Ein lebender Organismus kann nur irritiert werden. Hans Dieter Huber im Gespräch mit der Gruppe Kunstlauf


First Installation: 12.04.04 Last Update: 12.04.04


erschienen in: im März 2004 elektronisch publiziert unter http://www.face-off.org/Text/text4-1.html


Kann man den Körper als ein Kommunikationssystem beschreiben, als operational geschlossenes System, in dem es weder einen Input noch einen Output gibt?


Der Begriff des Körpers ist mir zu reduziert. Ich würde es vorziehen, von einem lebenden Organismus zu sprechen, das ist für mich mehr als ein Körper, weil da eben das Phänomen des Lebens dabei ist. Beim Körper reduziere ich meine Wahrnehmung und mein Denken auf eine physisch-biologische Substanz. Wenn ich mir einen Körper vorstelle, dann kann das auch eine Leiche sein. Aber das deckt sich natürlich mit den neueren Forschungen, die von Humberto Maturana, Francisco Varela und auch von Niklas Luhmann entwickelt worden sind, dass gegenüber der immensen inneren Eigenaktivität eines Organismus der sensorische In- und Output verschwindend gering ist. Von daher muss man das ganze Verhältnis eines Organismus zu seiner Umwelt neu überdenken. Wenn es tatsächlich so ist, dass der sensorische Input marginal ist, dass er schlecht, fehlerhaft, fragmentarisch und lückenhaft ist, dann stellt sich die Frage, was macht ein lebender Organismus aus diesen mangelhaften, fragmentarischen, lückenhaften Inputs und wie kommt es dann dazu, dass er die Welt als einheitlich, als voll, als kontinuierlich und als reichhaltig empfindet. Und wenn man diese Frage weiterdenkt, muss man irgendwann auch mal an den Punkt kommen, an dem man sagt, dass das, was der lebende Organismus in sich und für sich selbst tut, eine ungeheuer reichhaltige Aktivität ist, die für uns von außen nur sehr schwer zu beschreiben ist.


Macht es Sinn, den Körper als Medium vom Körper als Medienträger zu unterscheiden? Das würde dann bedeuten, ihn einmal als Bild, das andere mal als Leinwand, die strukturell verborgen ist, zu thematisieren.


Man könnte durchaus den Körper als eine Art Medienträger bezeichnen. Das würde auch Sinn ergeben. Den Körper selbst als ein Medium zu begreifen? Das kann man auch, aber dann arbeitet man wieder mit diesem reduzierten Begriff. Wenn, dann würde ich eher davon sprechen, dass der lebende Organismus oder die Person, die lebt, in einem sozialen Milieu oder in einer Umwelt durchaus ein Medium sein kann. Der physisch-biologische Körper ist dann vielleicht die materielle Trägersubstanz oder die Trägerstruktur. Und wenn wir das so denken, haben wir immer wieder diese Möglichkeit, dass der Körper die Bedingung der Möglichkeit für Handlung, für Wahrnehmung, für soziale Aktion usw. ist.


Kann man ihn mit der Leinwand vergleichen, kann man also sagen, der Körper trägt die Zeichenoberfläche Mensch, bleibt aber in dem Moment, wo die Zeichenoberfläche Mensch als Bild funktioniert, strukturell verborgen?


Wenn ich meine Unterscheidung auf die Oberfläche des Menschen richte, dann kann ich seine innere Struktur nicht beobachten. Aber wenn ich seine innere Struktur beobachten will, dann kann ich nicht gleichzeitig meine Aufmerksamkeit seiner Oberfläche zuwenden. Das sind einfach zwei Seiten ein und derselben Unterscheidung. Ich spreche in dem Zusammenhang auch lieber von Verkörperung als von Körper, also Verkörperung im Sinne von embodiment, wie das auch Walter Freeman und Francisco Varela zu thematisieren versucht haben. Dann hast du nämlich diese wichtige Differenz zwischen der Organisation und der Struktur eines Systems. Die Organisation ist sozusagen eine abstrakte Beschreibung seiner Identität innerhalb einer bestimmten Klasse. Wir können zum Beispiel sagen, der Mensch besteht aus einem Skelett, hat ein Herz, zwei Lungenflügel, zwei Augen, zwei Ohren, zwei Nasenlöcher, einen Blutkreislauf, ein Nervensystem, usw. Das ist der Beginn einer Beschreibung seiner Organisation. Aber wenn ich die Struktur beschreibe, dann beschreibe ich eine ganz konkrete Verkörperung, das heißt, einen ganz konkreten, historisch lebenden, Menschen. Und ich finde die Frage der Verkörperung auch bei den digitalen Medien wieder sehr wichtig. Man hat in der Vergangenheit immer wieder von der Immaterialität der digitalen Medien und von virtuellen Welten gesprochen. Das sehe ich aber genau umgekehrt, eine elektronische Organisation von Daten muss sich auch konkret verkörpern. Auch da macht diese Unterscheidung zwischen der Organisation und der Struktur eines Systems Sinn. Aber wenn wir noch mal zurückkommen zu der Frage nach der Alternative Körper oder lebender Organismus, dann kann man sagen, dass bei einem lebenden Menschen diese Unterscheidung zwischen Organisation, Struktur und Oberfläche Sinn macht. Und je nachdem, worauf man sein Augenmerk legt, kann man verschiedene Operationen, das klingt jetzt so medizinisch, oder verschiedene Beobachtungen durchführen.


Gibt es denn diesen Gang hinter die Oberfläche, in die Tiefe, in das Körperinnere wirklich oder wechsle ich nicht nur einfach den Ausschnitt auf der Oberfläche? Ob ich jetzt ein Skelett, die Haut oder den ganzen Körper betrachte, am Ende bleibt immer ein Wahrnehmungsbild und ich verbleibe damit doch auf der Oberfläche der Wahrnehmung.


