Hans Dieter Huber
Interview mit Niklas Luhmann am 13.12.90 in Bielefeld

(veröffentlicht in: Texte zur Kunst, Vol.I, (Herbst 1991), No.4 , S. 121-133)

H.-D.H.: Seit einiger Zeit arbeiten Sie mit einer neuen Unterscheidung. Statt zwischen "System" und "Umwelt" unterscheiden Sie zwischen "Form" und "Medium". Was ist das Spezifische dieses Formbegriffs?
N.L.: Also zunächst würde ich sagen, daß er nicht an die Stelle der System-Umwelt-Theorie tritt, sondern eine Alternativformulierung ist, wobei beide Formulierungen "System - Umwelt" und "Form - Medium " sich wechselseitig begründen können. Das ist das erste. Der Formbegriff selbst ist eigentlich aus dem Formenkalkül von George Spencer Brown in "Laws of Form" bezogen, wonach alles Beobachten auf einer Unterscheidung beruht und die Form die Einheit der Unterscheidung ist. Form ist also nicht eine schöne Gestalt, ein besonderes Ding, sondern die Differenz des Dings zu seiner Umgebung. Man hat das früher mit "Gestalt - Hintergrund" oder solchen Unterscheidungen erklärt.
H.-D.H.: Gestaltpsychologischen Erklärungen
N.L.: Ja, solchen Dingen. Jetzt wird einfach nur die Differenz schärfer beleuchtet, die konstitutiv ist. Es geht also nicht um ein Objekt, sondern es ist die Differenz selbst, die Form ist.
H.-D.H.: Das scheint mir für die Analyse von Kunst sehr brauchbar zu sein. Man gewinnt dadurch einen sehr flexiblen und immer wieder neu ausschöpfbaren Formbegriff. Jetzt lautet aber Ihre entscheidende These, daß diese Formsetzung zwar etwas sichtbar macht - das ist die alte Sache von Paul Klee: Kunst macht etwas sichtbar - aber gleichzeitig auch wieder etwas unsichtbarwerden läßt. Mich interessiert jetzt dieses Unsichtbarwerden durch Form, durch Kunst. Was wird Ihrer Meinung nach durch die Form in der Kunst zugedeckt?
N.L.: Wenn man im Bereich des Operierens bleibt, würde ich sagen, die Einheit der Unterscheidung. Man sieht dann nur noch das Unterschiedene. Wenn man sieht, daß ein bestimmter Strich, eine bestimmte Farbe, ein bestimmter Fleck einen Unterschied ausmacht, d.h. sich selber manifestiert und etwas anderes damit tot oder bedeutungslos macht oder hervorhebt, wenn es also immer um diese Differenz geht, dann pendelt man zwischen den beiden Seiten, man denkt entweder an diese neue Zutat, diese neue Linie, diesen neuen Fleck, diesen neuen Farbeffekt, oder an das, was man tun muß,




