Bild, Beobachter, Milieu. Interview mit Hans Dieter Huber
 


First Installation:18.12.04 Last Update: 18.12.2004


erschienen in: Klaus Sachs-Hombach: Wege zur Bildwissenschaft. Interviews. Köln: Herbert von Halem Verlag 2004, S. 229-241


KSH: Lieber Hans Dieter, du bist seit Oktober 1999 Professor für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. 1953 geboren, hattest du dich zunächst mit einem Studium der Malerei und Graphik an der Akademie der Bildenden Künste in München der Praxis zugewandt. Es schloss sich dann ein Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie an der Universität Heidelberg an. Die Promotion erfolgte 1986 in Kunstgeschichte, 1994 dann die Habilitation über Paolo Veronese. Von 1997 bis 1999 warst du Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Neben den Fragen zur Kunst des 20. Jahrhunderts, insbesondere zur zeitgenössischen Kunst und Kunsttheorie, und neben den Fragen zur Geschichte des Internets, hast du dich in deiner Forschungsarbeit seit langem mit Fragen der Bildtheorie beschäftigt. Hierbei gehst du von einer Theorie sozialer Systeme aus, wie sie im sogenannten Radikalen Konstruktivismus entwickelt worden ist (siehe etwa „System und Wirkung: Fragen der Interpretation und Bedeutung zeitgenössischer Kunst. Ein systemtheoretischer Ansatz (Rauschenberg - Twombly – Baruchello“, München 1989). Teile dieser Theorie bzw. deiner Vorstellungen einer allgemeinen Bildwissenschaft hast du in den drei Eröffnungsbänden der „Bildwissenschaft“ vorgestellt. Seit Juli 2000 bist du Leiter des von der Bund-Länder-Kommission Bonn geförderten Modellprojekts „Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter“, (http://www.visuelle-kompetenz.de), dessen erste Ergebnisse vor kurzem unter dem Titel „Bild, Wissen, Medien“ im kopaed-Verlag München erschienen sind. Wie auch die übrigen beteiligten Kunstwissenschaftler hast du starke philosophische Interessen, d. h. eine starke Neigung konzeptionellen Fragen gegenüber. Du hast beispielsweise in Heidelberg bei Peter Bieri Philosophie studiert. Vor allem fasziniert hat mich an unseren Begegnungen aber immer dein – wie ich es nennen möchte – visueller Enthusiasmus, der sich mit einer Leidenschaft für das konkrete visuelle Ereignis verbindet. Wie würdest du selber die Schwerpunkte deiner Arbeit sehen bzw. das Verhältnis deiner unterschiedlichen Forschungsinteressen?
Huber: Die Schwerpunkte meiner Arbeit sind relativ vielfältig. Sie lassen sich weit zurück verfolgen und es lässt sich feststellen, dass es immer drei große Bereiche gab, die mich interessiert haben. Der eine Bereich ist die Kunst, der andere Bereich die Wirklichkeit und der dritte Bereich der Mensch, die Art und Weise, wie er wahrnimmt, wie er denkt, wie er fühlt, wie er sich bewegt, usw. Aus diesen Bereichen bzw. den entsprechenden Fragestellungen speisen sich bis heute meine Ansätze und Ideen, wobei es durchaus sein kann, dass sie einmal den Schwerpunkt auf die Kunst legen, das andere mal den Schwerpunkt auf die Wirklichkeitskonstruktion, oder dann auch mal den Schwerpunkt auf den Beobachter. Es ist vielleicht für das Publikum nicht immer klar erkennbar, auf welchem Terrain ich mich im Moment bewege, aber für mich selbst sind alle meine Fragestellungen in eine Trilogie eingespannt, die aus dem Bild, dem Beobachter und dem Milieu ,in dem sich beide befinden,, besteht.
KSH: Verstehst du dich in deinen Arbeiten als Kunsthistoriker oder eher als Kunstwissenschaftler? Würdest du einen Unterschied machen? Oder ist das eher eine unwichtige Frage der Bezeichnung?