Na ja, sicher bleibe ich immer ein Beobachter, egal was ich beobachte, aber ich arbeite mit anderen Unterscheidungen. Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf andere Details meiner Beobachtung und dadurch erhalte ich auch andere Beobachtungsresultate. Ob man jetzt sagt, das eine ist möglich und das andere ist nicht möglich, das ist ja nun eine ganz andere Frage. Das wäre eine Frage, die man im Zusammenhang dessen diskutieren müsste, was eigentlich beim Beobachten möglich ist und was nicht. Dann könnte man auch wieder fragen, ist die innere Struktur eines Körpers der Beobachtung zugänglich oder ist sie es nicht. Ich würde intuitiv sagen, klar ist sie es. Ich meine, auf der anderen Seite, wenn Sie sich das Funktionieren des Gehirns erklären wollen, dann merken Sie ganz genau, dass Sie mit einer Analyse der inneren Struktur alleine nicht weiter kommen. Das Interessante ist, dass es da auch Grenzen gibt. Man kann es vielleicht mit dem Fernseher vergleichen. Ich kann auch die Rückwand aufmachen und da hinten reinschauen und dann summt, blitzt und knackt es und wenn ich eine Röhre rausnehme, ist plötzlich der Ton weg. Daraus kann ich aber noch lange nicht den Schluss ziehen, dass in der Röhre das Tonvermögen lokalisiert ist. Ich kann begrenzte Einsichten durch Beobachtung und vor allem durch methodische Variation der Beobachtung gewinnen, aber es gibt natürlich auch Punkte, wo Schluss ist mit Beobachten.


Wie stabilisiert sich der Körper? Dass dies von innen geschieht, lässt sich ja kaum noch vorstellen, die Subjektivität oder das Subjekt sind ja eigentlich verbraucht. Könnte man sagen, durch den Kontext, von außen?


Der Kontext ist so ein Modell gewesen, sich das zu erklären. Der Begriff stammt aus der Literaturwissenschaft und war stark diskursiv gefärbt. Heute muss man, glaube ich, weiter denken. Wir müssen einfach verstehen, wie lebende Organismen eigentlich leben und das heißt, dass sie immer in einer Umwelt oder einem Milieu leben. Dieses Milieu wirkt auf der einen Seite auf den lebenden Organismus ein und andererseits wirkt der lebende Organismus aber auch auf das Milieu und seine Umwelt ein. Es ist also eine reziproke, wechselseitige Beziehung, in der sich beide ständig neu produzieren, reproduzieren und kalibrieren. Das heißt, im Endeffekt kann zwar eine Umwelt ohne einen lebenden Organismus existieren, aber ein lebender Organismus kann nicht ohne Umwelt existieren. Der braucht diese Einbettung als support. Wir brauchen z.B. ganz bestimmte Werte, was den Sauerstoff angeht, was die Temperaturen angeht, was die Nahrungszufuhr angeht, sonst sterben wir einfach. Das muss erfüllt sein und nur innerhalb dieser äußerst engen Grenzen können wir überhaupt existieren. Der Körper stabilisiert sich in diesem ständigen Austausch mit seiner Umwelt, indem er sozusagen aus seinem Milieu und seiner Umwelt etwas aufnimmt und auch wieder an sie abgibt, und dass das in einer permanenten Strukturkopplung geschieht, solange er lebt. Und wenn der Organismus stirbt, ist eben diese strukturelle Readaptation aufgehoben. Ich bin eigentlich seit langem der Auffassung, dass man drei Dinge benötigt: die eine Sache ist das Objekt, sei es nun ein Bild oder ein Körper, das Zweite ist der Beobachter und das Dritte ist das Milieu. Man kann aus dieser Trilogie nichts rauslassen. Um Bilder oder Körper zu beobachten, braucht man einen Beobachter. Man kann nicht beobachten ohne Beobachter, auch wenn man so tun kann, als könnte man das. Man braucht zwei Augen und man braucht einen lebendigen Organismus, der sich in der Welt durch exploratives Handeln umherbewegen kann. Das reicht aber auch nicht aus, denn jede Form von Beobachtung, von Kunst, von Bildern, von Filmen, von Körpern, was Sie wollen, findet immer in einer ganz bestimmten Umgebung statt, in einem bestimmten sozialen Milieu, das durch ganz bestimmte Parameter definiert ist: ein Museum, eine Privatwohnung, eine Kirche und so weiter und so fort. Man kann es natürlich auch auf die Spitze treiben und das Verhältnis zwischen einem lebenden Organismus, einem Wahrnehmungsgegenstand und seiner Umwelt immer weiter auf basale Elemente reduzieren, das hat man auch gemacht. Das Problem, das dabei eben entsteht, ist, dass man dann komplette Artefakte erzeugt, die mit der Realität nicht mehr das Geringste zu tun haben. Und ich meine, ein großer Teil empirischer Wahrnehmungsforschung in der Psychologie ist die Produktion solcher isolierter Artefakte.


Für den Beobachter unmittelbar zugänglich ist allerdings nur die Performanz. Brauchen wir nicht immer Modelle, um über die aktuelle Handlung hinaus etwas über den Körper aussagen zu können?


Wir können an dem, was wir an Performanz beobachten, natürlich Rückschlüsse auf innere Strukturen ziehen, das tun wir ja auch ständig. Aber ob das zuverlässig ist, das können wir nur überprüfen, indem derjenige, der etwas performt, darüber in irgendeinem öffentlich beobachtbaren Medium Auskunft gibt. Es hängt auch davon ab, wie gut wir Ausdrucksformen in bestimmten Medien lesen und verstehen können. Wenn man sich jetzt vorstellt, irgend jemand tut etwas, z.B. irgend jemand gießt jetzt da ein Glas Wasser auf den Boden. Dann können wir sagen, „Okay, der hat jetzt ein Glas mit Wasser auf den Boden gegossen“. Aber wenn wir weiterfragen wollen, warum hat er das getan, dann können wir Erklärungen für sein Verhalten in Rechnung stellen, die eine bestimmte Wahrscheinichekit oder Plausibilität besitzen. Wir können sagen, „Na ja, bei allem was wir jetzt gesehen haben, war er sauer und er hats´ halt umgeschüttet, weil er sich geärgert hat“. Aber es könnte auch ganz anders gewesen sein: Man könnte sagen „Das ist ein Performance-Künstler und der macht jetzt hier eine Provokations-Performance“, alles deutet darauf hin. Ich würde sagen, bei diesen Erklärungen haben wir immer bestimmte Wahrscheinlichkeiten. Aber, wie wir auch wissen, sind diese Wahrscheinlichkeiten auch genau der Punkt, an dem wir uns täuschen können. Eine Erklärung erzeugt eigentlich erst das Phänomen, das sie erklären will. Ohne Erklärung gibt es dieses Phänomen gar nicht, das heißt, wenn ich den Körper erklären will, dann erzeuge ich den Körper erst damit. Das ist eigentlich zirkulär. Erklärungen sind also keine Problemlöser, sondern Problemgeneratoren. Sie erzeugen erst das Problem, das sie eigentlich – gut gemeint – lösen wollten.


