Hans Dieter Huber
Erlernte Hilflosigkeit. Rauminstallationen von Bruce Nauman

(veröffentlicht in: Birkholz, Holger u.a. (Hrsg.): Zeitgenössische Kunst und Kunstwissenschaft. Zur Aktualisierung ihres Verhältnisses. Weimar: VDA Verlag 1995, S. 104 - 125)

I

Maßgebende Einsichten in die Beschaffenheit und Funktionsweise von Kunst haben häufig dann stattgefunden, wenn eine schöpferische Auseinandersetzung der Kunstwissenschaft mit der neuesten Kunstproduktion der Zeit zustande kam. Oftmals konnten die mit den Kunstwerken einhergehenden, künstlerischen Innovationen auch in neue kunsthistorische Erklärungsmodelle oder Theorieansätze Eingang finden.1 Heute befinden wir uns in einer Situation, in der sich ein bedeutender Innovationsschub für die Kunstgeschichte aus einer intensiven und präzisen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst ergeben könnte. Die Kunst der Gegenwart stellt für die Kunstgeschichte eine Chance und gleichzeitig eine Herausforderung dar. denn gerade anhand der zeitgenössischen Kunst kann und muß die Kunstwissenschaft neue Methoden der Erklärung entwickeln, weil traditionelle Methoden zu ihrem Verständnis nicht mehr ausreichen. Solche wissenschaftlichen Innovationen könnten dann auch für ältere Kunst auf eine neue und fruchtbare Weise nutzbar gemacht werden.


II

Über Rauminstallationen ist erst vor wenigen Monaten eine erste Publikation in englischer Sprache erschienen. In deutscher Sprache gibt es dagegen bis heute noch keine zusammenfassende Darstellung oder Einführung. Es existiert weder ein systematischer Überblick über ihre Geschichte noch eine methodische Diskussion beispielsweise über Fragen des Begriffes und der Interpretation.2 In meinem Aufsatz werde ich daher mit Hilfe eines neuen, systemischen Erklärungsansatzes das ästhetische und soziale Funktionieren von Rauminstallationen untersuchen. Ich werde meine Thesen an einigen Arbeiten des amerikanischen Künstlers Bruce Nauman darlegen.




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Rauminstallationen können sich von traditionellen Skulpturen in mindestens vier verschiedenen Bereichen unterscheiden.3 Meine These lautet, daß der Raum, die Zeit und der Beobachter in das Werk selbst als Bestandteil hineingenommen werden. Sie werden zu notwendigen und konstitutiven Einheiten des künstlerischen Systems selbst. Die Varianz der Systemorganisation tritt als viertes Kriterium hinzu. Was heißt das?

(1) Im Falle von Installationen wird der Raum selbst zu einem notwendigen und konstitutiven Bestandteil des Kunstwerks. Bei Skulpturen dagegen wird der Raum, in dem sich die Skulptur befindet, deutlich vom Kunstwerk selbst unterschieden und seiner Umwelt zugerechnet. Bei Installationen aber wird der Raum zu einer konstitutiven und notwendigen Komponente des Systems selbst. Die Wände, der Boden, die Decke, die Fenster, die Türen oder die Beleuchtung werden von einem Beobachter als Teile der Installation selbst und nicht ihrer Umwelt wahrgenommen.

(2) Ein weiterer, wichtiger Unterschied zwischen Installation und Skulptur besteht in der Möglichkeit, daß der Beobachter selbst zu einer konstitutiven Komponente des Systems werden kann. Er befindet sich nicht vor dem Bild oder einer Skulptur, sondern er kann sich in der Rauminstallation selbst umherbewegen. (Abb. 1) Er erfährt sich dabei selbst in seiner Einbettung in das System. Dies bedeutet einen wichtigen Unterschied für die Kunsterfahrung. Bei der Wahrnehmung von Bildern oder Skulpturen befindet sich der Beobachter stets in der Umwelt des Kunstwerkes. Er nimmt einen externen Standpunkt ein. In einer Installation wird er jedoch zu einer Komponente und zu einem Bestandteil des Systems. Er nimmt einen internen Standpunkt ein. Die Beobachtungsmöglichkeiten und das Orientierungsverhalten sind daher in einem Installationssystem grundlegend verschieden von den Wahrnehmungs- und Orientierungsmöglichkeiten, die Beobachter haben, wenn sie einer Skulptur gegenübertreten. Hier agieren sie nicht als Teil des Systems; sondern sie interagieren als Teil der Umwelt des Sysatems.