Huber: Nein, eine unwichtige Frage ist es sicher nicht. Es ist eine interessante Frage, wie ich mich selbst verstehe, weil ich selbst jahrzehntelang damit Probleme gehabt habe, ob und wie ich mich überhaupt selbst verstehen kann. Ich muss sagen, dass ich mich weder als Kunstwissenschaftler noch als Kunsthistoriker verstehe. Mir ist es im Prinzip völlig egal, als was man mich etikettiert. Wenn man es biographisch sieht, komme ich ja aus der Bildenden Kunst, d. h. ich habe als Künstler begonnen, bin dann aber aufgrund von verschiedenen Verweigerungshaltungen dem Kunstfeld gegenüber in die Wissenschaft gegangen. Wobei ich sagen würde, dass ich in keiner Weise ein orthodoxer, akademischer Kunsthistoriker bin. Das umfasst nur einen kleinen, aber wichtigen Bruchteil meiner Tätigkeiten und meines Selbstverständnisses. Wenn du unbedingt eine Definition haben willst, wie ich mich selbst verstehe, dann würde ich den Begriff des Forschers favorisieren. Er ist offen und unbestimmt genug.
KSH: Du hast sehr starke Interessen an philosophischen Aspekten der kunsttheoretischen Fragestellungen. Hierbei legst du deinen Arbeiten in der Regel die Modelle des sogenannten Radikalen Konstruktivismus zugrunde, wie sie etwa Maturana entwickelt hat. Kannst du kurz skizzieren, worin du den Wert und die Fruchtbarkeit dieser Modelle für deine Kunsttheorie siehst?
Huber: Es gab für mich eine Phase in meiner eigenen Arbeit, wo ich mich sehr stark mit den Theorien von Maturana und Varela auseinandergesetzt habe, wobei ich den Formulierungen des Radikalen Konstruktivismus, wie sie etwa von Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster oder auch von Siegfried J. Schmidt vorgetragen worden sind, immer etwas misstrauisch gegenüber stand, weil ich dort eine unnötige Vereinseitigung eines bestimmten Problems sah. Ich würde sagen, dass die Theorien von Maturana und Varela wesentlich breiter angelegt sind. Für mein Denken sind heute im Wesentlichen drei Punkte wichtig, die ich ja schon in der ersten Frage angedeutet habe. Es geht um eine Trilogie: Der eine Bereich ist das Bild, der zweite Bereich ist der Beobachter und der dritte Bereich ist das Milieu, die Umgebung oder Situation,, in der sich beide befinden. Mir ist heute klar, dass man keine Bildwissenschaft betreiben kann, wenn man diese Trilogie auflöst. Es lassen sich immer wieder bildwissenschaftliche Ansätze finden, die den einen oder anderen Aspekt stark machen. Es gibt Versuche, bestimmte, allgemeine Eigenschaften aller Bilder zu isolieren und daraus eine Allgemeine Bildwissenschaft zu entwickeln. Sie vernachlässigen aber meistens die Beobachterrelativität und auch die Einbettung von Beobachter und Bild in bestimmte Milieus, die entscheidend sind für die Bedeutung dieser Zusammenhänge. Oder es gibt Ansätze in der Bildwissenschaft, die versuchen den Beobachter stark zu machen, also alles sozusagen in die Ebene der Erfahrung von Bildern zu verlagern. Auch das sind unnötige Vereinseitigungen, die dann den Einfluss des Bildes als auslösendes Irritativ und den Einfluss des Milieus auf diese Erfahrung unterschlagen. Und im dritten Bereich haben wir mit dem Gebiet der Visual Culture oder Visual Studies ein Feld, das sich sehr stark mit den Milieus, den Kontexten und den kulturellen Rahmenbedingungen solcher Visualisierungen befasst. Auch da lässt sich wieder beobachten, dass sie oft oder ab und zu dazu neigen, die Bildanalyse auszublenden oder den Beobachter zu unterschlagen. Insofern würde ich sagen, dass mein Ansatz ein systemischer Ansatz ist.
KSH: Macht es eigentlich einen Unterschied, ob du diese theoretischen Modelle auf eher traditionelle Kunstwerke anwendest oder auf modernere Kunstwerke? Du hast dich ja in deiner Forschungstätigkeit einerseits sehr intensiv mit der Renaissance-Kunst beschäftigt, vor allem mit Veronese, über den du auch publiziert hast. Andererseits liegt ein gegenwärtiger Schwerpunkt – oder zumindest einer deiner Schwerpunkte – in der Net.Art. Lassen sich deine theoretischen Modelle in gleicher Weise auf diese sehr unterschiedlichen Kunstformen anwenden? Gibt es vielleicht spezielle Bedingungen, die bei der Net.Art vor allem zum Tragen kommt?