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um ihn im Bild zu halten, aber nicht an beides zugleich. Die Einheit der Form verschwindet im Gebrauch oder in der Beobachtung.
H.-D.H.: Gibt es nicht doch die Möglichkeit, beides gleichzeitig zu sehen? Ich denke an den Rubinschen Pokal, wo man einerseits den Pokal sehen kann, aber auch alternierend die beiden Profilgesichter rechts und links. Ich glaube, wenn man das ein bißchen hin und her springen läßt, dann sieht man irgendwann einmal beides gleichzeitig, das Gesicht und den Pokal. Dann würde man ja die Einheit der Differenz sehen können É
N.L.: Dann wäre die Einheit ein Effekt von Schnelligkeit im Wechseln der beiden Möglichkeiten É
H.-D.H.: Der Wahrnehmungseinstellungen ...
N.L.: Aber im Prinzip ist es so wie bei Paradoxien schlechthin. Man sagt, etwas ist wahr, weil es falsch ist, also ist es falsch, also ist es wahr, also ist es falsch, also ist es wahr. Das kann man dann natürlich so schnell beschleunigen, daß man die Paradoxie sozusagen selbst sieht, aber damit nichts anfangen kann. Wenn man etwas damit anfangen will, muß man auf die eine oder die andere Seite der Unterscheidung gehen, dann muß man sagen, die Paradoxie wird mit logischen Operationen, mengentheoretisch oder wie immer ausgeschaltet, und jetzt ist das Wahre wahr und dabei bleibe ich. Und dann arbeite ich damit. Und genau so würde auch ein Künstler, der am Arbeiten ist, oder ein Betrachter, der am Analysieren ist, sagen müssen, ich sehe jetzt den Sinn dieser Seite des Bildes, weil die andere Seite ihn fordert. Und das kann man, glaube ich, nicht wirklich zu einem konstant bleibenden Einheitseindruck verdichten. Man hat natürlich nachher das Werk sozusagen fertiggemalt oder man hat es durchanalysiert, und hat diese Einheit in der Sequenz von Schwerpunkten oder Fokussierungen des Arbeitens oder Betrachtens. Aber man kommt aus der Sequenz nicht auf eine Einheit zurück.
H.-D.H.: Es ist eine bekannte Erfahrung, daß die Unterscheidungen und Bezeichnungen, die man während des Beobachtens macht, das Wahrnehmungsergebnis fixieren und festlegen. Die begrifflichen Fixierungen bilden jedoch eines der Haupthindernisse zu einem adäquaten Verständnis von Kunst. Wenn Sie nun sagen, man muß sich für die eine oder andere Seite der Unterscheidung entscheiden, frage ich mich, ob man nicht in dem Moment, in dem man sich für eine Sache entscheidet, die andere übersieht und verfehlt?
N.L.: Auf der Ebene des unmittelbaren Beobachtens würde ich sagen, man muß in der Verwendung auf einer Seite bleiben, weil man sonst das Unterschiedene als unterschieden leugnen würde. Aber man kann natürlich die Unterscheidung als solche wieder zum Gegenstand einer weiteren Unterscheidung machen. Ich kann ja z.B. sagen, hier sind Effekte, die auf Farbkontrasten beruhen, und ich will jetzt durch "Groß - Klein",




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durch eine andere Unterscheidung, genau diese Effekte neutralisieren oder verstärken. Man kann also die Unterscheidung wieder zur einen Seite einer anderen Unterscheidung machen. Aber dann setzt man das Instrumentarium des Beobachtens, des Unterscheidens und Bezeichnens ein zweites Mal ein, und kommt aus dieser Misere, nur die eine Seite wirklich unterscheiden zu können, heraus.
H.-D.H.: Wodurch wird dann die Welt unbeobachtbar?
N.L.: Wenn ich unterscheiden will, kann ich nicht zugleich die Einheit der Unterscheidung, die Ununterschiedenheit des Unterschiedenen sehen wollen. Deswegen habe ich die Vorstellung, daß der Weltbegriff, die Unbeobachtbarkeit der Welt, ein Korrelat der operativen Paradoxie des Beobachters ist, der sich als Beobachter nicht selber beobachten kann oder der die Unterscheidung nicht als Einheit sehen kann, es sei denn mit Hilfe einer anderen Unterscheidung.
H.-D.H.: Wir reden jetzt über Kunst, d.h. wir verständigen uns jetzt schon auf einer Beobachtungsebene zweiter Ordnung über Kunst. Sie haben selbst Kunst als soziales System beschrieben. Können Sie kurz erläutern, was Sie darunter verstehen?
N.L.: Unter sozialem System verstehe ich ganz allgemein ein System, dessen Operation Kommunikation ist, das also ständig Kommunikation durch Kommunikation ersetzt, also eine Kommunikation durch eine andere Kommunikation fortsetzen muß. Dabei denke ich nicht nur an sprachliche, sondern auch an Gesten und alles mögliche, aber jedenfalls an Verknüpfungsprozesse zwischen Bewußtseinssystemen. Wenn ich also Kunst als soziales System beschreibe, heißt das, daß die Operation Kommunikation ist. Das schließt natürlich nicht aus, daß man auch psychologisch analysiert. Das schließt auch nicht aus, daß man ein Kunstwerk als Form, d.h. als eine Differenz im Verhältnis zur Umgebung, in der es zu sehen ist, oder




