuren einer kollektiven und einer individuellen Geschichte an sich: nämlich derjenigen, wie Joseph Beuys sie benutzt hat und derjenigen, wie man sie allgemein benutzen kann. Diese beiden Gebrauchsgeschichten der Objekte, die allgemein mögliche und die individuell erfolgte, hüllen ihren Gegenstand immer ein und begleiten ihn sogar in dieser Installation. Die allgemeinen und individuellen Funktionsfelder sind stets mehr oder weniger für den Beobachter während des Vorgangs der Wahrnehmung mitpräsent.

Die einen Gegenstände sind Relikte einer Aktion. Die anderen, speziell die Tafeln an der Wand, sind die Resultate von Vorträgen, Diskussionen und Workshops, die Beuys bei verschiedenen Anlässen hielt. Fast alle Elemente, die auf dem Boden liegen, stammen von zwei Performances. Die eine wurde unter dem Titel "Celtic (Kinloch Rannoch) Scottish Symphony" zusammen mit dem dänischen Komponisten Henning Christiansen vom 26. - 30. August 1970 zweimal täglich am Edinburgh College of Art aufgeführt.26 In den Photographien dieser Aktion sind mehrere Elemente im Gebrauch zu erkennen. Die Projektoren, die Tonbänder, der Mikrofonständer, die Axt, die Gelatine, das Piano, der Speer und der Filzwinkel.




Seite 314


Die zwei Gruppen von Schultafeln, die von der Wand hängen und die Beuys der Installation hinzugefügt hat, resultieren aus seinen sprachlich-diskursiven Aktivitäten während der zwei documenta-Ausstellungen von 1972 und 1977 in Kassel. Die Zeichnungen, Notizen, und Diagramme fungieren als visualisierte Darstellungen kollektiver Sprach- und Denkprozesse. Sie bilden ein dichtes Netzwerk von Konzepten und Ideen, die über die einzelne Tafel hinausgreifen und eine mannigfaltige Simultanität von Gedanken herstellen. Sie führen den Leser direkt in das Zentrum von Beuys´ Theorien zur Sozialen Skulptur und der Transformation schöpferischer Kräfte, die nach seiner Ansicht das wahre menschliche Kapital bilden, in die Gesellschaft hinein. Die Schultafeln bilden ein aufeinander bezogenes System visueller Ideen und kollektiver Denkprozesse die ohne ihre Aufzeichnung auf einem abstrakten und unanschaulichen Niveau geblieben wären. Das System re-präsentiert auf diese Weise die Vielfalt, Dynamik und Kontinuität einer solchen Lehrmethode. Die Tafeln sind Träger kollektiver Denkanstrengungen, die in visueller Form gespeichert und bewahrt worden sind. Wie bei den anderen Medien dieser Installation, handelt es sich um ein System der Aufnahme, der Speicherung und der Erinnerung kollektiver Arbeit. Das System der schwarzen Tafeln exemplifiziert die Arbeit des Kollektivs, während die Gegenstände und Instrumente die Arbeit des schöpferischen Individuums exemplifizieren. Kollektive skulpturale Prozesse, wie sie in den Tafeln veranschaulicht werden, werden der individuellen menschlichen Fähigkeit und Schöpferkraft gegenübergestellt, wie sie in den einzelnen Werkzeugen und Gegenständen zur Darstellung gelangt. Die Beziehung zwischen Wand und Boden ist analog dem Verhältnis von Gesellschaft und Individuum.27

Die gesamte Installation kann daher als ein mögliches Modell für die schöpferische Umwandlung individueller menschlicher Energien in kollektive soziale Prozesse zugunsten der Weiterentwicklung des ganzen sozialen Gebildes verstanden werden. Das Werk steht als Modell zwischen den theoretischen Ideen und Konzepten des Künstlers und den visuell wahrnehmbaren Objekten und Gegenständen der Welt, die durch den Beobachter während des Prozesses seiner aktiven Wahrnehmungsauseinandersetzung beobachtet werden können.


6. Das Modell fungiert als Transmissionsriemen für Konzeptionen bezüglich einer schöpferischen Umformung und Entwicklung der Gesellschaft. Wie arbeitet dieser Mechanismus? Wie müssen wir ihn uns vorstellen? In einem früheren Stadium habe ich unterschieden zwischen dem Vorgang der Herausbildung der relevanten Bedeutungsfelder




Seite 315


eines Kunstwerkes in einer Situation der Unbestimmtheit und dem Vorgang der Verarbeitung dieser so und nicht anders erfahrenen Bedeutungszusammenhänge, womit die Integration der vom künstlerischen Modell hervorgerufenen Gedanken in das eigene Netz von Meinungen und Überzeugungen gemeint ist.28

Unsere Erfahrungen der Welt sind nicht willkürlich in unserem Gedächtnis gespeichert, sondern sie besitzen aus funktionalen Gründen eine systematische Speicherstruktur.29 Da wir in der Lage sind, ziemlich schnell eine einzelne Erinnerung in unserem Gedächtnis aufzufinden, ist es ziemlich wahrscheinlich, daß unsere Erfahrungen und Erinnerungen eine systematische und hierarchische Ordnung besitzen. Sozialpsychologen haben daher die Existenz sogenannter mentaler Bezugssysteme oder Kategorialsysteme behauptet.30 Es handelt sich dabei um hypothetische Beschreibungen, wie unser Gehirn es zustandebringen könnte, den sensorischen Input systematisch zu ordnen, zu speichern und wieder abzurufen.

Die Konzeption eines mentalen Bezugssystems meint, daß jede einzelne Erfahrung, die wir machen, auf einen individuell vorgeformten Speicherrahmen trifft und in ihn integriert wird. Während des Lebens werden solche Bezugssysteme mehr und mehr verfeinert und differenziert. Auf Wissen basierende Kategorialsysteme fungieren als stabile Entscheidungs- und Bewertungsrahmen. Sie sind kognitive Hintergrundsysteme der Entscheidung und Bewertung, die normalerweise unauffällig und unscheinbar funktionieren. Nun gibt es aber bestimmte Situationen, in denen die Existenz solcher Bezugssysteme schlagartig bewußt wird. Und zwar dann, wenn eine bestimmte Spannung entsteht zwischen einer einzelnen, neuen Erfahrung und ihrer mangelnden Klassifizierbarkeit oder wenn eine völlig neue, nie zuvor wahrgenommene Situation auftritt, die sich mit den bestehenden Bewertungsgewohnheiten nicht in Einklang bringen läßt. In solchen Momenten wird die unzureichende Strukturierung der gegenwärtigen Erfahrungsorganisation plötzlich als Mangel augenfällig.