Huber: Selbstverständlich muss man da differenzieren. Ich würde drei verschiedene Felder von einander unterscheiden wollen. Ich würde zunächst eine Allgemeine Bildwissenschaft von einer Speziellen Bildwissenschaft unterscheiden, und diese noch einmal absetzen von einer Historischen Bildwissenschaft. Eine Allgemeine Bildwissenschaft formuliert für mich auf einer abstrakten Ebene, ohne Berücksichtigung historischer oder medienspezifischer Zusammenhänge, das Feld, wie ich es eben in systematischer Weise angedeutet habe. Das ist die Theorie des Bildes, die Theorie des Beobachters und die Theorie des Milieus. Eine Allgemeine Bildwissenschaft ist hierbei notwendigerweise unhistorisch und unspezifisch. Dann kommt für mich das, was ich Spezielle Bildwissenschaft nennen möchte. Hier werden die jeweiligen bildwissenschaftlichen Fragestellungen auf spezielle Medien oder Mediengattungen hin durchgeführt. Man könnte in diesem Bereich auch auch von einer Bildmedienwissenschaft sprechen. Wenn man will, kann man auf dieser Ebene auch die Kunstwissenschaft als eine Bildwissenschaft auffassen, wenn man Kunstwerke als einen speziellen Teilbereich von Bildern auffasst, der mit spezifischen Kontexten und spezifischen Beobachtungssituationen korreliert. Aber man könnte natürlich dort auch die digitalen Medien verorten, also die Frage der Medialität oder Digitalität von Bildern, Beobachtungsprozessen und Milieus in einer solchen Speziellen Bildwissenschaft diskutieren. Und man müsste davon eine historische Rekonstruktion dieser Verhältnisse unterscheiden. Wenn du mich jetzt nach dem Verhältnis fragst, zum Beispiel danach, was Veronese oder die Ottonische Buchmalerei mit Fotografie oder mit dem Netz zu tun haben, dann muss man diese drei Ebenen im Auge behalten. Man muss schauen: Ist es eine strukturelle oder eine medienspezifische Analyse? Dann ist sie im Bereich der Speziellen Bildwissenschaft angesiedelt. Oder argumentiert der Text eher historisch? Dann ist er Bestandteil der historischen Rekonstruktion der Bildwissenschaft.
KSH: Ich möchte noch etwas genauer auf deine spezielle Bildtheorie eingehen. Indem du vom Radikalen Konstruktivismus ausgehst, scheint deine Arbeit rezeptionsorientiert zu sein. Das Entscheidende ist eben der Betrachter oder Beobachter bzw. wie das Verhältnis von Betrachter und Werk zu beschreiben ist. Teilweise habe ich den Eindruck, dass das bei dir zu einem Relativismus führt, der beispielsweise die Betonung projektiver Mechanismen in den Vordergrund rückt. Die Bildinterpretation ist dann etwas, was vielleicht nicht gerade beliebig ist, aber doch etwas, für das es keine Korrektheitsmaßstäbe mehr zu geben scheint. Wie würdest du mit diesem Problem umgehen? Ist der Relativismus durchaus beabsichtigt oder nur eine eher unangenehme Folge, die es zu begrenzen gilt?