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auch im Verhältnis zu anderen Kunstwerken, zu Vorgängern, zu anderen Stilentscheidungen usw. analysieren kann.
H.-D.H.: Also wenn jetzt jemand die Mona Lisa mit einem Bart malt wie Duchamp z.B. É
N.L.: Ja, das kann man machen. Oder man kann auch die Mona Lisa als solche zeitlich lokalisieren. Man kann sich fragen, wieso ein jünglingshafter Zug in eine Frau kommt. Es gibt also eine Fülle von Unterscheidungen, die man in der Analyse eines Werks machen kann. Was die Soziologie beiträgt, ist die Frage, ob nicht all das letztlich seine Realität, seine soziale Existenz einer Kommunikation verdankt. Das würde z.B. bedeuten, daß der Künstler in der Herstellung Unterscheidungen so plaziert, daß er beobachtet, was ein anderer Beobachter beobachten wird, wenn er das Kunstwerk sieht und umgekehrt. In der neueren Ästhetik sagt man ja, ein Betrachter versteht das Kunstwerk nur, wenn er die Mittel erkennt, oder in meiner Sprache, wenn er die Beobachtungsweise erkennt, mit der ein Künstler in der Arbeit das Kunstwerk produziert hat, so daß in diesem Sinne Kunst wie auch Sprache eine Vermittlung zwischen Beobachtungen ist.
H.-D.H.: Sie verstehen also Kommunikation nicht nur als verbale Kommunikation von Menschen, die sich über Kunst unterhalten, Kunstkritiken schreiben, oder sich darüber streiten, ob das jetzt Kunst ist oder nicht, sondern sie setzen Kommunikation schon auf der Ebene der Werke selbst an.
N.L.: Ja, das ist entscheidend. Denn sonst wäre es ja wirklich banal, zu sagen, daß die Kunstkritiker Artikel schreiben und daß die Leute sich nach der Theateraufführung darüber unterhalten, wie es gewesen ist. Dazu braucht man als Soziologe keine besonderen Theorien . Das Entscheidende ist tatsächlich, daß ein Künstler eigentlich andere Beobachter, fast kann man sagen, ansprechen will. Er möchte adäquates Beobachten seines Werkes erreichen und zwar durch die Besonderheit, daß man nicht irgendwie die Wahl hat, irgendwas zu sehen. Wenn man das Werk sieht, sieht man die Entscheidungen oder die Beobachtungen, die es produziert haben. Und man versteht etwas von dem, was gewollt war. Das nenne ich auch Kommunikation.
H.-D.H.: Gibt es denn die Möglichkeit, außerhalb des Kunstsystems Kunst zu machen?
N.L.: Nein, würde ich sagen, gibt es nicht. Jedes System - die Wirtschaft, die Wissenschaft - beruht auf der Kontinuität seines Operierens, es beruht auf der Erkennbarkeit der Zugehörigkeit. Wenn man etwas nicht als zugehörig zur Kunst erkennt, ist es keine Kunst.
H.-D.H.: Aber es könnte doch der Fall sein, daß jemand aus dem System Kunst herausgeht, als Künstler zunächst in einem Bereich außerhalb arbeitet und eben, wie Sie sagen, als Künst-




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ler über fünf oder zehn Jahre hinweg nicht erkennbar bleibt. Und dann aber wird auf einmal erkennbar, daß es Kunst war, nur hat es damals keiner als Kunst angesehen. Ich denke jetzt an bewußte Grenzüberschreitungen von Künstlern, z.B. Duchamps Urinoir, das er einfach in eine Ausstellung gestellt hat, eben als Fountain, als Fontäne. Das ist ja auch eine bewußte Grenzüberschreitung, die dann wiederum ins Kunstsystem zurückwirkt.
N.L.: Aber es ist von vornherein nicht daraufhin konzipiert, sonst wäre es doch uninteressant.
H.-D.H.: Sie meinen, es ist nicht aufs Kunstsystem hin konzipiert?
N.L.: Doch! Der Plan war, es für Kunstbeobachter beobachtbar zu machen und zwar in der Form einer Überraschung: Das kann auch Kunst sein. Sonst wäre es ja einfach irgend etwas.
H.-D.H.: Sie würden also sagen, man kann unter Umständen das Kunstsystem Kunst verlassen und außerhalb arbeiten, aber es muß mit der Intention geschehen, daß es wiederum in das Kunstsystem eingeführt wird, irgendwann einmal.
N.L.: Nein, ich würde von vornherein sagen, es ist als Kunst, als Kommunikation im Kunstsystem angelegt Die Überraschung besteht nur darin, daß dies auch Kunst ist, und zwar intendiert natürlich, als Reflexion des Kunstbegriffs. Die ganze Avant-