(3) Ein dritter Unterschied zu einer traditionellen Skulptur betrifft die Zeitdimension. Während autonome Skulpturen sozusagen auf unbegrenzte Zeitdauer hinaus geschaffen sind und nur durch eine gewaltsame Zerstörung ihrer Organisation ihre Existenz beenden, sind die meisten Rauminstallationen nur von begrenzter, zeitlicher Dauer. Sie werden meist nur für einen bestimmten Zeitraum an einem bestimmten Ort aufgebaut. Der Künstler muß selbst anreisen und die Teile vor Ort "installieren". Sie werden nach diesem Zeitraum




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wieder zerlegt. Ihre Existenz ist daher abhängig von diesem Zeitraum. Während Skulpturen nach dem Ende einer Ausstellung in ihrer Organisation nicht verändert werden und so ins Depot wandern, wie sie sind, existieren Installationen nur während ihrer Ausstellung. Man kann keine Installationen in einem Depot besichtigen. Rauminstallationen enthalten also Zeit als eine notwendige und konstituive Bedingung ihrer Existenz in sich selbst. Die Zeit ist ihnen inhärent, während traditionelle Skulpturen in diesem physikalisch meßbaren Sinne keine Zeit enthalten. An ihnen kommt lediglich über die Zeitdauer der Beobachtung ein zeitliches Moment ins Spiel, das allerdings ein rein kognitives Phänomen darstellt.

(4) Ein vierter Unterschied liegt in dem, was ich die Varianz der Systemorganisation nennen möchte. Wenn sich bei der Installation eines bestimmten Werkes an einem neuen Ort oder in einem neuen Raum eine bestimmte Beziehung zwischen zwei Komponenten dieses Systems verändern läßt, ohne damit das Werk zu zerstören, sollte diese Arbeit als eine Installation aufgefasst werden und nicht als Skulptur. Oftmals findet man in Ausstellungskatalogen anstelle der üblichen Maßangaben in diesem Falle auch die Bemerkung "Variable Dimensionen". Bleiben bei einem Neuaufbau eines Kunstwerkes dagegen alle Beziehungen zwischen den Einzelteilen als solche invariant, dann sollte man besser von einer Skulptur sprechen. Dieser Unterschied läßt sich anhand einer relativ einfachen Arbeit von Bruce Nauman näher erläutern. Ändert sich bei einem Neuaufbau von Dirty Joke (Abb. 2) irgendetwas an den Interaktionen zwischen den Video-Recordern, den Monitoren oder den Kabeln, dann muß man diese Arbeit als eine Installation beschreiben. Wenn dagegen bei einem Neuaufbau sowohl der Abstand des Tragbalkens vom Boden wie der Abstand der Monitore von der Wand exakt gleichbleiben müßen oder beispielsweise die Abspielgeräte nicht übereinander, sondern nur nebeneinander stehen dürfen, wenn also alle Interaktionen stets gleich bleiben müssen, dann wäre diese Arbeit als eine Skulptur zu bezeichnen. Die Invarianz der Systemorganisation ist meines Erachtens ein wichtiges Kennzeichen für Skulpturen. Varianz der Systemorganisation dagegen stellt ein entscheidendes Kriterium für Rauminstallationen dar.

Die Arbeit Andrew Head/Julie Head On Wax von 1989 (Abb. 3) ist nach diesem Verständnis eine Skulptur, weil der Raum keine notwendige Komponente des Werkes selbst bildet, der Beobachter außerhalb des Systems bleibt und bei einem Neuaufbau sämtliche Einheiten und Beziehungen in einem invarianten Verhältnis zueinander bestehen bleiben. Die Organisation der