Huber: Er ist sowohl beabsichtigt als auch eine unangenehme Folge, würde ich sagen. Ich meine, du hast das natürlich genau beobachtet, dass in meiner bisherigen Arbeit das Verhältnis zwischen Beobachter und Bild ein sehr wichtiger Bestandteil ist, und ich würde auch sagen, dass in meinen vergangenen Arbeiten dort die Stärken sind. Ich muss aber zum heutigen Zeitpunkt auch sagen, dass ich mittlerweile wesentlich weiter gekommen bin, das heißt, dass für mich diese unauflösbare Trilogie gilt, und das Bild und der Beobachter sich immer beide in einem gemeinsamen Milieu befinden, an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit. Es ist nicht möglich, ein Bild in einer Situation zu beobachten, wo sich das Bild und der Beobachter an völlig verschiedenen Orten befinden. Ich kenne kein Besipiel, wo dies möglich wäre. Das ist komplett ausgeschlossen. Also heißt das, dass in dieser Betonung der Relation zwischen Bild und Beobachter natürlich auch der Kontext, der diese Beobachtung produziert, erzeugt, ermöglicht oder konfiguriert, immer mitgedacht wird, auch wenn er nicht explizit betont worden ist. Der Relativismus ist in der Weise beabsichtigt, dass jeder von uns aufgrund seiner individuellen Seherfahrungen, seinen unterschiedlichen Einstellungen oder Vorurteilen, seiner besonderen Bildungsgeschichte oder seiner unterschiedlichen kulturellen Sozialisation Bilder anders wahrnimmt. Und damit muss man umgehen. Zunächst kann man auf einem einfachen Niveau konstatieren, dass jeder Beobachter, wenn er ein und das selbe Bild beobachtet, zunächst etwas anderes sieht. Aber wenn man das wieder an das Milieu rückkoppelt, kann man sagen, dass das Milieu eine Art Disziplinierungsdispositiv ist, wo diese Individualität, Heterogenität oder auch Willkür der Wahrnehmung, sozial zurückgebunden wird an Konventionen, an Korrektive und dadurch eben sozial vermittelbar und sozial akzeptierbar wird.
KSH: Du versuchst diesen Relativismus jetzt in einen sozialen Konstruktionsprozess einzubinden. Normalerweise ist die semiotische Bildtheorie eigentlich eine Position, die etwas Vergleichbares macht. Goodman hat ja beispielsweise die Vorstellung, dass keine Ähnlichkeitsmaßstäbe für die Bildinterpretation relevant sind, sondern dass die Ähnlichkeit selber wiederum als ein sozialer Konstruktionsprozess aufzufassen ist.
Huber: Wunderbar.
KSH: Das Problem ist aber doch, dass es dadurch rein theoretisch möglich wäre, dass jemand in einem Bild, das uns als Elefantenbild erscheint, eine Giraffe sieht. Ist das plausibel? Sollten wir das für möglich halten? Mir scheint es eine absurde Konsequenz der Theorie zu sein. Stattdessen würde ich Grenzen der Variabilität der Bildinterpretation annehmen, die dann wahrscheinlich wahrnehmungstheoretisch fundiert sind.
Huber: Ganz klar. Es ist wahrscheinlich schon ziemlich selten der Fall, wenn einer statt einem Elefanten eine Giraffe erkennt. Aber es kommt andererseits sehr häufig vor, dass Tiere auf Bildern falsch identifiziert werden. Es ist gar nicht so absurd. Man kann sehr leicht eine gemalte Amsel mit einer gemalten Alpenkrähe verwechseln, wenn man nicht auf den gelben Schnabel achtet. Das kommt häufig vor und führt dann zu entsprechenden Fehlinterpretationen. Ich erinnere mich an ein Symposium, wo ich die ‚Drei Philosophen’ von Giorgione in Zusammenhang mit meiner Projektionsthese gezeigt habe. In der Diskussion sprach ein Wissenschaftler plötzlich von vier Personen, die er auf dem Bild gesehen oder erinnert hatte.. Als ich ihn auf seinen Irrtum aufmerksam machte, korrigierte er sich natürlich und schloss sich meiner Auffassung an, dass es offensichtlich doch nur drei Philosophen waren und nicht vier. Ich kann bei solchen Anekdoten, von denen ich eine ganze Menge aus der täglichen Praxis kenne, natürlich niemals herausfinden, ob er tatsächlich vier Männer auf dem Bild gesehen hat oder nur meinte, vier Männer gesehen zu haben. Alleine das ist schon ein enorm kompliziertes epistemologisches Problem. Aber natürlich ist es so – das versuche ich immer wieder zu betonen –, dass nicht alles nur vom Beobachter erzeugt wird. Denn wenn das so wäre, wäre es völlig egal, was sich vor deinen Augen befindet. Es wäre völlig egal, ob das eine kitschig gespachtelte Spanierin ist, die du irgendwo im Kaufhof für 99,00 € kaufen kannst, oder ob das die Büßende Magdalena von Tizian von 1565 ist. Es wäre dann komplett egal, weil alles deine projektive Leistung wäre. Das kann es ja auch nicht sein. Also würde ich sagen, mein Standpunkt ist der, dass es immer ein notwendiges und unauflösbares Zusammenspiel zwischen den auslösenden Momenten und Strukturen eines Bildes gibt, die von einem Beobachter in Form einer Irritation bemerkt werden. Dann passiert etwas mit diesem Beobachter, was wir noch nicht genau beschrieben haben, und wiederum ist klar, dass dieses Bild und dieser Beobachter in dem Moment ihrer Begegnung in eine bestimmte Zeit eingebunden sind, in der diese Begegnung stattfindet, und in einen bestimmten Ort. Diese Rahmenbedingungen regeln in einem sehr hohen Maße, was der Beobachter sieht, was er erkennt und wie er das Gesehene verarbeitet und versteht.