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garde hat ja eigentlich immer den Kunstbegriff reflektiert, ist an die Grenzen dessen gegangen, was noch als dazugehörig erwiesen werden kann. Das ist erst jetzt mit der Postmoderne anders geworden. Aber damals war wirklich der Versuch da, etwas quasi außerhalb zu machen, was aber trotzdem noch als Kunst erkennbar sei. Die Kunst ist sozusagen universell. Alles kann Kunst sein, wenn es so definiert wird, wenn es in den Kontext der Kommunikation Kunst eingebaut werden kann.
H.-D.H.: Kann man denn dann sagen, daß durch dieses an-die-Ränder-des-Systems-gehen der Avantgarde oder von bestimmten Künstlern die Grenzen dieses Systems erweitert werden können, Stück für Stück?
N.L.: Ja, das System etabliert sich in gewisser Weise als gegenstandsunabhängig oder als universell. Alles kann Kunst sein, so wie man alles kaufen kann in der Wirtschaft oder alles erforschen kann in der Wissenschaft. Oder jedes menschliche Handeln ist entweder recht oder unrecht. Diese Funktionssysteme tendieren in der Moderne zur Universalisierung, also zur Unabhängigkeit von vorgegebenen Weltausschnitten. Und das realisiert die Kunst für sich selber auch. Aber es ist ein allgemeines, typisches Modell von Modernität.
H.-D.H.: Es gibt ja auch das umgekehrte Phänomen. Man könnte sich vorstellen, daß durch die weitere Ausdifferenzierung dieses sozialen Systems Kunst weitere autonome Teilsysteme entstehen, die sich dann -irgendwann einmal- nicht mehr eingliedern lassen und herausfallen, wie z.B. das Industrial Design, das ja vor hundert Jahren noch Domäne der Künstler war. Also könnte es auch sein, daß sich das soziale System durch seine weitere Ausdifferenzierung irgendwann einmal auflöst und zerfällt?
N.L.: Nein, ich würde nicht vermuten, daß es auf einen Zerfall hinausläuft, denn das Industrial Design wird ja auch z.B. von neuen Entwicklungen in der Kunst immer wieder befruchtet werden. Die Pop Art oder was auch immer kann dann plötzlich dem Designer neue Möglichkeiten eröffnen. Ich würde eher sagen, daß es immer natürliche Leistungsfelder der Kunst gegeben hat, die für andere Systeme, also etwa für Wirtschaft oder für Politik, die Verherrlichung der Führer, die Bedeutung der Parlamente und Gebäude und was immer, von Bedeutung waren. Jedes System hat immer einen Leistungssektor in Bezug auf andere Funktionssysteme. Und das kann vielleicht insofern abschwimmen, als man einfach das Design, speziell für Automobile, dem Windkanal überläßt und dann mit irgendwelchen Linien retuschiert. Das mag so selbständig sein, daß die Kunst davon nichts mehr hat. Also die Kunst schließt nicht an Design an.
H.-D.H.: Dann wäre das Windkanaldesign aber noch im Kunstsystem drin, oder ist das dann in Ihrem Verständnis schon draußen?
N.L.: Es ist draußen, wenn es lediglich eine ökonomische Operation ist, wenn man also lediglich denkt, das Auto muß