Wie wichtig ist in der zeitgenössischen Kunst der Künstler als Produzent? Man spricht ja jetzt häufiger von der Diktatur des Betrachters. Die Avantgarde wollte doch immer die Diktatur über den Betrachter, man wollte z.B. tatsächlich die Wahrnehmung der Menschen verändern, steuern und lenken. Denken Sie an die Surrealisten oder auch an Malewitsch, der die Wirkung von Malerei mit bakterieller Infektion vergleicht, ich schaue ein Bild an und am Ende bin ich verwandelt, ohne es zu wissen. Die klassische Avantgarde bevorzugte die Idee einer Diktatur der Produzenten über die Konsumenten.


Wir wollen alle gerne die Umwelt kontrollieren. Und wenn ich mir vorstelle, dass ich Künstler bin, dann will ich natürlich auch alle meine Betrachter komplett kontrollieren. Das geht aber nur leider nicht, ich kann den Betrachter nicht kontrollieren, sondern nur anregen, inspirieren oder irritieren. Es gab zwar immer Theorien, die versucht haben, eine solche Kontrolle auch theoretisch herzuleiten. Aber wenn man neuere gehirnphysiologische oder neurobiologische Untersuchungen ernst nimmt, dann stellt man fest, dass ein lebender Organismus nur irritiert werden kann. Was er dann intern mit dieser Irritation macht, ist ganz allein seine Entscheidung, nicht die des irritierenden Mediums. Und wenn der Künstler jetzt meint, er könnte irgendwelche Beobachter gezielt kontrollieren, indem er sie gezielt irritiert, dann glaube ich, dass hier ein Missverständnis in der Kommunikation existiert. Auch ein Künstler kann über sein Werk nur irritierend auf andere einwirken. Was diese anderen mit dieser Irritation anfangen, ist von dem gesamten kognitiven, emotionalen, biologischen, milieuhaften Gesamtzustand dieser irritierten Personen abhängig und das können wir nicht vorhersagen. Übrigens enthält die ganze Situation auch ein erhebliches Risiko, denn wir wissen nicht genau, was wir in einem anderen Menschen auslösen, wenn wir etwas tun. Aber, ganz so schlimm ist es auch wieder nicht, denn meistens kennen wir uns ja ganz gut aus, das heißt, wir bewegen uns in verschiedenen sozialen Milieus und Netzwerken, in denen wir eigentlich ganz genau wissen, was wir tun müssen, um bestimmte Reaktionen hervorzurufen. Am besten funktioniert das, wenn man jemanden besonders gut kennt. Da weiß man ganz genau, auf welchen Knopf man drücken muss oder welchen Ton man anschlagen muss, damit der platzt und hochgeht. (lacht) Das ist eine Geschichte von Vertrautheit, Lenkung und konsensueller Irritation. Gezielte Irritation funktioniert nur in Milieus der Vertrautheit, in denen man wirklich genau weiß, was man tun muss, um etwas Bestimmtes in einem anderen auszulösen. Je unvertrauter oder je unkalkulierbarer Milieus sind, desto schwieriger wird es, gezielt zu irritieren.


Was unterscheidet die Wahrnehmung einer Kuh auf einer Wiese, von der Wahrnehmung einer gemalten Kuh auf einer Wiese, bzw. der Wahrnehmung einer Fotografie oder einer gefilmten Kuh auf der Wiese?


Das ist eine wichtige Frage, bei der immer viel Falsches ins Spiel gebracht wurde. Also, das Interessante ist eigentlich, dass es eine Täuschung darüber niemals geben kann und dass alle Bildtheorien, die auf das Täuschungsargument abfahren, Mythen sind. Siehe Mark Tanseys „The Innocent Eye Test“. Denn in einer normalen Alltagssituation gilt für einen Beobachter folgendes: er hat zwei Augen, er hat einen Kopf mit zwei Ohren und zwei Nasenflügeln, er kann den Kopf mit Hilfe von Atlas und Dreher auf sehr komplexe Weise bewegen, er kann den Oberkörper hin und her bewegen, er kann sich mit seinen Füßen vor, zurück und seitwärts bewegen. Er braucht also zum Wahrnehmen auch sein Knie im Sinne von Joseph Beuys „Ich denke sowieso mit dem Knie“. Er wird also bei jeder kleinsten explorativen Tätigkeit sofort feststellen können, dass es eine echte Kuh ist, eine dreidimensionale, die sich selbst in der Welt umherbewegt oder auch, dass es eine zweidimensionale Kuh ist, die sich nicht bewegt oder, dass es eine dreidimensionale, sagen wir mal Ron-Mueck–Kuh ist, die sich nicht bewegt, aber wie echt aussieht. Das merkt der Beobachter in einer Zehntelsekunde. Und das ist auch die ökologische Effizienz unserer Wahrnehmung. Alle, die mit dem Täuschungsargument argumentieren, übersehen meistens, dass wir zwei Augen haben. Die denken immer, Sehen funktioniert mit einem Auge, wo eine Querdisparation nicht mehr stattfindet. Das heißt, der Unterschied zwischen der Wahrnehmung des Bildes einer Kuh auf einer Wiese und der Wahrnehmung einer realen Kuh auf der Wiese ist einfach derjenige, dass diese Differenz zwischen dem Bild und der realen Situation sofort vom Beobachter bemerkt wird und zwar als eine Form von Widerstand gegen eine normale 3D-Wahrnehmung. Das hat Edmund Husserl sehr gut herausgearbeitet. Und dann wird es gerade eben interessant, wie ein Beobachter diese bemerkte Differenz zu weiteren Wahrnehmungsprozessen und Schlussfolgerungen verwendet. Das Bemerken dieser Differenz und die darus resultierenden Folgen für ein verändertes Wahrenhmungsverhalten thematisieren die meisten semiotischen Bildtheorien überhaupt nicht. Denn wenn er diese Differenz nicht bemerkt, dann verwechselt er das Bild einer Kuh mit einer echten Kuh und das ist ja nun wirklich peinlich, bzw. uncool! (lacht) Das passiert aber so gut wie nur Semiotikern, da gibt es nur ganz wenige Spezialfälle, wo man das nicht gleich bemerkt. Wenn z.B. der Kopf eingezwängt wird, keine Bewegungsmöglichkeit da ist, das ganze Umfeld durch eine Scheuklappe ausgeblendet ist, dann kann man vielleicht als Versuchsperson ganz kurz sagen, ich weiß nicht, ob das echt oder dargestellt ist.