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Arbeit bleibt also unverändert. Die Arbeit Ten Heads Circle/In and Out aus dem Jahre 1990 (Abb. 4) ist dagegen nach obigen Kriterien eine Installation, da sich der Beobachter zwischen den Systemkomponenten hindurchbewegen kann, die Arbeit in dieser Form nur während ihrer Ausstellung existiert und die Größe des Kreises, in dem die Köpfe hängen, der Größe des jeweiligen Raumes angepasst werden kann. Der Raum, der Beobachter und die Zeit werden hier also zu konstitutiven Systemkomponenten. Die Systemorganisation ist variabel. Bei der Vielfalt existierender Rauminstallationen müßen keineswegs alle vier Kategorien gleichzeitig erfüllt sein. Es genügt, daß nur eine einzige dieser Differenzen beobchtbar ist. Es können aber in einem anderen Fall auch alle vier Unterschiede in ein und demselben Werk zu beobachten sein. Die vorgeschlagenen Unterscheidungskategorien sind also in logischem Sinne als Alternationen und nicht als Konjunktionen zu verstehen.4


III

Die maßgebliche Einsicht der klassischen Systemtheorie bestand darin, zwischen System und Umwelt zu unterscheiden. Die Differenzierung zwischen System und Umwelt ist eine kognitive Unterscheidung, die immer von einem Beobachter getroffen wird. Wenn man von Rauminstallationen als Systemen spricht, muß man sich darüber im Klaren sein, daß es sich hier um eine Beschreibungsmethode handelt, die nichts mit der Frage zu tun hat, ob Installationen nun "wirklich" Systeme sind oder nicht. Denn das, was als Rauminstallation bezeichnet wird und was als seine Umwelt, ist immer die Entscheidung eines bestimmten, historischen Beobachters und liegt nicht in irgendwelchen Eigenschaften des beobachteten Gegenstandes begründet.5 Rauminstallationen sind Symbolsysteme und keine sozialen Systeme. Sie fungieren aber innerhalb sozialer Systeme, wie dem Kunstsystem, als Kommunikationsanläße. Als eine allgemeine Definition des Kunstwerks als eines Symbolsystems kann man folgende Fassung vorschlagen:

Ein Kunstwerk als System besteht aus Teilen, die man als Komponenten oder Einheiten bezeichnet. Zwischen den Einheiten eines Systems lassen sich verschiedene Formen von Interaktionen beobachten. Interaktionen sind verschiedene Formen wechselseitiger Beeinflussung oder Abhängigkeit. Die Beschreibung der Komponenten und ihrer Interaktionsmöglichkeiten ergibt die Struktur des Systems als dessen tatsächlichen Zustand zum Zeitpunkt der Beschreibung.




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Dies kann zunächst als eine ganz allgemeine, heuristische Definition betrachtet werden, die im Prinzip für alle Kunstgegenstände ihre Gültigkeit besitzt. Ich wende mich nun zunächst den Komponenten solcher Systeme zu.


Die Komponenten

Mit Hilfe sprachlicher Begriffe können die Einheiten eines Systems voneinander unterschieden und bezeichnet werden. Die Komponenten einer Rauminstallation können von verschiedenster Art sein. Installationen sind sog. Mehrkomponentenssteme im Gegensatz zu Einkomponentensystemen. So heterogene Bestandteile wie Kabel, Steckdosenleisten, gaffer tape, Videoprojektoren, Monitore, flight cases, Pappkartons, Wachsköpfe, Bettücher, Lichtprojektionen oder schwarz bemalte Wände wie in Shadow Puppets and Instructed Mime von 1990 können als Komponenten des Systems angesehen werden. (Abb. 5+6) Hinzukommt, daß ein Videoprojektor selbst ein hochkomplexes, elektronisches System ist. Wenn die interne Organisation einer Systemeinheit, beispielsweise eines Videoprojektors oder Monitors, für die Beobachtung keine relevante Rolle spielt, kann man diese Komponente als geschlossene Einheit behandeln, bei der wie bei einer "black box" nur der jeweilige Input und Output interessiert.