KSH: In dieser Konzeption spielt der Beobachter die entscheidende Rolle, denke ich.
Huber: Nein, das würde ich nicht sagen. Das wäre für mich schon wieder eine einseitige Interpretation. Ich würde sagen, alle drei Teile spielen eine entscheidende Rolle. Alle drei. Und sobald du versuchst, den Schwerpunkt deiner Beobachtung oder Argumentation irgendwo hin zu verschieben, zum Bild, zum Beobachter oder zum Milieu, ist es schon wieder eine folgenschwere Reduktion.
KSH: Ich möchte trotzdem die Frage nach dem Beobachter stellen, und hoffe, dass sie nicht als eine Überbetonung missverstanden wird. Die größere Bedeutung, die der Beobachter spielt, scheint zur Folge zu haben, dass insbesondere kognitive Verfahren eine große Rolle spielen und dass dadurch auch der Begriff der Imagination ins Spiel kommt, der bei dir ein sehr wichtiger Be-griff ist. Wenn ich deine Konzeption richtig verstehe, sagst du, dass in der Bildinterpretation, die Imagination und damit wohl auch das kulturelle Bildgedächtnis mit ins Spiel kommen. Ist das deine Konzeption? Könntest du den Begriff der Imagination vielleicht etwas erläutern oder auch das Verhältnis von kognitiven Voraussetzungen, mit denen etwa die mentalen Bilder ins Spiel kommen, und den jeweiligen Bildstrukturen.
Huber: Wenn wir sehen, was in der Beziehung zwischen Bild und Beobachter in einem Milieu passiert, dann wissen wir, dass wir bei den Bildern auf der einen Seite einen materiellen, physikalischen Träger haben, der es vollständig bestimmt, wie jedes andere physikalische Objekt der Welt auch. Dieses materielle Objekt kann man anfassen, man kann draufklopfen, man kann reinbeißen, man kann dran riechen. Es unterscheidet sich in dieser Hinsicht in nichts von irgendeinem anderen Gegenstand der Welt. Aber bei Bildern haben wir noch die Ebene der Darstellung, und dieser Ebene der bildlich en Darstellung können wir uns nur über das Sehen nähern. Wir können das, was ich die bildlich e Darstellung nenne, weder anfassen, noch riechen, noch dran schlecken, noch reinbeißen, wir können sie nur mit dem Sehen begreifen, mit sonst keinem anderen Sinn. Interessant ist für mich, dass die volle Breite unserer Sinnlichkeit hier künstlich eingeengt und auf einen einzigen, ausgewählten und privilegierten Sinn reduziert wird. Allein diese Form von Sinnesreduktion durch bildlich e Darstellungen ist schon interessant genug. Für mich liegt nun die entscheidende Schnittstelle zwischen der Ebene der bildlich en Darstellung und dem Beobachter in der Unbestimmtheit oder den Leerstellen der Darstellung. Dieser Begriff, der von Roman Ingarden stammt und meint, dass in bildlich en Darstellungen im Gegensatz zu realen Objekten nur einige Aspekte bestimmt sind und andere Aspekte unbestimmt bleiben. An diesem Punkt der Unbestimmtheit hakt sich das imaginative Vorstellungsvermögen des Beobachters ein und das ist eben projektiv. Die Imagination, Phantasie oder Vorstellung des Beobachters proijiziert sich in diese Leerstellen der bildlich en Darstellung hinein. Und zwar automatisch. Bei der Wahrnehmung von Bildern spielt also sowohl dasjenige eine Rolle, was sichtbar mit Form und Farbe auf der Ebene der Darstellung dargestellt ist und hinsichtlich seiner Form und seiner Farbe eindeutig bestimmt ist. Das ist eigentlich langweilig, weil es sowieso schon da ist. Jeder kennt es. Interessant ist vielmehr das, was nicht da ist, was in dieser ganzen medienspezifischen Bestimmung von Form und Farbe trotzdem unbestimmt bleibt, was das