Das ist natürlich auch die Utopie der virtuellen Realitäten.


Ja genau. Nehmen Sie einen Cave mit sechs Projektoren. Selbst die Cave - Euphoristen vergessen immer wieder, dass ich - selbst wenn ich diese 3D-Brille auf und den Bewegungsstick in der Hand habe - immer eine Rückmeldung habe, die intern in mir selbst abläuft, eine Rückmeldung über die Propriozeption. Jede Wahrnehmung eines Außenzustande wird immer von der Wahrnehmung eines Innenzustandes begleitet. Es gibt keine Wahrnehmung der Welt ohne eine Wahrnehmung von sich selbst. Wenn man diese strukturelle Kopplung unterbricht, sind wir tot. Und man könnte nur dann die Leute in einer Virtual Reality-Situation täuschen, wenn es gelänge, die Propriozeption des Beobachters komplett auszuschalten oder medikamentös oder operativ zu täuschen. Aber die Propriozeption läuft in jeder Wahrnehmung immer mit und deswegen kann es selbst in einem Cave nie die Illusion geben, dass man das für wirklich hält. Virtuelle Realität ist eine Traumstadt. Man muss, glaube ich, das Motiv verstehen, diese Sehnsucht nach einer künstlichen Welt zu entwickeln, die wir mit der echten verwechseln sollen. Am Ende stehen immer die Angst vor dem Tod und der Wunsch nach Unsterblichkeit und ewiger Jugend hinter solchen Sehnsüchten. Alfred Kubin hat bereits 1909 in Die andere Seite längst eine Antwort auf den Cave gegeben. Also, es geht mehr um die Motive, die Wünsche und die Phantasien, die dahinter stehen und nicht um die Frage, ob das ein technisches oder ein wahrnehmungstheoretisches Problem ist.


Edmund Husserl hat seinen Studenten immer wieder von einem Erlebnis erzählt, das er selbst als Student im Berliner Panoptikum hatte. Neben ihm stand nämlich ein Mädchen, das wie er mit einem Katalog in der Hand die Schaustücke betrachtete. Das Mädchen kam ihm verdächtig vor und was er in seiner ursprünglichen Wahrnehmung für eine Besucherin hielt, erwies sich als Teil des Panoptikums selbst, als eine mechanisch bewegte Puppe aus Holz und Wachs. Der Besuch im Panoptikum ist sozusagen das Initiationserlebnis für Husserl, das dann zur Entwicklung der Phänomenologie geführt hat. Lässt sich auf die Wahrnehmung bezogen heute ein Mensch immer noch so klar von der Puppe oder von einem Androiden unterscheiden wie am Anfang des 20. Jahrhunderts?


Ja, aber es gibt doch gar keine Androiden. (lacht) Oder würden Sie Ihren Vater mit einem künstlichen Hüftgelenk schon als Androiden bezeichnen? Also, ich meine, wir müssten darüber reden, ab wie viel künstlicher Prothetik in einem lebenden Organismus es einen Androiden gibt, ja...


Es existiert ein Verdacht, der natürlich durch die Medien, z.B. durch Hollywood, aber auch die Literatur der Romantik eröffnet wurde. Und dieser Raum des Verdachts, dass der andere, der mir gegenübersitzt, kein Mensch, sondern eine mechanische Puppe sein könnte, besteht natürlich nach wie vor.


Genau. Aber es ist ein anderes Motiv. Also, erstens glaube ich Husserl diese Anekdote sowieso nicht, das ist alles nur eine Legende. Wenn er das wirklich erlebt hat, wie er das in seiner Anekdote schildert, was ich ihm nicht abnehme, dann ist er ein Blinder gewesen, dann konnte er nicht sehen. Aber das glaube ich bei Edmund Husserl nicht, dass er ein Blinder war. Denn er ist ein unglaublich genauer Beobachter. Viele Philosophen sind ja Blinde, aber Husserl auf keinen Fall. Also, ich glaube eher, dass er diese Geschichte absichtlich so erzählt hat, um seinen Studente irgendwas zu vermitteln, was er ihnen auf diese Weise mit Hilfe eines Beispiels deutlich machen wollte. Ich glaube dem kein Wort von dieser Puppengeschichte. Die Anekdote erfüllt einen didaktischen Zweck. Sie führt das Misstrauen und den Widerstand gegen das Sichtbare in die Debatte um das Bild ein. Und noch mal zu dem Unterschied zwischen Androiden und Menschen zurückzukommen: wenn wir uns im Alltag draußen bewegen, würden wir jeden Androiden an seiner Differenz zum Normalmenschen und an seinem Widerstand gegen „das Normale“ sofort erkennen, das ist überhaupt kein Problem.


Aber ein Großteil der kommerziell erfolgreichen Produkte der Massenkultur handelt von nichts anderem wie dieser Frage oder Angst.