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sich von anderen unterscheiden. Ein Honda ist kein Mitsubishi oder so, ich muß Markenähnlichkeiten haben É
H.-D.H.: Corporate Identity É
N.L.: Dann ist es völlig außerhalb. Aber wenn ich Erfahrungen der Kunst einbringe, wenn ich also einen geschulten Blick habe für optische Effekte, die man nur haben kann, weil es Kunst gibt, dann ist es insofern gleichsam rekursiv an künstlerische Operationen gekoppelt . Nur ist es künstlerisch nicht mehr verwendbar. Es ist gleichsam nach einer Seite, nach der Vergangenheit hin, kunstabhängig. Aber es hat keinen Anschlußeffekt in Bezug auf die Kreation neuer Kunstwerke.
H.-D.H.: In dem Aufsatz "Das Medium der Kunst" haben sie die These geäußert, daß die Kunst in der Moderne die Gesellschaft als ihr Medium benutzt. Sie haben dabei gleichzeitig die Gefahr gesehen, daß damit das Kunstsystem sozusagen in sich selber kollabiert und Medium wird wie alles andere auch.1 In der Tat gibt es ja zur Zeit in der aktuellen Entwicklung der Gegenwartskunst tatsächlich Künstler, die die Gesellschaft als Medium benutzen, wie Jenny Holzer, Jeff Koons oder auch wenn Sie an das 7000-Eichen-Projekt von Joseph Beuys in Kassel denken. Insofern ist diese These auch empirisch richtig. Was heißt das, daß die Kunst die Gesellschaft als ihr Medium benutzt und inwieweit könnte dabei das Kunstsystem in sich selbst kollabieren?
N.L.: Zunächst zum ersten Teil der Frage. Ich denke, daß es immer eine Aufgabe der Kunst gewesen ist, Weltbeschreibungen zu liefern oder Formen für Welt anzubieten, die nicht übereinstimmen mit dem, was sowieso da ist. Und daß von dort aus Gesellschaft als Thema sozusagen ein Ausschnitt ist. Wenn man aber sieht, daß die Gesellschaft selber Weltentwürfe macht, und daß es gar nicht vorstellbar ist, eine sinnhafte Welt zu haben, ohne auf Kommunikation in der Gesellschaft zu rekurrieren, dann wird die Gesellschaft plötzlich zum notwendigen Durchgangspunkt jeder Weltbeschreibung. Und das meinte ich, wenn man nun sagt, die Gesellschaft ist aber nicht das, was an Industrie, an Schornsteinen, an Autobahnen, an Supermärkten, an politischen Parteizentralen usw. vorhanden ist. Sondern sie ist ein Medium für Ordnungsmöglichkeiten, die auch ganz anders aussehen könnten. Dabei habe ich wohl eher an Literatur gedacht als an Kunst. Die Kunst ist dann eine andere Form im Medium von Gesellschaft. Und die Frage ist dann: wie kann sie ihr Eigenes behaupten, wenn sie einen Beitrag zur Gesellschaftsbeschreibung liefert? Ist das eine Gefahr? Ich bin jedenfalls relativ offen in der Schlußfolgerung, ob das ein Problem wird für die Kunst selbst, oder ob sie dann mit Massenmedien, mit Soziologie und mit allen möglichen anderen Formen der Gesellschaftsbeschreibung fusionieren wird.
H.-D.H.: Es ist in dem Argument auch nicht klar gewesen, ob es eine Gefahr bedeuten kann oder eine Chance zur Weiterentwicklung.




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N.L.: Wenn die Kunst nur Gesellschaftsbeschreibung ist, nur Offerte einer anderen Gesellschaft, einer schöneren, einer humaneren, einer ohne Umweltprobleme, einer ohne Katastrophen, einer sicheren oder was immer, dann hat man plötzlich die ganze Alternativbewegung, man hat Politik, man hat alles mögliche drin. Die Kunst ist dann plötzlich ein Mittel, Politik zu machen, ein Mittel, soziale Bewegungen vorzustellen, ein Mittel der Motivation zu Protesten oder zu Alternativprojekten. Und dann nehme ich eben an, daß die Indienstnahme von Kunst für politische Zwecke z.B. sehr naheliegt. Das war ja auch irgendwo ein Problem von Marcuse damals gewesen, daß er plötzlich sah, daß das Schöne ein Mittel der Revolutionierung sein sollte und dann hat er doch gesagt, nehmt mir das als Realität ernst. Also diese Distanz zu der Vereinnahmung seiner Ideen über Kunst durch eine alternativ orientierte, protestierende Politik war ihm plötzlich zuviel. Das ist der Punkt, wo ich auch glaube, daß die Kunst, wenn sie Gesellschaft projiziert, wenn sie also im fiktionalen Bereich andere Ordnungsmöglichkeiten darstellt, immer noch die Kontrolle darüber haben muß: ist das denn eigentlich auch Kunst?
H.-D.H.: Das ist eben auch das Spannende an einigen Arbeiten der zeitgenössischen Kunst, die aus Enttäuschung über die Freizeitunterhaltungsmentalität, die im Kunstsystem herrscht, ganz gezielt aus den Kunstinstitutionen wie Museum, Galerie, Ausstellungen hinausgehen und wirklich draußen im gesellschaftlichen, öffentlichen Raum arbeiten, wo der, der das Teil benutzt oder darüber hinweggeht, überhaupt nicht mehr wissen muß, daß es Kunst ist. Das ist völlig egal. So hat Jenny Holzer im letzten Jahr vier weiße Marmorbänke und vier schwarze Granitbänke auf einer Plaza in New York aufgestellt, auf denen paradoxe Texte eingemeißelt waren.2 Die Leute sitzen halt auf der Bank, weil sie sich gerade in der Stadt ausruhen. Aber ob sie das jetzt als Kunst rezipieren oder nicht, das ist für diese Bank völlig unentscheidend. Also ich würde sagen, das Wirkungsfeld ist verlagert. Oder ist das nur eine scheinbare Verlagerung?
N.L.: Das führt einen zurück auf das Thema, das wir schon