Seite 316


Mein Argument lautet nun, daß die epistemische Funktion von Kunst, das ist ihre auf Erkenntnis und Erfahrungsgewinn von Beobachtern ausgerichtete Funktion, exakt auf diesen Mechanismus der Erfahrungssystematisierung eines Beobachters zielt. Der kognitive Hintergrund von Kunst-Wahrnehmung - das sind die Systeme der Wissensorganisation - werden schlagartig selbst zum Gegenstand von Wahrnehmung aufgrund einer bestimmten Spannung zwischen einem einzelnen Reiz und seiner mangelnden Klassifizierbarkeit. Das ganze System wird sozusagen umgestülpt. Das, was bisher als stabiler Entscheidungshintergrund fungieren konnte, wird angesichts der Inadäquatheit für die Erfahrung von Kunst in den Vordergrund umgestülpt. Die mentalen Kategorialsysteme werden zum Gegenstand der Selbstwahrnehmung31 und das Kunstwerk wird zum Hintergrund und zur stabilen Systemreferenz dieser Selbsterfahrung. Die uns im Alltag leitenden Systeme der Erfahrungsorganisation werden dadurch transparent und der Selbstbeobachtung zugänglich.

Durch einen Konflikt in der mentalen Verarbeitung verursacht, werden sie selbst Beobachtungsgegenstand aufgrund des Wunsches nach adäquater Anpassung und konsistenter, erfahrungsbedingter Ordnung der Welt. An dieser Stelle geraten wir in einen sehr engen Kontakt mit den spezifischen Vorgängen, die im Erlebnis von Kunst eine zentrale Rolle spielen. Wegen der Spannung zwischen dem subjektiven Erlebnis, das von einem relativ neuen und unbekannten Kunstwerk ausgeht und den eigenen, in diesem Fall nicht hinreichenden Systematisierungen von Meinungen und Überzeugungen, muß der individuelle Beobachter danach suchen, diese neue Erfahrung irgendwie zu integrieren.

In ihrer epistemischen Funktion bringen Kunstwerke den Beobachter daher in eine Art kognitiver Dissonanz32 zu seinen eigenen Meinungen und Einstellungen. Er muß daher diese Dissonanz entweder reduzieren, indem er die nicht-passende Erfahrung verzerrt und sie - sozusagen verbogen - seinen bestehenden Bewertungssystemen integriert oder aber das betroffene Kategorialsystem als Ganzes der neuen Wahrnehmungserfahrung anzupassen versucht. Letzteres scheint mir der einzig richtige, aber auch mühseligere Weg zu sein. Genau hier haben wir es in der Praxis oft genug mit ärgerlichen Reaktionen von Beobachtern zu tun, die den Wahrnehmungsabbruch einer weiteren und Konsequenzen fordernden Auseinandersetzung vorziehen.33




Seite 317


7. Wenn wir uns nun wieder der Kunst Joseph Beuys´ zuwenden, können wir die kognitiven Wirkungen seiner Installationen auf die Meinungssysteme verschiedener Beobachter beschreiben. Das "Kapital Raum" re-präsentiert abgeschaltete Maschinen und Gegenstände, die nicht in Gebrauch sind, aber ein gewisses schöpferisches Potential besitzen. Sie können jederzeit in Betrieb genommen werden, wenn es die Situation erfordert. Das ganze System ist ein potentielles Schöpfungskapital. Der Charakter der Potentialität von Kapital und Raum ist im Titel angesprochen. Denn Kapital ist in seiner ersten Funktion ein Produktionspotential. Raum ist ebenfalls ein Potential, mit dem man etwas machen kann. Der spezifische Kapitalbegriff, wie er hier in den verschiedenen Elementen der Installation verkörpert ist, unterscheidet sich jedoch sehr von dem, den wir normalerweise von Kapital haben. Als Beobachter sind wir daher gezwungen, unser Kategorialsystem des Kapitalbegriffes umzubauen und zu verfeinern, um dieses ungewohnte Modell verstehen zu können.

In einem programmatischen Essay von 1972 forderte Beuys die Transformation solcher wesentlicher Begriffe wie Denken, Handlung und Skulptur:

Erst unter der Bedingung einer radikalen Begriffserweiterung gerät Kunst und die Arbeit mit ihr in die Möglichkeit, heute das zu bewirken, was beweist, daß sie die einzige bewirkende, evolutionäre Kraft ist, die fähig wird, repressive Wirkungen eines vergreisten und auf der Todeslinie weiter wurstelnden Gesellschaftssystems zu entbilden, um zu bilden: EINEN SOZIALEN ORGANISMUS ALS KUNSTWERK.
Diese modernste Kunstdisziplin Soziale Plastik, Soziale Architektur wird erst dann in vollkommener Weise in Erscheinung treten, wenn der letzte lebende Mensch auf dieser Erde zu einem Mitgestalter, einem Plastiker oder Architekten am sozialen Organismus geworden ist. ... Nur ein so revolutionierter Kunstbegriff kann zu einer politischen Produktivkraft werden, die durch jeden einzelnen Menschen hindurch sich vollzieht und Geschichte macht. Allerdings muß das und vieles Unerforschte erst in die Bewußtseinsinhalte hineinkommen. Es bedarf der Einsicht in objektive Zusammenhänge. Es muß zurückgefragt werden (Erkenntnistheorie) auf den Entstehungsmoment von freier, individueller Schöpferkraft (Kreativität). Dann kommt man an eine Schwelle, wo der Mensch sich als ein primär Geistiges Wesen erfährt, und seine primärsten Produkte (Kunstwerke), sein tätiges Denken, sein tätiges Fühlen, sein tätiges Wollen und die höheren Formen davon, beobachtbar werden als plastische Produktionsweisen, ..., und sich ausweisen als in die den Weltinhalt bestimmende Richtung verlaufend. Nach der Zukunft hin.34