Betritt man als Besucher den Raum der Installation, ist man zunächst von der Fülle und Simultanität der verschiedensten Eindrücke überrascht. Die hohe Lautstärke der Lautsprecher und die schnellen Schnittfolgen der Projektoren und Monitore dringen einem ebenso schmerzhaft ins Bewußtsein wie die Dunkelheit des Raumes eine schnelle Orientierung erschwert. Auf den Reproduktionen ist der Raum wesentlich heller wiedergegeben, als er vom Beobachter im ersten Moment wahrgenommen wird. Hat sich das Auge nach einer Weile an die Dunkelheit gewöhnt, versucht sich jeder Beobachter zuerst im Raum zu orientieren. Er versucht Gegenstände und Hindernisse voneinander zu unterscheiden und zu erkennen, in welchem kausalen Zusammenhang Projektionen und Monitore zueinander stehen. Schon dieses erste Orientierungsverhalten wird von der komplexen Verschachtelung der Systemkomponenten auf eine subtile Weise verhindert. Sei es durch die schnellen Schnittfolgen der Videobänder oder durch die ständigen Irritationen durch akustische Sprachfetzen, die mal aus der einen, mal aus der anderen Ecke zu kommen scheinen und in ihren Überlagerungen schwer lokalisierbar sind, wird eine wahrnehmungsanalytische Strukturierung der Situation, in der man sich befindet, zunächst verhindert oder doch zumindestens deutlich erschwert. Hinzukommen Wahrnehmungseindrücke




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wie der Geruch von warmem Plastik aufgrund der Erhitzung der Videoprojektoren, die blaue Gesamtfarbigkeit, in die der ganze Raum aufgrund der Projektionen getaucht ist, sowie die ständige Beobachtung des Verhaltens anderer Beobachter im Raum, die sich zum größten Teil ebenfalls vorsichtig und abwartend bewegen. Dies alles gehört als eine Form ganzheitlicher Sinneserfahrung entscheidend zum Erlebnis der Installation. Es kann keinesfalls die Rede davon sein, daß die Kunsterfahrung von Rauminstallationen nur auf den visuellen Sinn begrenzt ist. Der Beobachter als ein sich aktiv in seiner Umwelt orientierender und umherbewegender Organismus ist mit seinen gesamten Sinnes- und Bewegungsorganen an der Wahrnehmungsexploration beteiligt.


Die Interaktionen

Relativ schnell kann man die einzelnen Geräte im Raum als die relevanten Komponenten der Installation erfassen. Die Interaktionen, die sich zwischen ihnen abspielen, sind jedoch nur schwer erkennbar, da ihr kausaler Zusammenhang kaum zu durchschauen ist. Die Interaktionsmöglichkeiten steigen mit der Anzahl und der Verschiedenartigkeit der Teile sprunghaft an. Die Interaktion von allem mit allem wäre eine vollständige Interdependenz. Alle potentiell möglichen Interaktionen einer beliebigen Systemkomponente mit jeder anderen beschreiben zu wollen, ist aufgrund der exponential ansteigenden Komplexität unmöglich.6 Aus diesen Kapazitätsgründen läßt sich praktisch nur ein winziger Bruchteil der tatsächlich vorhandenen Interaktionen beobachten und beschreiben. Die Beschreibung der Interaktionen muß man daher immer als das Resultat einer selektiven Auswahl und subjektiven Akzentuierung des Beobachters kennzeichnen. Eine Beobachtung und Beschreibung von Systeminteraktionen ist immer nur selektiv und immer nur kontigent, d. h. immer auch anders, möglich. Einer erhöhten Einsicht ins einzelne Detail entspricht eine erhöhte Intransparenz des Ganzen.

Die Interaktionen zwischen den Einheiten einer Installation sind also schwer zu beobachten und noch schwerer zu beschreiben. Als die grundlegenden Einzelteile dieses Systems kann man nach einiger Zeit 4 Videoprojektoren, 4 Monitore, 4 Transportkisten mit Rädern, etliche Pappkartons für Panasonic Videorecorder, 2 hängende Bettlaken und 2 Wachsköpfe, die wie eine Laterne von einer Stange baumeln, voneinander unterscheiden. Die Erkennbarkeit von Ursache und Wirkung, die für ein Verständnis der Vorgänge von essentieller Bedeutung ist, wird mit den medialen Mitteln der einzelnen Komponenten




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geschickt verschleiert. Den Versuch, die Erkennbarkeit von Systemzusammenhängen zu erschweren oder ganz zu unterbinden, halte ich für eine gezielte Strategie von Bruce Nauman, die den Beobachter in einen Zustand der Desinformation und Verunsicherung führt. Das Funktionieren des Systems soll nicht mehr vollständig durchschaubar sein. Es wird intransparent. Man ist den automatisierten Systemabläufen quasi hilflos ausgeliefert. Damit wird die Installation natürlich in übertragenem Sinne auch zu einem Modell der Undurchschaubarkeit unserer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft.