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hatten: gibt es Kunst außerhalb der Kunst? Und da würde ich wieder sagen, wenn ich dieses Beispiel nehme, daß der Künstler eine wirkliche Überraschung der Begegnung mit Kunst inszenieren will. Gerade das Normale, das normale Draufsitzen, das interessiert ihn aber nicht eigentlich. Sondern jemand, der sitzt oder der sich hinsetzt, fängt plötzlich an zu lesen und wird damit gleichsam schockartig - "Wieso" - in ein anderes Medium versetzt. Dieser Wieso-Effekt, das Erstaunen, das tou mazein im Griechischen, steht ja überhaupt am Anfang der Kunst. Das ist die schockartige Konfrontation mit einer anderen Realität, die auch Ordnung zu sein verspricht. Ich denke, daß es auf solche Sachen ankommt, nicht darauf, den Passanten Sitzmöglichkeiten zu geben und die Kunst, sagen wir mal, so versteckt zu halten, daß niemand es sieht.
H.-D.H.: Ich würde sagen, es ist beides. Scott Burton arbeitet im öffentlichen Raum, indem er Sitzbänke aus Marmor schneidet, die gleichzeitig Kunstwerke sind, die sehr stark an reduzierte Brancusi-Objekte erinnern. Aber es ist vielleicht beides, die Benutzbarkeit, man kann darauf sitzen, man muß nicht unbedingt wissen, daß es sich dabei jetzt um ein Kunstwerk handelt. Aber wenn man ein bißchen aufmerksam ist, dann merkt man, daß da etwas anders ist im Vergleich zur sonstigen Bestuhlung im öffentlichen Raum.
N.L.: Es kann nicht nur die heimliche Schadenfreude sein: ich habe ein Kunstwerk gemacht und niemand hat es gemerkt. Das ist dann die Grenze. Dann kann man sagen, daß ist eine reflektive Selbstbefriedigung der Kunstwerke. Aber kein großes System kann völlig auf Selbstbefriedigung aufbauen.
H.-D.H.: Im Bereich der Kunst ist momentan ein starker Wandel von Stilen oder Akzentuierungen, Vorlieben, Präferenzen, Abneigungen im Gange. Mich interessiert, wie man innerhalb Ihres Denkmodells historischen Wandel beschreiben kann.
N.L.: Ich denke, man muß zwei Dinge voneinander unterscheiden: den Übergang zu einer funktionalen Ausdifferenzierung und Autonomisierung wichtiger Gesellschaftsbereiche, wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Recht, Krankenpflege, Kunst, Religion usw., daß also eine gesellschaftlich nicht mehr kontrollierbare Autonomie entstanden ist, die praktisch das produziert, was heute Gesellschaft ist. Davon müßte dann die damit verbundene Eigendynamik der Funktionssysteme selber unterschieden werden, das Tempo, in dem sich das Recht ändert, das Tempo, in dem neue Theorien geschaffen werden, das Tempo, in dem Kunst auf vorherige Kunst mit Überbietungsgesten oder mit Variationen reagieren muß, von Jahr zu Jahr, so daß also das Tempo sehr viel schneller läuft als die Lebensgeschichte des einzelnen Künstlers und er - wenn er nicht aufpaßt oder picassoartiges Geschick besitzt - sofort veraltet. Diese Phänomene sind zurückführbar auf Ausdifferenzierung und haben eine eigentümliche Fatalität. Man kann sich dann natürlich fragen, was wird nun an Konstanten produziert, wenn es im ständigen Wechsel läuft.