Der erste Schritt dazu ist die "Revolution der Begriffe", ein Konzept, das Beuys von Eugen Löbl, dem Wirtschaftstheoretiker des Prager Frühlings, und von Wilhelm Schmundt entlehnt hat:

Erst wenn wir die Grundzusammenhänge des sozialen Organismus neu überdenkend die >Revolution der Begriffe< geleistet haben, wird damit der Weg frei für eine Evolution ohne Zwang und Willkür. ... Denn mit Begriffen ist immer eine sehr weitreichende Praxis verbunden, und die Art und Weise, wie über einen Sachverhalt gedacht wird, ist entscheidend dafür, wie man mit diesem Sachverhalt umgeht, - zuvor: wie und ob man ihn überhaupt versteht.35

In diesem Zusammenhang spricht Beuys auch von dem "Prozeß des Umschmelzens ver-




Seite 318


härteter Begrifflichkeiten und Theorieansätze"36. Was für den Prozeß der Transformation individueller, an der jeweiligen Rauminstallation gewonnener Erfahrungen in sozial-evolutionäre Praxis benötigt wird, ist zunächst eine neue Qualität des Denkens und des Handelns. Beuys stellt daher die Frage, ob die Handlungen des Menschen, d. h. seine In-Formationen, der Abdruckcharakter seiner Tätigkeit in seinen Werken, ob dies das Resultat einer freien Entscheidung sei, ein Ausdruck der Freiheit dieses menschlichen Wesens:

In diesem Abdruckcharakter sind wir an dem Punkt, an dem ein skulpturaler Vorgang angesprochen ist: Das Hineindrücken einer Tat, in die Materie. In dieser Tat unterscheidet sich kaum der Bildhauer vom Drucker. In diesem Abdruckcharakter unterscheidet sich der Bildhauer prinzipiell auch nicht vom Maschinenbauer, der seinen Abdruckcharakter durch seinen Formwillen auf mechanisch-motorische Aufgabenstellung anwendet. Also läßt sich an diesem Tun, dessen Abdruckcharakter man unmittelbar wahrnehmen kann nachweisen, daß vor diesem plastischen Vorgang noch ein anderer plastischer Vorgang liegt. Bei der Nachsuchung, unter Beschreibung und vorurteilsloser Wahrnehmung dessen, was in diesem skulpturalen Abdruckcharakter durch das menschliche Handeln, durch Leibesorgane geschieht, kann man zurückverfolgen, woher die Entscheidung für die Form dieses Abdruckcharakters stammt. Der Revolutionär kann zurückverfolgen den Vorgang bis zu der Form, die er zunächst in seinem Denken oder in seiner Vorstellung entwickelt hat. Wenn er das durchführt und auf alle seine Kräfte schaut, die in ihm wirken und leben, wird er erfahren, daß er dem Denken selbst schon diesen plastischen Charakter zuschreiben kann, daß er also sagen kann, bereits im Denken liegt der Formvorgang gegründet, der dann durch meine Leibesorgane und andere Werkzeuge als Abdruckcharakter in die Welt und dort zu einer Form kommt, die informiert, Information gegenüber einem anderen Wesen, was Bedarf an dieser Information als Produkt hat oder auch Information betrachtet als eine Nachricht, die der andere empfangen will.37

Das Denken selbst ist also ein unsichtbarer, plastischer Prozeß, der durch seine Einprägung in ein Material, durch "In-Formation" seine Form erhält, also sichtbar gemacht wird. Die materielle Skulptur funktioniert als ein Repräsentationsmodell dieser unbeobachtbaren plastischen Qualitäten des Denkens an einen menschlichen Beobachter, der fähig ist, das materielle Modell als sichtbare Formulierung unsichtbarer Denkprozesse zu verstehen. Ein Modell kann man, allgemein gesprochen, als ein Repräsentationssystem bezeichnen, welches aufgrund seiner besonderen Art von Bezugnahme von Menschen hergestellt und verwendet wird, um mit seiner Hilfe Erkenntnisse zu gewinnen oder Beobachtungen machen zu können, die am Bezugsgegenstand aufgrund seiner Beobachtungsferne nicht zu gewinnen sind oder deren Gewinnnung zu aufwendig wäre.




Seite 319


Das Modell besitzt die Funktion der Veranschaulichung und Sichtbarmachung verschiedener abstrakter und nur theoretisch vorliegender Eigenschaften von Aussagen des Theoriekernes. Das Modell ist daher eine "Brücke" zwischen abstrakter Theorie und konkreter Beobachtung. Es stellt eine Interpretation der theoretischen Aussagen dar und übersetzt sie in eine Form, die der Beobachtung zugänglich ist. Das bedeutet,daß die physikalische Substanz als materialisierte Form von Denkvorgängen in der Lage ist, eben diese Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten in einer anderen Person auszulösen. In diesem Modell findet eine Übertragung statt, ein Fluß plastischer Gedanken-Energie von einem Punkt der Welt zu einem anderen. Durch diesen epistemischen Mechanismus wird die ästhetische Wahrnehmung Schritt für Schritt in Gedanken und Fragen über soziale Wechselbeziehungen, den gegenwärtigen Zustand des sozialen Organismus und die Entwicklung einer zukünftigen menschlichen Gesellschaft transformiert. Die Installation fungiert als das sichtbare Transmissionsmodell dieser Gedanken.


8. Künstlerische Modelle, kann man sagen, haben Veranschaulichungsfunktion. Sie verhalten sich im Grunde nicht anders wie wissenschaftliche Modelle:

Das Modell liefert eine Reihe von Vorteilen. Der augenfälligste besteht darin, daß die Theorie anschaulich gemacht und daß die Vorstellungskraft unterstützt wird, während mit der Theorie gearbeitet wird.38

Sie erlauben die Visualisierung und Simulation komplexer, unanschaulicher Zusammenhänge und Konzeptionen. Ein künstlerisches Modell wie die "Honigpumpe am Arbeitsplatz" (Abb. 5) veranschaulicht jedoch nicht alle abstrakten Begriffe und Gedankenverbindungen der theoretischen Konzeption, von der sie ein Modell ist, sondern nur ganz bestimmte. Sie verbindet bestimmte abstrakte gedankliche Zusammenhänge, die in diesem Modell als wesentlich angesehen werden, mit bestimmten anderen beobachtbaren Gesichtspunkten, die nur durch Rekurs auf die zugrundeliegende Gedankenkonzeption erklärt werden können.