Medium nicht darstellt, weil es das nicht darstellen kann oder weil es das nicht darstellen will. Und das ist immerhin eine ganze Menge. Hier ist der Punkt, wo der Beobachter einhakt und wir dann seine spezifische Leitung beschreiben können. Ich bin mir selbst noch nicht hundertprozentig sicher, mit welchen Konzepten und Begriffen ich dieses Phänomen bzw. diesen Mechanismus beschreiben will. Aber ich habe das versucht mit dem Begriff der Imagination oder dem bildhaften Vorstellungsvermögen, weil ich der Auffassung bin, dass dieses bildhafte Vorstellungsvermögen ein erstes Synthesevermögen ist, mit dem das kognitive System eines Beobachters aus der Mannigfaltigkeit und Vielfalt der von ihm wahrgenommenen Dinge eine Einheit bildet. Die Frage wäre nun: Ist eine solche Einheit heute überhaupt noch notwendig, um eine stabile und objektive Wirklichkeits- oder Bildwahrnehmung zu erhalten oder ist es theoretisch und empirisch auch denkbar, dass ein Beobachter ohne ein solches Vermögen der Synthetisierung eine stabile Wirklichkeits- oder Bildwahrnehmung haben kann? Das wäre die Erläuterung der vorläufigen Stellung des Begriffes der Imagination in dieser Theorie. Ich würde sagen, zum jetzigen Zeitpunkt ist sie ein Versuchskandidat, der bestimmte philosophische Altlasten mit sich bringt, die ich gerne vermeiden würde. Von daher könnte ich mir auch vorstellen, dass ich dafür etwas anderes erfinde oder suche, was diesen Rattenschwanz an jahrhundertealten Problemen nicht mit sich zieht.
KSH: Du hast gerade in deiner Charakterisierung der Bildwahrnehmung das visuelle Moment betont. Wenn ich ein Bild wahrnehme, dann mache ich dies eben über meine visuelle Wahrnehmung. Das ist klar. Andererseits hast du aber in der bildtheoretischen Diskussion die Isolierung des Visuellen kritisiert. Wie passen beide Aspekte zusammen? Inwiefern spielt etwa der Hörsinn eine Rolle für die Bildwahrnehmung? Was ist genau mit der Kritik an der Isolierung des Visuellen gemeint?
Huber: Wenn man vom Sehen spricht, ist meistens nie die Rede davon, dass wir immer mit zwei Augen sehen. Alleine diese Tatsache schließt es fast vollständig aus, flache Oberflächen, auf die man prallen könnte, mit dreidimensionalen Szenarios, in denen man sich umherbewegen kann, zu verwechseln. Ich war sehr erstaunt darüber, als ich einen alten Text von Hermann von Helmholz aus dem Jahr 1855 gelesen habe, der genau das klar zum Ausdruck bringt. Das Sehen mit zwei Augen macht es praktisch für uns sofort klar, dass wir es mit einer flachen Oberfläche, mit einer ebenen Tafel zu tun haben, im Gegensatz zu einem dreidimensionalen, tiefenräumlichen Szenario. Dann kommt des weiteren hinzu, dass wir uns in unserem Leben mit all unseren Sinnen, mit unserer gesamten Sinnlichkeit, simultan und gleichzeitig in der Welt umher bewegen. Wenn wir etwas sehen, hören wir auch etwas, wir riechen was, wir haben eine propriozeptive Wahrnehmung, wir haben ein Bewusstsein über unsere eigene Lagesituation in dem räumlichen Szenario. Ich würde sagen, dass das alles synchron zusammenspielt. Es gibt eine Synchronisation aller Sinneskanäle. Und wenn man versucht, sie voneinander zu isolieren, kann man die Leistung unserer Orientierung in der Welt nur noch in reduzierter Weise beschreiben. Viele empirische oder theoretische Ansätze beruhen aber auf einer solchen künstlichen Isolierung des Visuellen von den anderen Sinnen, und genau da scheint mir das Problem zu liegen, dass sie dann eben Scheinergebnisse produzieren.