Wenn Beobachter das Gefühl haben, daß sie durch ihr aktives Wahrnehmungsverhalten keine Kontrolle mehr über ihre Umwelt herstellen können, dann kann diese subjektive Selbsteinschätzung symptomatisch für die Entstehung von Erlernter Hilflosigkeit sein. Die amerikanischen Psychologen Seligman und Abramson haben Mitte der 70er Jahre den entscheidenden Anstoß zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Phänomen der erlernten Hilflosigkeit gegeben, die vor allem aus der Angstforschung hervorgegangen ist. Seligman definiert Hilflosigkeit als Unkontrollierbarkeit und Angst als Unvorhersagbarkeit aversiver und negativer Stimuli. Er betont, daß nicht nur die objektiv gegebene Kontingenzlosigkeit, sondern die subjektive Bewertung dieser Kontingenzen das Ausmaß erlebter Hilflosigkeit und Angst und deren Konsequenzen für die Motivation, die kognitive Leistung, den Selbstwert und die Stimmung einer Person bestimmen.7

Der Beobachter erkennt, daß zwei Video-Bänder sowohl auf dem Monitor als auch auf einer Großbildprojektion zu sehen sind. Da 4 Videomonitore und vier Projektoren zu erkennen sind, folgert er höchstwahrscheinlich, daß auch 4 Videobänder existieren. Wenn er diese Hypothese allerdings zur weiteren Orientierung und Wahrnehmungsexploration zu verwenden versucht, führt dies zu einer entscheidenden, falschen Schlußfolgerung. Denn es sind 6 Abspielgeräte in Betrieb. Zwei davon sind verdeckt installiert. (Abb. 7) Genau dies macht den Versuch von Beobachtern, wiederkehrende Regelmäßigkeiten im Ablauf dieses Systems zu beobachten, vollends zunichte. Denn die Bänder sind sehr ähnlich in Szenenfolge und Bildschnitt. Aber sie sind eben nur ähnlich und nicht identisch, so daß man immer dann, wenn man glaubt, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen zwei Projektionen erkannt zu haben, schon wieder durch minimale Abweichungen von Szene, Schnitt und Ton in seinen Erwartungen enttäuscht wird. Der amerikanische Kommunikationswissenschafter Paul Watzlawik hat ausführlich die Auswirkungen von gezielter Desinformation auf die Erklärungsversuche von Beobachtern untersucht.




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Sobald das Unbehagen eines Desinformationszustandes durch eine beiläufige Erklärung abgemildert werden kann, führt zusätzliche, aber widersprüchliche Information nicht zu Korrekturen, sondern zu einer weiteren Ausbreitung und Verfeinerung der Erklärung. Damit aber wird die Erklärung selbst-abdichtend, das heißt, sie wird zu einer Annahme, die nicht mehr falsifiziert werden kann. Wenn man nach längerer Beobachtung endlich einen bestimmten Sachverhalt erklären zu können glaubt, kann der darin investierte emotionale Einsatz so groß sein, daß der Beobachter es vorzieht, unleugbare Tatsachen, die seiner Erklärung widersprechen, für unwahr oder unwirklich zu halten, anstatt seine Erklärung diesen Tatsachen anzupassen. Solche Selbstabdichtungen falscher Wirklichkeitsauffassungen können nach Watzlawik bedenkliche Folgen für unsere Wirklichkeitsanpassung haben.8

Die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit, durch sein eigenes, aktives Wahrnehmungsverhalten die Kausalbeziehungen zwischen den einzelnen Komponenten des Systems richtig zu konstruieren und damit eine kognitive Kontrolle über die Situation zu erlangen, kann zu einem Gefühl des Unangenehmen sowie zu Zuständen der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins führen.


