erschienen
in:
Helmuth Kern (Hg.):
Warum Kunstunterricht? Ein Projekt des Fachbereichs Bildende Kunst, Prof. Helmuth
Kern, Kurs 2005/07 am Staatlichen Seminar für Didaktik
und Lehrerbildung (Gymnasien), Esslingen, Esslingen 2006, S. 5-7.
These:
Kunstpädagogik ist das einzige Fach in der gesamten Schulausbildung, das
sich mit der sichtbaren Welt befasst. Das macht ihre zentrale und irreduzible
Bedeutung für unsere Gesellschaft aus, auch wenn das heute noch nicht
von allen in ausreichendem Maße verstanden wird. Kunstunterricht liefert
beiden Seiten unserer Gesellschaft die gewünschte Dienstleistung. Sie
arbeitet einmal in der Form bildhafter Schemata der Begriffsbildung und dem
Verstehen zu. Ohne ein bildhaftes Vorstellungsvermögen gibt es kein Begreifen
und Verstehen von Literatur, Geschichte, Geometrie und Ökonomie. Man kann
jeden Tag in Deutsch, Geschichte und Mathe feststellen, welche negativen Auswirkungen
mangelnder Kunstunterricht hat. Auf der anderen Seite arbeitet Kunstunterricht
der sinnlichen und anschaulichen Erfahrung von Alltag und Leben zu. Das Vorstellungsvermögen,
die Phantasie, die Einbildungskraft oder die Imagination sind absolut zentrale,
kognitive Fähigkeiten, die es im Kunstunterricht auszubilden und zu stärken
gilt, damit sowohl rationale Begriffsbildung, Logik und Vernunft einen anschaulichen,
gelebten Inhalt erhalten als auch die Kreativität und Schöpfungskraft
der Produzenten ausgebildet werden. Menschen mit einem gut ausgebildeten Vorstellungsvermögen
verstehen andere Menschen besser (Einfühlung, Empathie). Sie verstehen
sich selbst besser und sie verstehen die Welt besser. Ein gut ausgebildetes
und effizient funktionierendes Vorstellungsvermögen ist für schöpferische,
kreative und innovative Erfindungen absolut notwendig. Angela Merkel beklagt
die mangelnde Innovationskraft unserer Gesellschaft. Das kommt eindeutig durch
die Vernachlässigung der Ausbildung und Förderung bildhafter Vorstellungen,
Phantasie und Imagination.
Erläuterung der These:
Wie wir den sichtbaren Dingen und Ereignissen in der Welt begegnen, wie wir
andere Menschen visuell wahrnehmen und sie uns, bestimmt zu einem erheblichen
Anteil, wie wir über sie denken, uns ihnen gegenüber verhalten
und mit ihnen kommunizieren oder auch nicht. Das Sehen bestimmt, wie wir
uns Bilder von der Welt und von uns machen. Unsere bildhaften Vorstellungen,
Einbildungen, Imaginationen und Phantasien sind nach Immanuel Kant die entscheidende
Schnittstelle zur Begriffbildung. Bildhafte Vorstellungen sind das erste
Synthesevermögen der erfahrenen Mannigfaltigkeit zeitlich sukzessiver
Eindrücke. Es handelt sich dabei um innere Bilder (Vorstellungen), die
in Form von Erinnerungen mit dem bildhaften und episodischen Gedächtnis
verknüpft sind. Andererseits unterliegen diese inneren Vorstellungsbilder
auch unserem Willen. In unseren bildhaften Vorstellungen machen die Menschen
und Dinge stets das, was wir von ihnen wollen. Aus diesen inneren bildhaften
Vorstellungen entstehen Ideen, Skizzen, Drehbücher, Szenarien für äußere
Bilder (materielle Bilder). Aber nicht nur das. Es entstehen auch Szenarien
für Begegnungen, Verhandlungen oder entscheidende Situationen, die man
in der bildhaften plastischen, zeitbasierten Dynamik in seinem eigenen Inneren
als Übung und Training immer wieder ablaufen lassen kann. Man nennt
dies im Sport mentales Training. Sportwissenschaft ist hier wesentlich weiter
als Kunstpädagogik. Die absolut zentrale Bedeutung des Sehens für
unser tägliches Leben kann man sehr gut verdeutlichen, wenn man sich
vorstellt, was für das Leben und für einen selbst verloren gehen
würde, wenn man nicht mehr sehen könnte. Ich denke, mehr als 50%
des Lebens wäre weg. Man kann sich mit verbundenen Augen irgendwo hinfahren
lassen und dann an einem, nicht sichtbaren, unbekannten Ort aussteigen. Man
wird sehr schnell, innerhalb von Sekunden, erkennen, welche ungeheure Bedeutung
das Sehen und das Visuelle für eine Orientierung im Leben und im Alltag
besitzen. Nur nicht in der Schule! Unsere Gesellschaft leistet sich ein visuelles
Analphabetentum wie eine Bananenrepublik der Dritten Welt.