KSH: Ich möchte das als Stichwort nutzen, um zu einem anderen Fragenkomplex überzuleiten, der das zentrale Thema des Interviewbandes bildet. Mir leuchtet einerseits ein, dass man sehr viel mehr Faktoren in die Diskussion einbringen sollte, um ein angemessenes Verständnis von Bildern zu erhalten, andererseits ist mir nicht klar, ob man das, was eine Bildwissenschaft sein könnte, auf diese Weise nicht überlastet. Traditionell sind die Wissenschaften dadurch entstanden, dass sie zunächst von vielen Dingen absehen und sich in systematischer Weise erst einmal um das Naheliegende kümmern. Du forderst ja zudem auch eine Einbeziehung kultureller, sozialer, ökonomischer und politischer Kontexte, wobei du einen sehr weiten Kontextbegriff in die Bilddiskussion hineinnehmen möchtest. Was bedeutet das aber für das Entstehen einer Allgemeinen Bildwissenschaft? Verringert sich so nicht die Möglichkeiten, eine solche überhaupt zu etablieren?
Huber: Nein, ganz im Gegenteil, es ist die Voraussetzung dafür, überhaupt eine etablieren zu können. Wenn wir uns an die Jahre von 1997 bis heute zurück erinnern und das betrachten, was in dieser Zeit im deutschsprachigen Sektor als Bildwissenschaft geschrieben worden ist, dann sehen wir, dass es sehr viele verschiedene, partielle, fragmentarische Ansätze und Theorien gibt. Oliver Scholz hat in seinem Überblicksbeitrag im „Wörterbuch für Ästhetische Grundbegriffe“ ja am Schluss noch einmal die beiden, seiner Meinung nach, wichtigsten Positionen klar gemacht. Zum einen die starke Diskussion um die Zeichentheorie, nach der das Bild eine Form von Zeichen ist, zum anderen das Lager, das auf ästhetische Erfahrungen setzt. Da haben wir wieder das Problem, dass in dem einen Lager, wenn ich das einmal ein bisschen überspitzt formulieren darf, versucht wird, alles auf bestimmte Eigenschaften der Bildfläche zu legen, und in dem anderen Lager versucht wird, alles auf Eigenschaften des Beobachters zu verlagern. Das dritte Lager, das Oliver Scholz nicht erwähnt hat, das vielleicht alles auf die Eigenschaften der Konsumgesellschaft schiebt, das findet man bei den Visual Culture Leuten. Ich würde sagen, so wie sich mir das Feld heute darstellt, müssen diese drei Bedingungen – Bild, Beobachter und Milieu – unbedingt gemeinsam berücksichtigt werden. Wenn man eines dieser drei Teile herauszuschneiden versucht, wird man keine Allgemeine Bildwissenschaft entwickeln können, oder vielleicht eine Bildwissenschaft, die einen hohen Preis zahlt, nämlich den Preis der Belanglosigkeit, von der ich dann sagen würde, dass das, was nicht in diesen Texten drin steht, wahrscheinlich wichtiger ist als das, was formuliert wurde. Es ist immer die Frage: Weglassen um welchen Preis?
KSH: Ich sehe ein grundsätzliches Problem darin, dass noch nicht geklärt ist, was man unter dem Begriff Wissenschaft überhaupt zu verstehen hat, wenn von Bildwissenschaft die Rede ist. Ist es eine Kulturwissenschaft, wie man in letzter Zeit häufig sagt, oder eher eine Naturwissenschaft oder vielleicht auch eine Strukturwissenschaft? Ich denke, dass diese Frage noch gar nicht geklärt ist. Wenn zuviel in den Begriff „Bildwissenschaft“ hineingepackt wird, sehe ich daher die Gefahr, dass er einfach nicht mehr oder nur sehr schwierig zu realisieren sein wird. Abschließend möchte ich noch auf den Begriff der Visuellen Studien eingehen, wie es im Deutschen heißen würde, was heute leider immer nur noch Englisch gesagt wird. In diesem in Amerika bereits institutionalisierten Bereich der Bildwissenschaft versucht man, wie du gerade gesagt hast, eine Aufwertung der Bildmilieus und der Bildkontexte. Damit geht auch eine Berücksichtigung der politischen Zusammenhänge einher. Das finde ich natürlich sehr plausibel und auch sehr richtig finde. Könntest du vielleicht noch einmal kurz deine Konzeption zu diesen politischen Hintergründen der Bilddiskussion und zu dem Unternehmen der Visuellen Studien skizzieren? Es steht hier die Frage im Hintergrund, was Bild und Macht miteinander gemeinsam haben. Das bringt uns dann auf die Frage zurück, was eigentlich eine Bildwissenschaft ist, wenn wir auch diesen Bereich hineinnehmen? Kann es dann noch eine Wissenschaft in experimentellen Sinne sein, in der die Bedingungen des Bildeinsatzes und der Bildwirkungen methodisch kontrolliert untersucht werden?