Die Installation "Honigpumpe am Arbeitsplatz" wurde 1977 für die documenta 6 in Kassel ausgeführt und war vom Künstler als ein Modell für den Energiefluß der Gesellschaft konzipiert .

Mit der Honigpumpe drücke ich das Prinzip der Freien Internationalen Universität aus, im Blutkreislauf der Gesellschaft zu arbeiten. In das Herzorgan - dem stählernen Honigbehälter- hinein und aus ihm heraus fließen die Hauptarterien, durch die der Honig mit einem pulsierenden Ton aus dem Maschinenraum gepumpt wird, durch das Gebiet der Free University zirkuliert




Seite 320


und zum Herzen zurückkehrt. Das ganze Gebilde wird erst vervollständigt durch die Menschen im Raum, um den die Honigarterie herumfließt und in welchem der Bienenkopf in den aufgerollten Schlauchwicklungen mit seinen eisernen Fühlern gefunden werden kann.39

Im Sumpf des Maschinenraumes sind die drei Hauptprinzipien von Beuys´ Theorie der Sozialen Skulptur - Denken, Fühlen und Wollen - in einem scheinbar physikalisch funktionierenden Modell dargestellt. Beuys erklärt den Modellcharakter seines Systems so:

Willenskraft in der chaotischen Energie des Doppelmotors, der den Haufen Fett aufwühlt. Gefühl im Herz und im Blutkreislauf des Honigs, der durch das Ganze fließt. Denkkräfte in dem Eurasienstab, dessen Spitze sich direkt aus dem Maschinenraum zum Tageslicht des Museums emporstreckt und dann wiederum nach unten zeigt.40

Abstrakte, unbeobachtbare Begriffe seiner Theorie der Sozialen Skulptur wie "Wille", "Gefühl", "Denken", "Blutkreislauf" oder "Gesellschaft" werden mit Hilfe eines Modells dargestellt, welches als seine Elemente industrielle Maschinenteile wie Schiffsmotoren, Antriebswellen, Plastikschläuche, Dichtungen, Sicherungen, Schalter, eine Vakuumpumpe oder Natursubstanzen wie Honig und Margarine verwendet. Drei archaische Tongefäße stehen in einer Ecke daneben. Diese Gegenstände stehen jedoch nicht für sich selbst, sie stellen sich nicht selbst dar, sondern beziehen sich auf eine komplexe theoretische Konzeption der Herausbildung, Entwicklung und Einspeisung des menschlichen Kapitals der Kreativität in eine humane, menschliche Zukunft. Die Elemente der Installation bilden so ein System, welches aufgrund seiner speziellen Art von Bezugnahme ein anschauliches Modell ist. Es funktioniert als eine visuelle Brücke zwischen den theoretischen, abstrakten Konzepten des Künstlers und den beobachtbaren Gegenständen der Installation.41 Dies ist auch der Grund, warum die Werke fremd und hermetisch bleiben, wenn man ihre Modellfunktion nicht kennt. Man muß zumindestens ahnen, wovon sie ein Modell sind, um ihr ästhetisches und soziales Wirkungspotential besser beurteilen zu können.

Daß wir mit unserer Interpretation dem Denken und den Ideen von Beuys dicht gefolgt sind, wird in einem Statement deutlich, das der Künstler parallel zur Installation der "Honigpumpe am Arbeitsplatz" in einem Faltblatt veröffentlichte. Es trägt den Titel: "Das Modell der FREE INTERNATIONAL UNIVERSITY ('Honeypump')".

"Die 'Honigpumpe am Arbeitsplatz' soll darauf hinweisen, daß an alle Arbeitsplätze des Menschen etwas herangebracht werden muß, was ihnen gegenwärtig fehlt - also etwas Neues ist. Wer herausbekommen will, was denn dieses Neue sei, muß sich selbst sagen, was das ist, was




Seite 321


ihm am Arbeitsplatz fehlt. ... So soll dieses Fehlende zunächst einmal als Honig, der ein wertvoller Nährstoff ist, in Erscheinung treten - und zwar in dem Sinne, daß er zirkuliert und alle Produktionsstätten mit wertvoller Nährsubstanz versorgt und sie alle, die sie aus der Sache heraus ohnehin aufeinander angewiesen sind, wie in einem Kreislaufsystem miteinander verbindet.42

Das Naturprodukt Honig dient als die entscheidende Modellsubstanz, um das Fließen positiver Denkenergien zu simulieren, die fähig sind, soziale Transformationsprozesse auszulösen oder sie zu verstärken.


9. Als letztes Beispiel für den evolutionären Modellcharakter des skulpturalen Werkes möchte ich das Projekt "7000 Eichen" (Abb. 6) vorstellen, welches von 1982 bis 1987 ausgeführt wurde.

Als seinen Beitrag zur documenta 7 von 1982 bestimmte Beuys die Pflanzung von 7000 Eichen innerhalb der Stadtgrenzen von Kassel. Neben jedem Baum sollte eine Basaltsäule errichtet werden als ein Zeichen für den historischen Augenblick, an dem die Menschen begonnen haben, ihr Leben auf die Umwandlung des ganzen sozialen Organismus auszurichten. Als ein erstes vorläufiges Modell für die abstrakte und unanschauliche Zahl arrangierte Beuys 7000 Basaltsteine in Form eines spitzen Dreiecks im Zentrum der Stadt, gegenüber dem Haupteingang des Museums Fridericianum; strategisch ein hervorragender Platz. Für jeden gepflanzten Baum wurde ein Basaltstein aus diesem skulpturalen Arrangement entnommen, so daß, je weiter das Werk fortschritt, das Dreieck progressiv abnahm und schlußendlich ganz verschwunden war. Nach der Zahl der Bäume befragt, antwortete Beuys:

Ich denke, das ist eine Art von Proportion und Dimension, erstens, weil die Sieben eine sehr alte Regel für Baumpflanzungen darstellt. Du weißt das von bereits bestehenden Plätzen und Städten. In Amerika gibt es eine sehr große Stadt, die Seven Oaks heißt, ebenso in England in Sevenoaks. Du siehst, daß Sieben, als Zahl, organisch in gewisser Weise verbunden ist mit einem solchen Unternehmen und sie paßt auch zur siebten documenta. Ich sagte mir, daß es ein sehr kleiner Schmuck ist, sieben Bäume, Siebzig bringt uns nicht zu der Idee von dem, was ich in deutsch >Verwaldung< nenne. Das suggeriert, die Welt zu einem großen Wald zu machen, Städte und Umgebungen waldartig zu machen. 70 würde nicht den Gedanken bezeichnen, 700 wiederum war noch nicht genug. So fühlte ich, 7000 war etwas, was ich in der vorhandenen Zeit tun könnte, für das ich die Verantwortung der Vollendung tragen könnte als einen ersten Schritt. So werden >7000 Eichen< ein sehr stark sichtbares Ergebnis in 300 Jahren sein. So kannst du die Dimension Zeit sehen ...43

In diesem Projekt, dessen Vollendung Joseph Beuys nicht mehr miterleben konnte, wurde das unbelebte, anorganische Basaltmodell langsam und Stück für Stück in ein




Seite 322


organisches System transformiert. Es wurde umgewandelt in ein räumlich verteiltes und kollektiv ausgeführtes Modell sozialer Skulptur, das ein hoch wirksames Ladungspotential besitzt, das sich über die nächsten Jahrhunderte hinweg, eben so lange wie eine Eiche wächst, kontinuierlich in die öffentliche Sphäre entladen wird. Auf diese Weise stellte das "7000 Eichen"- Projekt unter Beweis, daß die Theorie der sozialen Skulptur nicht nur eine Utopie ist, sondern tatsächlich als ein beispielhaftes Modell in der Wirklichkeit funktionieren kann. Beuys:

Es ist ein neuer Schritt in diesem Arbeiten mit Bäumen. Es ist nicht eine wirklich neue Dimension in dem ganzen Konzept einer Metamorphose von allem auf dieser Erde und von der Metamorphose des Verstehens von Kunst. Es handelt von der Metamorphose des sozialen Körpers in sich selbst, um ihn zu einer neuen sozialen Ordnung für die Zukunft zu bringen im Vergleich mit dem bestehenden Privatkapitalistischen System und staatszentralisierten Kommunistischen System.44

Es ist außerordentlich schwierig, dieses Projekt in Begriffen eines Kunstwerkes und seiner Kunst-Erfahrung zu definieren. Ich bin der Überzeugung, daß wir hier ein völlig neues Konzept einer Kunst vor uns haben, in der individuelle Erfahrungen, die von verschiedenen Beobachtern an Kunstwerken gemacht werden, in kollektive evolutionäre Kräfte transformiert werden, die in einer sehr direkten Art und Weise nicht nur das Selbstbewußtsein des individuellen Beobachters berühren, sondern ebenfalls die gegenwärtige und zukünftige Orientierung eines ganzen gesellschaftlichen Teilsystemes, in diesem Falle der Stadt Kassel, bestimmen können.

Dieses Modell hat nichts mit Land Art Projekten zu tun, da die Intention eine ganz andere ist. Man kann seine Qualitäten eigentlich nur negativ bestimmen. Es ist kein Kunstwerk, das sich transportieren läßt wie ein Gemälde oder welches in Wechselausstellungen gezeigt werden könnte. Es ist nicht autonom, sondern sein jeweiliges Aussehen hängt von der spezifischen Situation und dem Ort ab, für den es geschaffen worden ist. Es ist deshalb "site-specific", um einen Begriff von Richard Serra zu verwenden. Es kann nicht von einer Person besessen werden, sondern es gehört nahezu 3000 Personen, die über die ganze Welt verteilt sind und einen oder mehrere Bäume gestiftet haben. Aus diesen Gründen kann es auch nicht verkauft werden. Es ist deshalb auch der Kapitalakkumulation,wie sie durch Spekulation mit Kunstwerken möglich ist, entzogen.

Es ist ebenfalls für jedermann öffentlich wahrnehmbar, der spazierengeht, radfährt oder mit dem Auto unterwegs ist, ohne daß es für diese Personen nötig ist, zu wissen, daß es sich um ein Kunstwerk handelt. Das "7000 Eichen"- Projekt funktioniert also außerhalb eines spezifischen Kunst-Kontextes in einem sozialen, öffentlichen Gefüge. Es ist für den Beobachter gar nicht länger notwendig, zu wissen, ob es sich um ein Kunstwerk handelt oder nicht. Der Kunstcharakter hat sich vollständig zugunsten einer direkten sozialen Wirksamkeit, die den Einwohnern und Bürgern der Stadt zugute kommt, umgewandelt. Im Gegensatz zu traditionellen Kunstwerken ist es auch nützlich, da die




Seite 323


Blätter durch ihre riesige Oberfläche Tonnen von Staub aus der Luft filtern, das schädliche CO2 in Sauerstoff umwandeln, die Umgebung kühlen, und so weiter.

10. Alles in allem, haben wir immer noch große Schwierigkeiten mit diesen sehr neuen Formen von vor allem sozial und nicht ästhetisch wirksamen Kunstwerken. Unsere Methoden der Beschreibung und Analyse leiten sich in großen Teilen immer noch aus einem Kunstverständnis des 19. Jahrhunderts her, das mit solchen Begriffen wie Harmonie, Autonomie und Geschlossenheit des Werkes gegenüber seiner Umwelt argumentiert. Aus der Konfrontation mit solchen radikalen Entwicklungen, wie sie in der Kunst gegenwärtig stattfinden, müssen wir unsere traditionellen Begriffe und Theorien, die nicht mehr hinreichen, solche weitreichenden Grenzüberschreitungen in ihrer ganzen Konsequenz zu verstehen, neu überdenken. Da die wissenschaftliche Sprache der Kunstgeschichte notwendigerweise eine verbale Formulierung ihrer theoretischen Konzeptionen ist, müssen wir zu allererst die wissenschaftlichen Strategien des Denkens und der Wissenssystematisierung transformieren. In ständigem Dialog mit den zeitgenössischen Entwicklungen der Kunst muß der Wissenschaftsbegriff dahingehend erweitert oder verändert werden, daß er den notwendigen Dialog zwischen Kunstwerk, Mensch und Umwelt als das grundlegende Kapital jeglichen wissenschaftlichen Unterfangens begreift und in die wissenschaftliche Praxis integriert. Das direkte Verändern des gesellschaftlichen Organismus selbst durch Wissenschaft als Kunst,45 durch Einspeisung kollektiver Denkergebnisse in den gesellschaftlichen Kreislauf könnte sich als ein nicht unwesentliches Ziel einer zukünftigen Wissenschaft von der Kunst herausstellen. Dies bedeutet auch für die Wissenschaft, erste Gehversuche in eine Zukunft, in der wir unser gesamtes Denken und Handeln in Richtung auf einen menschlicheren und ökologischen Umbau des gesellschaftlichen Organismus verändern müssen und zwar mit gebotener Eile. Daß das Werk von Joseph Beuys dafür eine herausragende Denkhilfe bieten kann, habe ich versucht zu zeigen.

