Hans Dieter Huber

Wozu braucht unsere Gesellschaft Kunstunterricht?


First Installation: 22.07.2007 Last Update: 22.07.2007


erschienen in: Helmuth Kern (Hg.): Warum Kunstunterricht? Ein Projekt des Fachbereichs Bildende Kunst, Prof. Helmuth Kern, Kurs 2005/07 am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien), Esslingen, Esslingen 2006, S. 5-7.

These:
Kunstpädagogik ist das einzige Fach in der gesamten Schulausbildung, das sich mit der sichtbaren Welt befasst. Das macht ihre zentrale und irreduzible Bedeutung für unsere Gesellschaft aus, auch wenn das heute noch nicht von allen in ausreichendem Maße verstanden wird. Kunstunterricht liefert beiden Seiten unserer Gesellschaft die gewünschte Dienstleistung. Sie arbeitet einmal in der Form bildhafter Schemata der Begriffsbildung und dem Verstehen zu. Ohne ein bildhaftes Vorstellungsvermögen gibt es kein Begreifen und Verstehen von Literatur, Geschichte, Geometrie und Ökonomie. Man kann jeden Tag in Deutsch, Geschichte und Mathe feststellen, welche negativen Auswirkungen mangelnder Kunstunterricht hat. Auf der anderen Seite arbeitet Kunstunterricht der sinnlichen und anschaulichen Erfahrung von Alltag und Leben zu. Das Vorstellungsvermögen, die Phantasie, die Einbildungskraft oder die Imagination sind absolut zentrale, kognitive Fähigkeiten, die es im Kunstunterricht auszubilden und zu stärken gilt, damit sowohl rationale Begriffsbildung, Logik und Vernunft einen anschaulichen, gelebten Inhalt erhalten als auch die Kreativität und Schöpfungskraft der Produzenten ausgebildet werden. Menschen mit einem gut ausgebildeten Vorstellungsvermögen verstehen andere Menschen besser (Einfühlung, Empathie). Sie verstehen sich selbst besser und sie verstehen die Welt besser. Ein gut ausgebildetes und effizient funktionierendes Vorstellungsvermögen ist für schöpferische, kreative und innovative Erfindungen absolut notwendig. Angela Merkel beklagt die mangelnde Innovationskraft unserer Gesellschaft. Das kommt eindeutig durch die Vernachlässigung der Ausbildung und Förderung bildhafter Vorstellungen, Phantasie und Imagination.

Erläuterung der These:
Wie wir den sichtbaren Dingen und Ereignissen in der Welt begegnen, wie wir andere Menschen visuell wahrnehmen und sie uns, bestimmt zu einem erheblichen Anteil, wie wir über sie denken, uns ihnen gegenüber verhalten und mit ihnen kommunizieren oder auch nicht. Das Sehen bestimmt, wie wir uns Bilder von der Welt und von uns machen. Unsere bildhaften Vorstellungen, Einbildungen, Imaginationen und Phantasien sind nach Immanuel Kant die entscheidende Schnittstelle zur Begriffbildung. Bildhafte Vorstellungen sind das erste Synthesevermögen der erfahrenen Mannigfaltigkeit zeitlich sukzessiver Eindrücke. Es handelt sich dabei um innere Bilder (Vorstellungen), die in Form von Erinnerungen mit dem bildhaften und episodischen Gedächtnis verknüpft sind. Andererseits unterliegen diese inneren Vorstellungsbilder auch unserem Willen. In unseren bildhaften Vorstellungen machen die Menschen und Dinge stets das, was wir von ihnen wollen. Aus diesen inneren bildhaften Vorstellungen entstehen Ideen, Skizzen, Drehbücher, Szenarien für äußere Bilder (materielle Bilder). Aber nicht nur das. Es entstehen auch Szenarien für Begegnungen, Verhandlungen oder entscheidende Situationen, die man in der bildhaften plastischen, zeitbasierten Dynamik in seinem eigenen Inneren als Übung und Training immer wieder ablaufen lassen kann. Man nennt dies im Sport mentales Training. Sportwissenschaft ist hier wesentlich weiter als Kunstpädagogik. Die absolut zentrale Bedeutung des Sehens für unser tägliches Leben kann man sehr gut verdeutlichen, wenn man sich vorstellt, was für das Leben und für einen selbst verloren gehen würde, wenn man nicht mehr sehen könnte. Ich denke, mehr als 50% des Lebens wäre weg. Man kann sich mit verbundenen Augen irgendwo hinfahren lassen und dann an einem, nicht sichtbaren, unbekannten Ort aussteigen. Man wird sehr schnell, innerhalb von Sekunden, erkennen, welche ungeheure Bedeutung das Sehen und das Visuelle für eine Orientierung im Leben und im Alltag besitzen. Nur nicht in der Schule! Unsere Gesellschaft leistet sich ein visuelles Analphabetentum wie eine Bananenrepublik der Dritten Welt.