Huber: Es hat sich in den letzten Jahren vor allem im angelsächsischen Bereich eine Richtung heraus kristallisiert, die sich Visual Studies oder Visual Culture nennt. Es gibt bis heute nur sehr wenige Querbeziehungen oder Vernetzungen mit dem, was wir als Bildwissenschaft kennen, was ich sehr bedauere. Ich würde sagen, es ist unbedingt notwendig, dass die Leute, die im Bereich Visual Culture arbeiten, sich mit den Leuten auseinandersetzen, die im Bereich Bildwissenschaft arbeiten. Mein Argument für die Einbeziehung von Visual Studies und Visual Culture in die Bildwissenschaft ist die Einsicht, dass das, was ich räumliche Umgebung,, soziales Milieu oder zeitliche Situation, nenne, für die Fragen der Bedeutung und des Verstehens von bildlich en Darstellungen die wirklich entscheidende Rolle spielt. Denn wir haben ja an früherer Stelle auch darüber gesprochen, dass die individuelle Erfahrung eines ganz bestimmten Beobachters vor einem bestimmten Bild immer auch vor dem Hintergrund dieser disziplinierenden und kontrollierenden Instrumente und Dispositive der Kultur, der Ökonomie, der Bildung und der Politik gesehen werden muss. Wenn man das ausblendet, besteht eben die Gefahr, dass man den entscheidenden Mechanismus, der letzten Endes zum Verstehen von Bildern in unserer Gesellschaft beiträgt, nicht richtig beschreiben kann.
KSH: Ein letzter Punkt, auf den ich hinweisen möchte. Du betonst einen starken Zusammenhang zwischen Bild einerseits und Bildung andererseits. Wie würdest du diesen Aspekt der Bildung in die Bildwissenschaft integrieren?
Huber: Dieser Aspekt ist mir sehr wichtig, weil ich in meiner langjährigen Arbeit sowohl als Künstler wie als Kunstpädagoge und als Kunsthistoriker in allen Bildungsbereichen wie Vorschulerziehung, Schule, außerschulische Erwachsenenbildung oder auch der Hochschulausbildung immer wieder feststellen musste, dass die meisten Menschen visuelle Analphabeten sind in dem Sinne, dass sie nicht in der Lage sind, Bilder ausreichend zu lesen und zu verstehen, und das in einem exorbitanten Ausmaße, das sehr stark unterschätzt wird. Die meisten Menschen sind in großem Maße visuelle Analphabeten. Das muss man leider so hart formulieren. Ich glaube, dass dieser Zustand sehr großen Einfluss auf unsere Gesellschaft hat. Ich bin der festen Ansicht, dass es nach PISA nicht nur darum gehen kann, einseitig wie im Kalten Krieg Sprachkompetenz und mathematisch-naturwissenschaftliche Kompetenzen zu fördern, sondern dass es genauso darum gehen muss, unsere visuellen Kompetenzen im Sinne von Bildverständnis und Bildlesekompetenz zu fördern wie sprachliche Kompetenz. Denn es sind sprachliche Kompetenzen, nur eben in einer anderen, visuellen Sprache der Bilder. Wir leisten uns eine schriftsprachliche, logozentrische Reduktion dieser Zusammenhänge. Das muss bildungspolitisch ganz klar auf den Nenner gebracht und öffentlich formuliert werden. Es wäre meines Erachtens für eine Bildwissenschaft sehr wichtig,, hier eine gesellschaftspolitische und bildungspolitische Argumentation zu entwickeln, indem sie sich von einer akademischen Wissenschaft zu einer angewandten Wissenschaft öffnet, die sich mit den Fragen der Schulbildung und der Lehrerbildung befasst, also aus ihrem akademischen Elfenbeinturm heraustritt und sich mit Konzepten der visuellen Bildung in der Schule und außerhalb der Schule befasst.
KSH: Ich möchte diese Anregung als Schlusswort nehmen. Vielen Dank.


Hans Dieter Huber