Man müsste wieder zurückfragen, was das gesellschaftliche Motiv oder Problem hinter dieser Angst ist. Es ist wahrscheinlich der Punkt, dass wir unsere eigene „menschliche“ Identität vielleicht nicht mehr zufriedenstellend erzeugen können, wenn wir ständig mit Maschinen kommunizieren. Wir sind in der Erlebnisgesellschaft ständig einer Temporalisierung unserer Identität unterworfen. Ich meine, ich finde diese Idee eigentlich gar nicht so schlecht, wenn ich mir jetzt vorstelle, Sie wären jetzt ein Android und ich würde einem Androiden ein Interview geben. Ich würde sagen, ja gut, da ist jetzt irgendwie so eine Haut drüber, aber darunter ist alles irgendwie Metall, da hätte ich keine Probleme mit. Aber ich würde es sofort erkennen, wenn Sie einer wären. Also, von daher, no problem, (lacht) no fear.


Generell sind in die Medien ja ziemlich euphorisch Erwartungen gesetzt worden. Das gilt natürlich auch in Bezug auf den Körper. Nehmen Sie McLuhan, der sagt, Medien sind Ausweitungen des Körpers, sozusagen Ersatzorgane, die es uns erlauben, uns in einer immer komplexeren Umwelt zurechtzufinden. Medien sind im Sinne von Peter Weibel eine Möglichkeit, das Körpergefängnis zu verlassen. Die amerikanische Netzgemeinde spricht ja sogar von der Möglichkeit einer Transsubstantiation des Körpers. Diese Hoffnungen galten ganz besonders dem Internet.


Na ja, dieses Denkmuster ist immer wieder typisch. Sobald ein neues Medium entsteht, kann man dem offensichtlich nicht neutral gegenüber stehen, es wird emotional stark besetzt. Also, mir hilft in dieser starken Oszillation zwischen euphorisch und pessimistisch immer der Blick in die Geschichte. Ich würde sehr dafür plädieren, in dieser emotional aufgeheizten Debatte über neue Medien, die Emotion herauszunehmen und die Sache historisch zu sehen.


Wird in der Netzkunst diese Abkehr von der medialen Utopie reflektiert?


Soweit ich das überblicken kann, glaube ich nicht. Da wird bisher eigentlich relativ wenig reflektiert. Es gibt eine Reihe von Interviews mit Netzkünstlern, die vor allem Tilman Baumgärtel und Josephine Bosma geführt haben, das sind sozusagen wichtige erste Primärquellen im historischen Kontext, die einen Bestand sichern, der sehr zeitnah ist. Aber es gab natürlich auch so was wie so eine medientheoretische Reflexion über Netz- Kunst. Da ist die Kunst im Netz mit allen anderen möglichen Medien verglichen worden, mit denen man sie vergleichen kann, wirklich mit jedem. Man will das Neue verstehen und man vergleicht es mit etwas Altem - mit Video, abstrakter Malerei, Performance, mit Telekommunikation, mit Fax, Mail-Art usw. Irgendwann merkt man dann, dass man so nicht weiter kommt. Dann ist erst mal wieder Feierabend, dann weiß man nicht weiter. Wir sind jetzt an einer Schwelle zur Historisierung der Net-Art angelangt. Jetzt ist das Ganze abgeklungen, es ist nicht mehr so heiß, die Sachen liegen teilweise noch vor, teilweise sind sie auch schon verschwunden. Es wäre jetzt eigentlich eine gute Phase, das Ganze historisch aufzuarbeiten: Welches sind wichtige Arbeiten? Welche müssen wir für die Nachwelt erhalten? Welche sind eher unwichtige, nebensächliche Werke gewesen? Wie vermitteln wir diese neue Form der Kunst unseren Mitbürgern? Diese Fragen sind teilweise überhaupt noch nicht richtig thematisiert worden.


Alle anderen Arten von Medienkunst, die Sie beschrieben haben, sind doch letztendlich durch Archive legitimisiert. Nämlich dadurch, dass sie im Raum der Kunst, im Kunstsystem - wie auch immer man das sehen möchte - im Museum oder im Kunstverein, von mir aus auch als eine Reihe von Kunstkatalogen archiviert und somit an das Kunstsystem angeschlossen sind. Das scheint mir das Problem an der Netzkunst, dass genau das nicht der Fall ist, es sei denn ich stelle jetzt den Computer mit diesem Netzkunstwerk in eine Ausstellungshalle, was natürlich nicht die Absicht der Netzkunst gewesen ist.


Es gibt ja mittlerweile eine ganze Reihe von Publikationen über diese Kunstform. Über diese Form der Sakralisierung sind die Werke natürlich schon im kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft archiviert worden. Auf der anderen Seite steckt das, was die museale Archivierung angeht, noch relativ stark in den Kinderschuhen. Es gibt ein paar sammelnde Institutionen, wie das Walker Art Center in Minneapolis oder das Guggenheim Museum in New York. Aber ich habe mir immer gewünscht, dass auch in Deutschland sich eine Institution dieser Sache systematisch annimmt und mit fachlicher Kompetenz sammeln würde. Aber das fehlt uns eben, na gut vielleicht müssen wir eben noch warten, vielleicht findet das ja doch noch irgendwann statt. Aber interessant ist hier auch das Verhalten der Künstler, die auf der einen Seite mit dem Kunstsystem in traditionellem Sinne gar nichts zu tun haben wollen und sich sozusagen als subkulturelle Antikünstler inszenieren, auf der anderen Seite mit einem Auge dann doch aber auf die Anerkennung und die Weihen durch das Kunstsystem schielen. Also, z.B. Jodi ist so ein typischer Fall, die immer eine unglaubliche Antihaltung inszenieren, sich aber dann trotzdem um den Internationalen Medienkunstpreis des ZKM bewerben, den dann auch bekommen und bei der Preisverleihung vor laufenden Kameras dann wieder die Attitüde des gelangweilten Anti-Künstlers aufführen, der das Establishment hasst, und so tut, als wollte man den Preis ja eigentlich gar nicht haben, als wäre er einem richtig aufgenötigt worden.


Das ist ja eine typisch avantgardistische Figur. Man behauptet, das Kunstsystem zu sprengen, zu verlassen und die Kunst zu zerstören und eben mit dieser Geste der Zerstörung oder wie Sie sagen, der subkulturellen Geste, will man nichts anderes erreichen als den Eingang ins Kunstsystem. Sozusagen eine Strategie der geplanten Rückkehr.