Fussnoten:
Dieser Aufsatz ist eine erweiterte und veränderte Version eines Vortrages, den ich im September 1989 im Rahmen der Daniel H. Silberberg Lectures am Institute of Fine Arts der New York University, am College of Fine Arts der University of Texas at Austin und der University of South Florida at Tampa gehalten habe.
1 Transformer, USA 1988, Regie John Halpern, 59 min. Siehe ebenfalls die Äußerung von Beuys: "Das Herz von Europa liegt in Deutschland, und jetzt geht genau durch die Mitte des Herzens die Mauer hindurch."in: Jaqueline Burckhardt (Hrsg.): Ein Gespräch. Una discussione. Joseph Beuys, Jannis Kounellis,Anselm Kiefer,Enzo Cucchi, Zürich: Parkett-Verlag (1986), S. 148:
2 Joseph Beuys: Aktive Neutralität. Die Überwindung von Kapitalismus und Kommunismus. Ein Vortrag mit Diskussion am 20. Januar 1985 in Rorschach , Freie Volkshochschule Argental eV : Wangen 1987
3 Johannes Stüttgen: Freie Internationale Universität. Free International University. FIU, Organ des erweiterten Kunstbegriffes für die Soziale Skulptur. Eine Darstellung der Idee, Geschichte und Tätigkeit der FIU. Düsseldorf (1984)/Wangen (1987), S. 24 f.
4 Beuys: "Das ist aber auch eine Frage der Strategie. Wenn ich in meinem Laboratorium eine Anordnung mache gegen die bestehende Situation, dann frage ich mich natürlich, wie ich die höchstmögliche Provokation erzielen kann." Ein Gespräch (1986) (wie Anm. 1), S. 116. Oder: "Die Bewegung kommt zustande durch eine Provokation, durch eine Einweihung, durch eine Initiation zum Zweck der Bewegung." in: Adam C. Oellers u. Franz Joseph van der Grinten: Kreuz Zeichen. Religiöse Grundlagen im Werk von Joseph Beuys. Ausstellungskatalog Aachen (1985), S. 16
5 Einer der frühesten Kunsthistoriker, der sich mit großer Sensibilität und Vorurteilslosigkeit mit den Zeichnungen Joseph Beuys¹ auseinandersetzte, war Peter Anselm Riedl. Sein verständnisvoll und einfühlend geschriebener Aufsatz Das graphische Porträt [III]: Joseph Beuys ist leider in einer schwer zugänglichen bibliophilen Zeitschrift veröffentlicht worden, nämlich in ZET, Jg. 1 (1973), Heft 3, S. 19 - 22
6 Joseph Beuys im Gespräch mit Knut Fischer und Walter Smerling, (= Kunst heute Nr.1), Köln: Kiepenheuer & Witsch (1989), S. 26: "Ich muß sagen, solange dieses Universitätssystem so organisiert ist wie jetzt mit dieser Beamtenstruktur, kann es nicht anders laufen, als es läuft, weil sich die Leute ja einfach absetzen. Die machen ja sofort einen Trennungsstrich. Das Wichtigste ist eben ihre Position. D. h. ihre Karriere und ihr Beamtenstatus. Aus dieser Position heraus wagen sie ja nichts mehr. Kein Risiko mehr! In dem Augenblick, wo dieses System weg ist und wo man sagt, in Universitäten, Schulen und Hochschulen, in allen Einrichtungen, die der Herstellung der menschlichen Fähigkeiten dienen, also in diesen Unternehmen, die das konkrete Kapital der Gesellschaft entwickeln, kann grundsätzlich nur etwas erreicht werden durch diejenigen, die dort Lehrende und Lernende sind, also geben, nehmen auf Gegenseitigkeit, kommt was in Gang."
7 Ein Gespräch (1986) (wie Anm. 1), S. 162:
"BEUYS: ...Und dann haben wir die Kunsthistoriker, die diese Vergangenheit dauernd in Büchern umwälzen.
KOUNELLIS: Die Kunsthistoriker gibt es nicht. Die Geschichte nützt nur den Künstlern und den Dichtern.
BEUYS: Also müssen die Kunsthistoriker geköpft werden.
KOUNELLIS: Schon geschehen."
8 Eine ausführlichere Darstellung dieses Ansatzes findet der Leser in Hans Dieter Huber: System und Wirkung. Rauschenberg - Twombly- Baruchello. Fragen der Interpretation und Bedeutung zeitgenössischer Kunst. Ein systemtheoretischer Ansatz. München: Fink (1989), S.39-52
9 Hilary Putnam: Realism and Reason, in: ders.: Meaning and the Moral Sciences, London (1978), S.138
10 Joachim Hoffmamm: Aktuelle Probleme der Erforschung begrifflicher Klassifizierungsleistungen des Menschen, in: Zeitschrift für Psychologie, Bd. 192, H. 4 (1984), S. 358: "Wir können grundsätztlich davon ausgehen, daß im Verlaufe der visuellen Informationsverarbeitung, die von einem Objekt ausgehende Reizverteilung zunächst in eine interne Merkmalsbeschreibung umgewandelt wird. Einzelne Eigenschaften der Reizverteilung werden in spezifischen neuronalen Reaktionen widergespiegelt, die in ihrer Gesamtheit die interne Merkmalsstruktur konstituieren. (...) Am schnellsten werden sogenannte globale Merkmale für die weitere Verarbeitung zur Verfügung gestellt. (...) Lokale Details einer Reizverteilung werden demgegenüber erst nach längerer Reizeinwirkung als Merkmal realisiert und damit für die weitere Informationsverarbeitung erst später nutzbar."
11 Zur Frage nach möglichen systematischen Beziehungen von Gegenständen und deren durch verbale Begriffe repräsentierten Merkmalen und Eigenschaften, dem sogenannten semantischen Netz, vgl. zusammenfassend und einen guten Überblick gebend Wolfgang Schönpflug / Ute Schönpflug: Psychologie. Allgemeine Psychologie und ihre Verzweigungen in die Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Sozialpsychologie. Ein Lehrbuch für das Grundstudium. München - Wien - Baltimore: Urban & Schwarzenberg (1983), S. 136 - 41