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H.-D.H.: Wie würde sich die weitere Ausdifferenzierung solcher Funktionssysteme der Gesellschaft in der Zukunft gestalten? Differenziert sich das immer weiter aus, wird es immer autonomer oder wie kann man sich das denken?
N.L.: Nein, ich glaube, daß die Autonomie erreicht ist. Ich sehe auch Autonomie eigentlich im Zusammenhang mit dieser operativen Schließung, also nicht als etwas, was mehr oder weniger da sein kann, sondern etwas, was entweder ist oder nicht ist. Wenn man Kunst im Hinblick auf andere Kunst als Kunst erkennt, also Werke als Kunst erkennt, weil sie anders sind als andere Werke, oder weil sie ein geschichtliches Gespräch führen mit vorhandenen Stilen und mit anderen Stilen, innovativ sein sollen, müssen oder wollen, dann ist die Autonomie der Kunst gegeben. Die Frage ist dann eigentlich nur: bleiben wir bei diesem Gesellschaftstypus einer Autonomisierung, einer Eigendynamik, einer Abschließung, die alle wechselseitige Einwirkungen mehr oder weniger, so massiv sie sind, dem Zufall überläßt und jedes System mit der Tatsache konfrontiert, niemand nimmt es mehr zur Kenntnis, niemand interessiert sich mehr dafür. Oder werden die Ansprüche an Sehen-Können so hoch geschraubt, daß kaum noch jemand sie erfüllt, es sei denn die Experten. Und selbst den Kritikern wird ja vorgeworfen, daß sie nicht selber malen.
Das sind Probleme, die in jedem Funktionssystem andere sind und in der Kunst im Übergang von der Avantgarde zur Postmoderne, auch auf eigentümliche Weise provisorisch reflektiert werden. Damit meine ich, daß man in der Gegenwart die Frage hat, ob jetzt das Ende der Reflexion des Kunstbegriffs im Kunstwerk erreicht ist. Man geht an die Grenzen, man übertrifft, man macht es anders als andere. Wie lange noch, mit welchen Radikalitäten? Wenn man das jetzt auf Postmoderne umstellt, daß man irgendetwas aus dem Schatz auswählt und wie man das tut, bleibt dem Belieben überlassen, dann ist die Frage, inwieweit sich das jetzt durchsetzt und inwieweit von da aus historisch ein weiterer Schritt möglich ist.
H.-D.H.: Gegen diese Beliebigkeit und Auswählbarkeit?
N.L.: Ja, und ob sich da nicht doch irgendwo wieder ein Qualitätsbewußtsein durchsetzen kann, das Stabilität verspricht, d.h. ein Urteil, das man auch auf andere Kunstwerke anwenden kann.
H.-D.H.: Das müßte dann durch Autorität geschehen, also durch das Diktum eines autoritären Führers, der sagt: das ist Qualität und der Rest nicht.
N.L.: Im Wissenschaftsbereich, in der Soziologie haben wir auch dieses Problem: Theorienvielfalt, Pluralismus, Diskurse, jeder hat seine eigene Theorie usw. Ich weiß nicht, ob man nicht sowas wie eine neue Strenge fordern sollte, ob man nicht z.B. im wissenschaftlichen Bereich auf begriffliche Genauigkeit achten sollte: "Was genau meinst du eigentlich?" Und da könnten plötzlich neue Möglichkeiten entstehen,




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genau zu sein. Ich könnte mir auch vorstellen, daß es in der Kunst eigentlich auch eine neue Strenge geben könnte. Ein ungarischer Kunsthistoriker hat mal von Nouvelle Severité gesprochen - also von einer neuen Ernsthaftigkeit und Strenge. Man könnte Überlegungen anstellen, was paßt zu was und welche Kombination wirkt als Kombination neu, so daß man in der Reflexion einfach wieder auf die Mittel achtet. Aber das ist natürlich Reflexion eines Soziologen, der eigentlich abwarten muß, was geschieht, bevor er sagen kann, was der Fall ist.
H.-D.H.: Aber wir alle wollen ja wissen, was als nächstes kommt.
N.L.: Aber da bin ich immer sehr zurückhaltend, weil ich eigentlich zwar Möglichkeiten sehe, aber gerade, wenn man von der Wissenschaft aus argumentiert, will man ja auch nicht Vorschriften machen, was die Kunst nun eigentlich tun sollte. Bei der Politik ist es dasselbe. Da ist man in gewisser Weise darauf angewiesen, daß im Möglichkeitsspektrum irgendetwas tatsächlich auch gemacht wird und vor allen Dingen auch gemacht werden kann.
H.-D.H.: Sie meinen, daß man aus der Vielfalt an Möglichkeiten