Der Kunstunterricht ist zusammen mit der Sportpädagogik, der Musikpädagogik und dem Technischen Werken das einzige Schulfach, welches am Körper ausbildet und die Hände als ein Erkenntnisinstrument der Welt und des Selbst zum Können  führt. Nach dem Pisa-Schock erleben wir ein einseitige Verschärfung des sprachlich-rational-begrifflichen Staatsapparates. Gleichzeitig werden aber die nichtsprachlichen Fähigkeiten, Kenntnisse und Wissensformen auf sträflichste Weise, unterschätzt, vernachlässigt und marginalisiert. Die Folgen einer solchen einseitigen Aufwertung des Sprachlich-Rational-Logischen Komplexes ist eine Verarmung bzw. Unterentwicklung von Emotion, Intuition, Imagination und sinnlicher Anschauung. Die Folgen sind soziale Coolness, Cocooning, mangelndes Einfühlungsvermögen und fehlende Toleranz. Die Folgen dieser einseitigen Rationalisierung von Wissen können wir in den täglichen Gewaltausbrüchen unter Jugendlichen beobachten und in dem zunehmenden Verlust von Könnens und Geschicklichkeit, mit den Händen etwas Sinnvolles, Überzeugendes und Gelungenes herstellen zu können.

Was ist also zu tun?
Lasst uns an die Arbeit gehen. Jeder an seiner gesellschaftlichen Stelle sollte den anderen die zentrale Bedeutung von Imagination und Phantasie für ein stabiles Selbstbild und ein stabiles Weltbild erklären und darauf hoffen, dass der Andere dies versteht. Denn er ist letzten Endes auch ein Mensch mit Gefühlen, Ängsten, Phantasien und Hoffnungen. Man muss die Eltern, die Elternbeiräte, die Schüler, die Lehrerkollegen und die Bildungspolitiker in den Oberschulämtern, Regierungspräsidien und Ministerien von der unhintergehbaren Zentralität der bildhaften Schemata für Begriff, Logik und Vernunft einerseits und für ein sinnlich erfülltes Leben andererseits überzeugen. Man muss diese Zentralität in wissenschaftlich begründeter Weise argumentativ veröffentlichen und in der Gesellschaft als Wissen verbreiten. Die Kunstpädagogen müssen sich auch endlich einmal von der Altlast des einsamen Bohemegenies verabschieden und von den Musikern lernen. Wir müssen diesen autistischen Individualautonomismus überwinden, zuhören lernen und lernen, sein Ego zurück zu nehmen und sich in den Dienst einer gemeinsamen Sache zu stellen. Erst wenn wir alle das Tau der Kunstpädagogik in dieselbe Richtung ziehen, erst dann haben wir Erfolge und kommen weiter. Solange man glaubt, als Individualist in eine möglichst originelle und eigenständige Richtung ziehen zu müssen, bewegt sich nichts von der Stelle und wir kommen auch nicht weiter. Dies ist der Zustand, den wir in der Kunstpädagogik jetzt (noch) haben. Also: Think it over, folks.

 


Hans Dieter Huber