12 Anatol Rapoport: Systems Analysis: General Systems Theory, in: Encyclopedia of the Social Sciences, (ed.) David L. Sills, Bd. 15, (1968), S.454: "Structure is a description of the interrelations among the components of a system: the arrangement of its parts and the potential influence which they may have upon each other.
13 Vgl. dazu Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp (1984), S. 242 ff.
14 Der Begriff der strukturellen Koppelung eines Organismus mit seiner Umwelt als eine "Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen" wurde zuerst von Humberto R. Maturana und Francisco Varela in die Neurobiologie eingeführt. Vgl. Humberto R. Maturana/Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Bern und München: Scherz Verlag (1984), S.85 sowie Humberto R. Maturana: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg Verlag (21985), S.20f. und S.243f.: "Die dynamischen strukturellen Beziehungen einer Einheit mit ihrem Medium, durch die diese Einheit ihre Identität bewahrt (...) nenne ich >strukturelle Koppelung< (oder >strukturelle Anpassung<). Diese Koppelung wird durch die alltägliche Praxis des Beobachters erkennbar." Humberto R. Maturana: Elemente einer Ontologie des Beobachtens; in: Hans Ulrich Gumbrecht / K.Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt: Suhrkamp (1988), S. 833.
15 Willard Van Orman Quine: Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart: Reclam (1975), S. 41: "Bedeutungen sind zuerst und hauptsächlich sprachliche Bedeutungen."
16 Gisela Ulmann: Sprache und Wahrnemung. Verfestigen und Aufbrechen von Anschauungen durch Wörter. Frankfurt/M.: Campus (1975), S. 38: "Hat man ein Wort für eine bestimmte Organisation [des Wahrnehmungsfeldes, d. A.] gefunden, so kann sie immer wieder hergestellt werden, bzw. es ist schwierig, dann eine andere Organisation zu bilden."
17 (Bearb.): Karin v. Maur und Gudrun Inboden, Malerei und Plastik des 20. Jahrhunderts, einschl. Nachtrag 1984, Staatsgalerie Stuttgart (1982), S. 93
18 Man muß sich einmal vorstellen, wieviele Jahrhunderte an medizinischen Versuchen und Forschungen vergehen mußten, bis man auf die Idee kam, durch Infusion von Ersatzblut der gleichen Blutgruppe in die Arterien eines noch lebenden Organismus einen lebensbedrohlichen Blutverlust auszugleichen und dadurch das Lebensgleichgewicht wiederherzustellen. Als Entdecker der menschlichen Blutgruppen gilt Karl Landsteiner, ein österreichisch- amerikanischer Chemiker und Mediziner, der 1901 das ABO-System der Blutgruppen entdeckte und dafür 1930 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Das alles ist für uns heute so selbstverständlich geworden, daß wir gar nicht daran denken würden, daß diese lebensrettende Entdeckung noch keine 90 Jahre alt ist. Landsteiner wurde am 14.6.1868 in Wien geboren, er starb am 26.6.1943 in New York . Er war Professor in Wien, danach am Rockefeller-Institut für medizinische Forschung in New York tätig. Er entdeckte 1901 das ABO-System der Blutgruppen,1927 mit P. Levine die M/n- und P/p-Systeme sowie 1940 mit A.S. Wiener das Rhesussystem. Meyers Großes Taschenlexikon, Hrsg. und bearb. von der Lexikonredaktion des Bibliographischen Instituts, Mannheim/Wien/Zürich (1981), Bd. 12, S. 333
19 Vgl. dazu ausführlicher Hans Dieter Huber (1989) (wie Anm. 9 ) S. 75 ff.
20 William H. Ittelson/Harold M. Proshansky/ Leanne G. Rivlin / Gary H. Winkel: Einführung in die Umweltpsychologie, Stuttgart: Klett-Cotta (1977), S. 110-119
21 "'Ich denke sowieso mit den Knie¹. Das ist ja so ein Spruch. Ich weiß nicht, ob Sie das gehört haben. Ich habe damit natürlich was im höchsten Grade Komplexes gemeint. Erstmal habe ich darauf hinweisen wollen, daß dieses Leuchten, was jetzt von da kommt, daß das Denken ja nicht durch das Gehirn produziert wird, daß der Kopf zwar wichtig ist als eine Bodenstation, aber wenn man das schon nimmt, das Gehirn als Instrumentarium für das Denken, das von außen kommt, was viel größer ist als der Mensch, daß das sich natürlich auch durch ganze andere Leibesorgane vollzieht. Das Denken ist nicht nur an die Funktion des Gehirnes gebunden." Mario Kramer: Joseph Beuys >Das Kapital Raum 1970 - 77<, Heidelberg: Edition Staeck (1991), S. 24 sowie Christel Raussmüller-Sauer (Hrsg.), JOSEPH BEUYS und DAS KAPITAL. Vier Vorträge zum Verständnis von Joseph Beuys und seiner Rauminstallation "Das Kapital Raum 1970-77" in den Hallen für Neue Kunst, Schaffhausen..., Schaffhausen (1988), S. 130: "Und wenn man zur Tat schreiten muss, dann muss die Intelligenz eigentlich überall sein, auch im Knie und überall in den Sinnesorganen, in den Augen, in der Haut usw. Also eine viel grössere Auffassung von der Kreativität als die, wo irgend etwas ganz wichtig ist, und alles andere ist nur - sagen wir mal: Fleisch oder Biologie."
22 Beuys: "Es sollte endlich das Verhältnis aufhören, dass man einem Objekt gegenübersteht, ohne dass man partizipieren kann. Bei einigen findet dann die Identifikation, die Kommunion mit dem Bilde statt, also die Partizipation. So wie aber normalerweise die Leute heute den Bildern gegenüberstehen, sieht man, dass sie wegen ihrer Erziehung eine Begegnung mit dem Kunstwerk haben, die nichts anderes ist als eine Peepshow. Die Idee der Partizipation war der allererste Schritt." Ein Gespräch (1986) (wie Anm. 1), S. 121