Der Kunstunterricht ist zusammen mit der Sportpädagogik, der Musikpädagogik und dem Technischen Werken das einzige Schulfach, welches am Körper ausbildet und die Hände als ein Erkenntnisinstrument der Welt und des Selbst zum Können führt. Nach dem Pisa-Schock erleben wir ein einseitige Verschärfung des sprachlich-rational-begrifflichen Staatsapparates. Gleichzeitig werden aber die nichtsprachlichen Fähigkeiten, Kenntnisse und Wissensformen auf sträflichste Weise, unterschätzt, vernachlässigt und marginalisiert. Die Folgen einer solchen einseitigen Aufwertung des Sprachlich-Rational-Logischen Komplexes ist eine Verarmung bzw. Unterentwicklung von Emotion, Intuition, Imagination und sinnlicher Anschauung. Die Folgen sind soziale Coolness, Cocooning, mangelndes Einfühlungsvermögen und fehlende Toleranz. Die Folgen dieser einseitigen Rationalisierung von Wissen können wir in den täglichen Gewaltausbrüchen unter Jugendlichen beobachten und in dem zunehmenden Verlust von Könnens und Geschicklichkeit, mit den Händen etwas Sinnvolles, Überzeugendes und Gelungenes herstellen zu können.
Was ist also zu tun?
Lasst uns an die Arbeit gehen. Jeder an seiner gesellschaftlichen Stelle sollte
den anderen die zentrale Bedeutung von Imagination und Phantasie für
ein stabiles Selbstbild und ein stabiles Weltbild erklären und darauf
hoffen, dass der Andere dies versteht. Denn er ist letzten Endes auch ein
Mensch mit Gefühlen, Ängsten, Phantasien und Hoffnungen. Man muss
die Eltern, die Elternbeiräte, die Schüler, die Lehrerkollegen
und die Bildungspolitiker in den Oberschulämtern, Regierungspräsidien
und Ministerien von der unhintergehbaren Zentralität der bildhaften
Schemata für Begriff, Logik und Vernunft einerseits und für ein
sinnlich erfülltes Leben andererseits überzeugen. Man muss diese
Zentralität in wissenschaftlich begründeter Weise argumentativ
veröffentlichen und in der Gesellschaft als Wissen verbreiten. Die Kunstpädagogen
müssen sich auch endlich einmal von der Altlast des einsamen Bohemegenies
verabschieden und von den Musikern lernen. Wir müssen diesen autistischen
Individualautonomismus überwinden, zuhören lernen und lernen, sein
Ego zurück zu nehmen und sich in den Dienst einer gemeinsamen Sache
zu stellen. Erst wenn wir alle das Tau der Kunstpädagogik in dieselbe
Richtung ziehen, erst dann haben wir Erfolge und kommen weiter. Solange man
glaubt, als Individualist in eine möglichst originelle und eigenständige
Richtung ziehen zu müssen, bewegt sich nichts von der Stelle und wir
kommen auch nicht weiter. Dies ist der Zustand, den wir in der Kunstpädagogik
jetzt (noch) haben. Also: Think it over, folks.