Ja, aber das ist doch eigentlich ziemlich langweilig. Das kennen wir ja nun schon seit 1910. (lacht) Aber das eigentlich Interessante ist dann zum Beispiel wieder, dass diese Künstler die Ideologie der subkulturellen Verweigerungsattitüde offenbar gar nicht bewusst reflektiert haben. Sich also sozusagen in ihrem sozialen Habitus eigentlich auf dem Stand eines Totalverweigerers aus dem wilhelminischen Kaiserreich befinden. Und das ist für mich, soziologisch und historisch gesehen, ein viel interessanteres Problem des Kunstsystems, dass der soziale Habitus von Künstlern eigentlich in vielen Bereichen komplett antiquiert anmutet.
Zur Utopie der Virtuellen Realität gehört natürlich auch der Wunsch, seinen Körper zu verlassen. Man hofft auf ein Überleben, also darauf, dem Verfall oder der Verwesung des Körpers zu entgehen.
Ja genau. Das ist meine Vermutung. Wenn bestimmte Begriffe oder bestimmte Ideen eine Art Trend oder Mode erleben, dann deutet das auf ein gesellschaftliches Problem hin. Wenn etwas selbstverständlich ist in unserer Gesellschaft, dann brauchen wir darüber nicht reden, dann müssen wir keine Bücher und keine Aufsätze schreiben und auch keine Bilder produzieren. Aber in dem Moment, wo etwas nicht mehr selbstverständlich ist, muss darüber geredet werden, müssen Theorien, Utopien und Diskurse entwickelt werden. Das heißt also, dass Begriffe, die plötzlich wieder eine bestimmte Bedeutung haben, sozusagen , in einer bestimmten Zeit zu heißen Begriffen werden, dass sie hintenherum, über die Hintertür, auf ein Problem deuten. Nehmen wir es einfach mal als gegeben, dass die Diskussion um den Körper zur Zeit eine wichtige Diskussion darstellt, dann steht für mich dahinter eigentlich ein gesellschaftliches Problem im Verständnis des Körpers. Der Körper ist dann in unserer Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich. Denn wenn er es wäre, würde keiner auch nur irgendein müdes Lächeln darüber verlieren. Wirklich interessant wäre es, nachzufragen, was eigentlich das Problem ist, das die Gesellschaft mit dem Körper hat.


Dann müsste man sich allerdings die Frage stellen: „Wann beginne ich zu philosophieren?“ Laut Wittgenstein beginne ich genau dann zu philosophieren, wenn ich eine Störung bemerke, wenn das System nicht mehr funktioniert.Ist die Störung nicht eigentlich immer schon aufgetreten? Es ist doch ebenso eine utopische Vorstellung, wenn man annimmt, dass es Zeiten gab, in denen wir ein vertrautes Verhältnis zum Körper hatten.


Ja, das ist dieses Arkadien-Motiv. Der Mensch, der in seiner Lebenswelt nie über irgendwelche Probleme oder Störungen nachdenkt, das ist der vollkommen glückliche Mensch, der sozusagen eins zu eins in einer arkadischen Beziehung mit seiner Umwelt lebt. Ich meine, wir wissen natürlich nicht, ob es das jemals gab, wahrscheinlich nicht. Denn selbst, wenn wir in die Zeit der Höhlenbewohner zurückgehen, 35.000 vor Christus, dann stellen wir auch dort fest, dass die erhebliche Probleme hatten und gar nichts selbstverständlich war und dass genau dies, dass nämlich gar nichts selbstverständlich ist, wahrscheinlich einfach zum Leben dazugehört. Es gibt sozusagen nur wenige Momente einer reibungslosen Kopplung mit der Welt, die wir als Glück bezeichnen. Dann gibt es aber auch eine ganze Reihe von Momenten, in denen sich das Leben mit der Welt in einem ziemlichen Konflikt befindet. Und das wird dann gefährlich, nicht?


Wie ernst gemeint waren die Forderungen der Avantgarde nach einem neuen Menschen? Also, jetzt natürlich nicht nur in Bezug auf den menschlichen Körper, auf den individuellen Körper, sondern auch auf den sozialen Körper? Die surrealistische Bewegung wollte durch die Arbeit mit dem Unbewussten natürlich auch ein anderes Körperbewußtsein, eine andere körperliche Wahrnehmung herstellen. Teile des Bauhauses – Johannes Itten z.B. als Anhänger der Mazdaznan-Bewegung – meinten, dass nur in einem gesunden Körper eine gesunde Kunst entstehen könne. Von da aus ist es dann ja nicht mehr so weit bis zu den Sportlerkörpern von Leni Riefenstahl und Alexander Rodschenko. Oder nehmen Sie die Fotos, wo Bauhausschüler gemeinsam Gymnastik machen, bevor sie an die Arbeit gingen.