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durch Strenge und Genauigkeit die Qualität der Kunst steigern, also eine neue Entschiedenheit einbringen kann?
N.L.: Ja, und was die Wissenschaft dazu bieten kann, ist eigentlich nur die Unsicherheit, ob das geschieht oder ob es möglich ist. Die Wissenschaft, wenn sie auf andere Bereiche auftrifft, auf Politik - übrigens auch auf Wissenschaftstheorie -, auf Wirtschaft, erhöht immer Unsicherheit. Auch bei Theologen habe ich das Problem. Wenn ich sozusagen am Gottesbegriff bastle, versetze ich die in Unsicherheit.
H.-D.H.: Das ist nicht nur bei den Theologen so, sondern Sie versetzen auch die Künstler mit Ihren Theorien in Unsicherheit. Aber das kann ja manchmal ganz produktiv sein.
N.L.: Ja, aber das heißt eben: macht es doch selber.
H.-D.H.: Zur Zeit finden Ihre Theorien in der Kunstwelt starke Beachtung. Es gibt durchaus eine Wirkung in die Kunst direkt hinein. Nur würde ich sagen, daß manchmal die terminologische Begrifflichkeit für Künstler ein fast unüberwindliches Hindernis bildet.
N.L.: Innerhalb der Theorie operativ geschlossener Systeme heißt das natürlich: die Wissenschaft spricht zur Wissenschaft, und wenn ein anderer was davon hat, ist es Zufall. Nun kann man Zufälle verdichten. Zufälle sind nicht Seltenheiten des Ereignisses. Ich denke, daß die Soziologie, wenn sie eine Gesellschaftstheorie formulieren will, alle intellektuellen Hochleistungen, alle künstlerischen oder sonstigen Sondersemantiken mit hohen Ansprüchen als gesellschaftliche Tatsachen behandeln muß. Und sie kann nicht einfach sagen, das ist eine andere Wissenschaft, das macht man an Kunsthochschulen und nicht an Universitäten, das sind die theologischen Fakultäten, das sind die Ökonomen und so. Sondern man muß tatsächlich sehen, daß diese Dinge in der Gesellschaft vorkommen. Eine Gesellschaftstheorie kann das nicht einfach ignorieren, nur weil es eine akademische Arbeitsteilung gibt. Daraus resultiert - bei mir jedenfalls - ein starkes Interesse an Extravaganzen, Artifizialitäten oder hochgetriebenen Sonderansprüchen. Ich versuche innerhalb der Soziologie eine Sprache zu entwickeln, die dem angemessen ist. Das bringt mich in die Nähe zu Pädagogen, Theologen, Kunstwissenschaftlern oder auch Künstlern. Andererseits ist keine Regulierungsabsicht dahinter.
H.-D.H.: Die Breite und Wandlungsfähigkeit Ihrer Themen ist ja erstaunlich. Es gibt ja kaum etwas, über das Sie nicht geschrieben haben. Gibt es bestimmte Gegenstandsbereiche, die Sie nicht interessieren?
N.L.: Ich will nicht apodiktisch ein für allemal "nicht interessieren" sagen, aber z.B. habe ich immer Schwierigkeiten mit räumlichen Ordnungen. So gern ich in Brasilien bin und mich für die politischen Verhältnisse dort interessiere, aber Brasi-




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lien als Einheit interessiert mich nun wieder nicht. Oder nehmen Sie die Stadt Bielefeld , das ist kein System. Also alle räumlichen, regionalisierenden Einheiten interessieren mich nicht so sehr. Wie man sich über Raum im Verhältnis zu Kommunikation Gedanken machen kann, das ist z.B. so ein Bereich. Oder auch: ich lehne alle Einladungen ab, die mich veranlassen wollen, über den Menschen zu sprechen. Menschenbilder, sowas Grausliches. Also der Mensch interessiert mich nicht, wenn ich das so hart sagen darf.

1 Niklas Luhmann: Das Medium der Kunst. in: Delfin 4 (1986), pp.6-15. Nachdruck in : Frederick D. Bunsen (Hrsg.): >ohne Titel<: Neue Orientierungen in der Kunst. Würzburg: Echter (1988), pp.61-71: "Wenn es zuträfe, dann wäre die Verwendung der Gesellschaft als Medium der logische Abschluß einer solchen Entwicklung. Denn da die Kunst als Kommunikation selbst Vollzug von Gesellschaft ist, könnte sie sich dann auch selbst als Medium verwenden und in einer Art von logischem Kurzschluß kollabieren."(p.67)
2 Selections from Truisms and Under a Rock. Abgebildet in: Diane Waldman: Jenny Holzer. New York: Harry Abrams Inc. (1989), pp. 48-49.




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