23 Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerkes, Tübingen: Niemeyer 1968, S. 49-55
24 Vgl. Hans Dieter Huber: Die Unschärfebeziehung zwischen Kunstwerk und Betrachter. in: Ausstellungskatalog MC.-Analoge Systeme-Arbeiten 1986-89, Galerie der Stadt Langenfeld, Rathaus, 10.5.89 - 1.6.89, S. 6-7
25 Zum Begriff des Kunstwerks als einem Repräsentationssystem siehe Hans Dieter Huber: Die Sprache der Bilder und die Bilder der Sprache. Sprachanalytische Anmerkungen zu Baruchellos "La Correspondence"; in: Wolfgang Harms (Hrsg.): Text und Bild, Bild und Text. Das Reisensburger Symposium 1988, Stuttgart: Metzler Verlag (1989), S. 399 f.
26 Caroline Tisdall: Joseph Beuys, London: Thames and Hudson (1979), S. 190
27 JOSEPH BEUYS und DAS KAPITAL.(1988) (wie Anm. 21 ), S. 81
28 Zur inferentiellen Struktur von Meinungen und Überzeugungen vgl. Peter Bieri (Hrsg.): Analytische Philosophie der Erkenntnis. Frankfurt/M.: Athenäum Verlag (1987), S. 25-28 sowie Peter Frederick Strawson: Einzelding und logisches Subjekt (Individuals) ,Stuttgart:Reclam (1972), S.29: "Dennoch ist nicht zu leugnen, daß jeder von uns in jedem Augenblick einen solchen Rahmen besitzt - einen geschlossenen Rahmen der Kenntnis von Einzeldingen, in dem wir selbst und gewöhnlich auch die uns unmittelbar umgebenden Dinge ihren Platz haben und in dem jedes Element zu jedem anderen in einer eindeutigen Beziehung steht, insbesondere zu uns selbst und unserer Umgebung. Dieser Rahmen unseres Wissens stellt unbestreitbar ein einzigartig wirksames Mittel dar, neu identifizierte Einzeldinge in den bereits vorhandenen Bestand einzufügen. Wir benutzen ihn nicht nur gelegentlich und zufällig, sondern ständig und wesentlich zu diesem Zweck. Es ist eine notwendige Wahrheit, daß jedes Einzelding, das wir kennenlernen, irgendwie identifizierend mit dem Rahmen verknüpft ist, und sei es nur durch Anlaß und Methode dieses Kennenlernens."
29 Zu den verschiedenen hypothetischen Speichermodellen des menschlichen Gedächtnisses vgl. einführend Schönpflug/ Schönpflug (1983) (wie Anm. 11 ), S. 203 - 216
30 Siehe Wolf Lauterbach/Viktor Sarris: Beiträge zur psychologischen Bezugssystemforschung. Bern: Huber (1980), bes. S. 15-55
31 Vgl. Huber (1989) (wie Anm..9 ), S.78f.
32 Die klassische Formulierung der Theorie der kognitiven Dissonanz stammt von Leo Festinger. Siehe Leo Festinger: A theory of cognitive dissonance. Stanford: Stanford University Press (1957). Vgl. dazu den Überblick in Dieter Frey/Siegried Greif (Hrsg.): Sozialpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. München, Wien, Baltimore: Urban+Schwarzenberg (1983), S. 147-153
33 Die klassische Untersuchung stammt von Else Frenkel-Brunswick: Intolerance of ambiguity as an emotional and perceptual personality variable. Journal of Personality, 18, 1949/50, S. 108-143. Vgl. auch Karl-Friedrich Graumann: Nicht-Sinnliche Bedingungen des Wahrnehmens; in: W. Metzger u. H.Erke (Hrsg.): Handbuch der Psychologie,Bd.1 Allgemeine Psychologie,1. Halbband, Göttingen:Hogrefe (21974), S. 1040-1042
34 Beuys: Ich durchsuche Feldcharakter; in: Volker Harlan/Rainer Rappmann/Peter Schata: Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, Achberg (1976), S. 121
35 Aufruf zur Alternative.Erstveröffentlichung in Frankfurter Rundschau am 23.12.1978. Wiederabgedruckt in : Harlan/Rappmann/Schata (1976)(wie Anm. 34 ) , S. 131
36 ebd., S.135
37 Eintritt in ein Lebewesen. Vortrag - gehalten am 6.8.1977 im Rahmen der Free International University, documenta 6 in Kassel. Wiederabgedruckt in : Harlan/Rappmann/Schata (1976) (wie Anm. 34 ) , S. 125
38 Wilfrid Sellars:Theoretische Erklärung, in: Lorenz Krüger (Hrsg.): Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Texte zur Einführung in die Philosophie der Wissenschaft , Köln/Berlin (1970), S.245
39 "With Honeypump I am expressing the principle of the Free International University working in the bloodstream of society. Flowing in and out of the heart organ - the steel honey container- are the main arteries through which the hones is pumped out of the engine room with a pulsing sound, circulates round the Free University area, and returns to the heart. The whole thing is only complete with people in the space round which the honey artery flows and where the bee´s head is to be found in the coiled loops of tubing with its iron feelers." Tisdall (1979), S.254
40 ebd.
41 Zur Brückenfunktion wissenschaftlicher Modelle zwischen beobachtbaren Phänomenen und den von der Theorie zu erklärenden, abstrakten Konzepten vgl. Wilfrid Sellars: The Language of Theories ; in H. Feigl/Wilfrid Sellars: Current Issues in the Philosophy of Science , New York (1971), S. 59
42 Johannes Stüttgen/Joseph Beuys: Das Modell der FREE INTERNATIONAL UNIVERSITY ("Honeypump"), o.O., (1977), S.1
43 Interview mit Richard Demarco; in: Fernando Groener und Rose-Maria Kandler (Hrsg): 7000 Eichen-Joseph Beuys, Köln: König, (1987), S. 16
44 ebd., S.18f.
45 So lautete der Titel der Züricher Antrittsvorlesung von Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt: Suhrkamp (1984)



designed by Hans Dieter Huber


ÿ