Ja, aber man muss da doch stärker differenzieren. Das, was Johannes Itten mit dem Mazdaznan gemacht hat, ist was komplett anderes als das, was Leni Riefenstahl in dem Olympiafilm dargestellt hat. Das hat nichts miteinander zu tun. Das ist viel zu pauschal gedacht. Sicherlich hat es immer wieder Versuche gegeben, durch Gestaltung auf die Gesellschaft einzuwirken. Beim Bauhaus durch Produktgestaltung, die in das Leben einwandert. Sie finden diesen Willen zur systematischen Durchgestaltung der Gesellschaft von A bis Z vor allem vor dem Ersten Weltkrieg bei den Expressionisten und den Futuristen, nach dem Ersten Weltkrieg nur noch bei den russischen Konstruktivisten und dem Bauhaus. Letztlich landet man dann beim „Gesamtkunstwerk Stalin“. Dann hat man aber das Problem, was macht man mit denen, die nicht an den Neuen Menschen glauben, die sich dagegen wehren. Sperrt man die ein oder steckt man sie in ein Umerziehungslager oder stellt man sie gleich an die Wand? Das ist ja auch das Problem bei Joseph Beuys, dass in seinem Gesellschaftsmodell alle an der sozialen Plastik mitarbeiten müssen. Was macht Beuys mit denen, die partout nicht an der sozialen Plastik mitarbeiten wollen? Dazu gibt es nur ganz versteckte Andeutungen. Aber man muss ganz klipp und klar sagen, vom heutigen Gesichtspunkt aus, war das ein mentaler Irrtum. Kunst kann nicht auf Politik einwirken und die Gesellschaft umgestalten. Sie kann nur Kunst sein. Es kommt auch darauf an, wie man Gesellschaft konzipiert. Wenn man von einer direkten Kontrollierbarkeit und Manipulierbarkeit der Umwelt ausgeht, dann könnte unter Umständen irgendein totalitärer Künstler zu der utopischen Vorstellung gelangen, man könnte Politiker mit Kunst direkt beeinflussen. Wenn man aber systemisch argumentiert, dann muss man sagen, dass das Kunstsystem ein geschlossenes Kommunikationssystem ist, welches Kommunikationsangebote in Form von Kunstwerken herstellt. Wie diese Angebote von anderen Systemen der Gesellschaft aufgenommen werden, sagen wir mal von der Politik, von der Erziehung, von der Wirtschaft, vom Recht, das steht nicht in der Kontrolle der Kunst, sondern unter der Kontrolle des Rechts, der Wirtschaft, der Erziehung und der Politik. Erziehung, Wirtschaft und Recht können nur unter Berücksichtigung ihrer eigenen Gesamtsituation Anregungen eines anderen Systems als Leistung in sich selbst inkorporieren. Von daher ist überhaupt der Gedanke, man könnte mit einer Teekanne die Gesellschaft verändern, einfach albern, finde ich. Also, wenn man politisch aktiv sein will, dann muss man ins politische System gehen. Wenn man wirtschaftlich aktiv werden will, muss man im Wirtschaftssystem operieren. Wenn man erziehen will, muss man in die Erziehung gehen. In der Kunst kann man nur Kunst machen und als Kunst kommunizieren. Also, das sind Fragen der Gesellschaftstheorie, was ist Gesellschaft, wie funktioniert sie, wie beschreiben wir sie? Und je nach dieser Beschreibung ist es eben möglich, Einflüsse auszuüben oder nicht. Und ich würde sagen, diese Idee eines neuen Menschen, eines neuen Sozialkörpers, wie Sie das definiert haben, kommt aus veralteten Vorstellungen von Gesellschaft, die wir heute so eigentlich gar nicht mehr haben. Deswegen würde ich sagen, das ist ein Problem der Avantgarde und einer veralteten ‚Vorstellung eines Gesellschaftskörpers gewesen, nicht von uns. (lacht) Und ein Irrtum, ja. ... Wie die Phlogiston-Theorie, das gab es auch nie, dieses Phlogiston.


In letzter Zeit ist ja viel über die innere Beziehung zwischen Kunst und Terror diskutiert worden, entweder in der Lesart „der Künstler als verhinderter Terrorist“, also Kunst als ein Versuch, den Raum der Kunst zu sprengen, die Forderung der Avantgarde „Kunst und Leben zu vereinen“, gelesen als Versuch, das System der Kunst zu sprengen. Oder dann eben die zweite Lesart „der Terrorist als verhinderter Künstler“, der in seiner Kultur kein modernes Kunstsystem vorfindet, in dem er seine Gewaltfantasien ausleben kann. Vielleicht einen kurzen Kommentar dazu, und dann, gibt es eine ähnlich Beziehung zwischen dem Künstler und der Gentechnologie?


Also, den Versuch, Terroristen mit Künstlern in Verbindung zu bringen, kann ich nur als zynisch bezeichnen und das lehne ich in jeder Form ab. Vielleicht bin ich ja auch altmodisch oder so was, aber das geht auf gar keinen Fall, denn das Perfide am Terrorismus ist ja nun, dass hier Menschen getötet werden und zwar in voller Absicht, das ist nichts anderes als feiger Massenmord ... Und ich wehre mich dagegen, Kunst als eine Form von Massenmord zu beschreiben oder Massenmord als eine Form von Kunst.


So ist das Verhältnis auch nicht beschrieben worden. Gemeint ist, dass das Kunstsystem, dass der Raum der Kunst praktisch eine Möglichkeit bietet, diese Gewalt zu sublimieren und auf eine sozial verträgliche Art auszuleben und auf der anderen Seite, wo dieser Raum der Kunst eben fehlt, ist diese Möglichkeit nicht gegeben.


Also, ich bin der Auffassung, dass der Kunstraum ein Als-Ob-Raum ist, in dem sozusagen symbolisch agiert wird. Ich weiß nicht, ob Sie die Arbeiten von Gregory Green kennen, der funktionierende Bomben in Ausstellungsräume eingebaut hat. Und ich erinnere mich noch gut, dass er mal bei „Shift“, einer Abschlussausstellung bei De Appel in Amsterdam an den Hauptpfeiler von De Appel eine funktionierende Bombe mit TNT und Zünder eingebaut hat. Da war auch der Schweizer Botschafter da und das war kurz nach dem Attentat in Oklahoma und Sie können sich gut vorstellen, wie da die Emotionen hochgegangen sind. Der Botschafter weigerte sich, die Ausstellungsräume zu betreten. Also, um Gregory Green ist es mittlerweile ziemlich still geworden. Ich weiß auch nicht, ob er wirklich noch die Nerven hat, nach dem 11. September diese Arbeiten weiter auszustellen und zu zeigen. Aber gerade an diesem Beispiel zeigt sich doch ganz deutlich, dass die Intention eine komplett andere ist. Die Terroristen wollen Menschen töten durch Massenmord und der Künstler will durch eine erhöhte emotionale Wirksamkeit die Aufmerksamkeit des Beobachters auf bestimmte Zusammenhänge lenken. Der eine will den Körper töten und der andere will den Körper irritieren, also mit dem Bewusstsein arbeiten.


Das Abklingen des Terrors am Ende des 19. Jahrhunderts kann auch mit dem Aufkommen der Avantgarde, mit dem Entstehen eines autonomen Kunstraumes, in Verbindung gebracht werden. In diesem Raum der Kunst kann dann z.B. Breton fordern, dass es die einfachste surrealistische Handlung sei, mit einem Revolver auf die Straße zu laufen und wahllos in die Menge zu schießen, immerhin Anfang der 30er Jahre, da weiß man auch nicht mehr so genau, wie das gemeint war?


Sie können auch diesen Film von Luis Bunuel nehmen, in welchem der epische Mörder wahllos aus dem Fenster auf Leute schießt, ne. Wo ich auch teilweise daran dachte, dieser Massenmörder in Amerika, der da aus Parkplätzen heraus Leute an Tankstellen und Supermärkten abgeschossen hat, dass der fast so eine Figur wie der „Epische Mörder“ von Bunuel sein könnte. Aber der wirklich entscheidende Unterschied ist einfach die Intention. Sie kann in der Kunst zwar durchaus eine reale Handlung sein, wie in der Performance, aber sie ist immer als ein symbolischer Akt, eben als ein Bild gemeint. Und das macht den Unterschied aus und sie richtet sich auf die Veränderung des Bewusstseins des Beobachters und nicht auf dessen Gesundheit oder den Zustand seiner Lebenskräfte.


Gab es denn wenigstens den Versuch das Kunstsystem zu sprengen?


Ja, diese Versuche gab es immer wieder. Das ist ja gerade das Interessante, dass es eine Reihe von Künstlern gibt, die explizit ein Manifest geschrieben haben, dass sie aus der Kunst aussteigen. Peter Weibel hat ja auch mal vom Ausstieg aus der Kunst als der höchsten Form von Kunst geredet. Wenn man von einem relativ geschlossenen, autonom operierenden System spricht, wie das Kunstsystem offensichtlich eines ist, dann kann man auch seinen Austritt aus diesem System per Manifest erklären. Man kann einfach in diesem System nicht mehr kommunizieren, wenn man es nicht mehr will oder man kann aus diesem Kommunikationssystem raus und 10 Jahre später auch wieder rein, das geht auch. Also, es ist klar, dass diese Idee eines systemischen Zusammenhangs von gesellschaftlichen Teilsystemen natürlich auch die Figur eines Außen und einer Grenze mit sich trägt. Die Frage ist dann eben, wie beschreiben wir die Grenze, wie beschreiben wir das Außen und die Frage ist dann auch, kann man als Künstler diese Grenze thematisieren und wenn ja, von welcher Seite aus, von innen oder von außen oder erst von innen und dann von außen oder erst von außen, dann von innen, es geht beides.


Das System der Kunst würde nur dann nicht mehr funktionieren, wenn z.B. die materiellen Träger entfielen, also wenn die Archive tatsächlich nicht mehr existieren würden...


Wenn jede Spur des Lebens getilgt wäre! (lacht)


Lassen Sie uns noch einmal auf das Verhältnis zwischen dem Künstler und dem Gentechnologen zurückkommen, die sich eben beide für den Bereich der Formung des Menschen, der Gestaltung des Menschen zuständig fühlen. Natürlich ist z.B. der Performance Künstler jemand, der Folter inszeniert, er inszeniert wie in Ihrem Beispiel mit Bomben, aber er tritt dadurch ja auch bewusst in ein Konkurrenzverhältnis zum Terroristen oder zum Folterer.


Aber der Unterschied ist, er tut nur so, als ob und das ist der wesentliche Unterschied.


Ganz klar, aber da ist sicherlich dann auch Eifersucht im Spiel. Wenn jetzt Leute wie Craig Venter und Severino Antiniori davon sprechen, den Gencode zu entschlüsseln oder sogar Menschen zu klonen, entsteht dann nicht so ein Eifersuchtsverhältnis zwischen Künstler und Gentechnologe?


Das müssten Sie die Künstler fragen. Also, ich meine, wenn ich darüber nachdenke, was ein Künstler und ein Gentechnologe gemeinsam haben, dann komme ich auf einer ganz allgemeinen Ebene vielleicht darauf, dass sie beide Interesse an Erkenntnis haben: Erkenntnis von Welt, Erkenntnis von Dingen, die wir noch nicht kennen. Also, der Gentechnologe entschlüsselt sozusagen die DNA-Substanz und findet dabei Dinge, die vor ihm keiner kannte, die er zum ersten Mal entdeckt. Und von daher ist so eine Differenz wie zu so jemand wie Leonardo da Vinci, der auch einer war, der ein extremes Interesse hatte an der Erkenntnis der Welt, gar nicht so groß. Ich würde sagen, Künstler sind per se, per Definition, Menschen, die Interesse an der Erkenntnis der Welt haben, aber in einem bestimmten Sinne, nämlich in einem visuellen Sinne. Sie sind interessiert an der visuellen Struktur der Welt und der Entschlüsselung und Erkenntnis dieser visuellen Struktur der Welt und des Menschen. Und der Gentechnologe ist sozusagen auch an der visuellen Struktur und der Entschlüsselung der Welt interessiert, aber aus einer anderen Intention heraus. Die Ziele sind anders und das macht dann wieder die Differenz aus.


Wobei der Gentechniker natürlich potenziell im Vorteil ist, denn er kann mit den körperlichen Intensitäten arbeiten, er kann potentiell die Wahrnehmung verändern, durch Eingriffe in den Körper unsere Wahrnehmung verändern. Das kann der Künstler natürlich nur von außen, er kann ja mit seinen Kunstobjekten nur die Wahrnehmung des Beobachters oder des Publikums verändern.


Na ja, aber auch Künstler wie Carsten Höller, Georg Winter oder Fabrice Hybert haben bestimmte medizinische Indikationen verwendet, um die Wahrnehmung zu verändern, z.B. Sauerstoffinhalation, halluzinogene Pilze oder euphrasia officinalis. Das ist ja alles in den 90er Jahren von den Künstlern durchexerziert worden. Das war im Prinzip so eine Art künstlerische Wahrnehmungserweiterung durch medizinische Indikation. Aber ich würde sagen, das Erkenntnisziel ist ein ganz anderes in der Kunst und in der Gentechnologie.

 

Das Gespräch wurde am 19.9.2003 in Stuttgart-Birkach aufgezeichnet.


Hans Dieter Huber