IV

Jedes System, also auch ein Kunstwerk wie in unserem Falle eine Rauminstallation, ist in eine spezifische Umwelt eingebettet. Es steht in Wechselwirkung und in Austausch mit dieser Umwelt. Die Kunstgeschichte hat in jüngerer Zeit das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Beobachter unter dem methodischen Ansatz der Rezeptionsästhetik genauer in den Blick genommen, aber sie hat bisher noch kaum untersucht, auf welche Weise die Einbettung eines Kunstwerks in seine jeweilige Umgebung die Kunsterfahrung entscheidend beeinflussen kann. Der Beobachter und das zu beobachtende System befinden sich nämlich stets in der gleichen Umwelt. Sie sind zur selben Zeit am selben Ort. Identische Lichtverhältnisse, Temperaturen oder Faktoren wie Luftfeuchtigkeit wirken sowohl auf das Kunstwerk als auch auf den Beobachter ein. Die Systemtheorie hat für diese spezifische Art und Weise der Umwelteinbettung von System und Beobachter den Begriff der strukturellen Kopplung entwickelt. Er besagt, daß das System von der Umwelt gestützt und mit den für die Aufrechterhaltung der Systemfunktionen notwendigen Ressourcen versorgt wird.9 Die Umwelt stellt eine Art support oder Unterstützung für das System bereit. Das Kunstwerk kann nur in dieser strukturellen Überein-




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stimmung mit seiner Umwelt existieren. Geht der Umwelt-support verloren, hört zwangsläufig auch das System auf, zu existieren.

Im Falle von Shadow Puppets and Instructed Mime besteht die strukturelle Kopplung unter anderem in der Stromversorgung der Installation, in der konservatorischen Betreuung des reibungslosen Funktionierens von Projektoren und Abspielgeräten, dem An- und Ausschalten bei Öffnung und Schließung der jeweiligen Ausstellungsräume, der Be- und Entlüftung, usw. Die Umwelt von Rauminstallationen ist in erster Linie die des Museums, der Kunstgalerie, des Kunstvereins oder des Außenraumes, die diesen support, diese strukturelle Kopplung erst ermöglichen und ihn nur für einen bestimmten Zeitraum, nämlich die Dauer der Installation, aufrechterhalten.

Zur Frage nach der strukturellen Kopplung von System und Umwelt gehört auch die Frage, auf welche Art und Weise Rauminstallationen Grenzen zu ihrer Umwelt herstellen und aufrechterhalten.10 Ganz allgemein kann man darauf antworten: durch operationale Schließung. Was heißt das? Das heißt ganz einfach, daß kein System außerhalb seiner eigenen Grenzen operieren kann. Rauminstallationen schließen ihre Systemgrenzen dadurch, daß sie nur für bestimmte, intendierte Austauschprozesse zwischen System und Umwelt durchlässig sind. In Learned Helplessness in Rats (Rock and Roll Drummer) von 1988 (Abb. 8) erfolgt die Schließung des Systems unter anderem durch Ausschalten und Ausgrenzen des natürlichen Tageslichtes. Das System wird gegenüber dem Austausch von Licht mit der Umwelt in seinen Operationsmöglichkeiten abgekoppelt. Es hat hinsichtlich der Beleuchtung keine Verbindung mehr nach draußen. In dieser Hinsicht ist es von der Umwelt abgekoppelt. Stattdessen wird eine neue Form struktureller Kopplung durch eine künstliche Beleuchtung eingeführt. Erst die Abkopplung von der Umwelt, die gleichbedeutend ist mit einer operationalen Schließung, ermöglicht die Autonomisierung der Systemoperationen. Erst dadurch wird es möglich, bestimmte Systemzustände herzustellen und zu stabilisieren.

In Floating Room: Lit from Inside von 1973 (Abb. 9+10) wird die Rauminstallation durch ihre Abkoppelung von Boden und Decke operational geschlossen und dadurch gegenüber der Umwelt autonomisiert. Das erscheint paradox. Denn man sieht eigentlich, daß die Installation unten und oben "offen" ist. Das Wandsystem von Floating Room entkoppelt sich von seiner strukturellen Bindung von Boden und Decke, indem es frei hängt. Damit wird natürlich gerade an diesen Stellen ein Austausch mit der Umwelt unterbunden.




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Die Grenzen der Rauminstallation werden durch diese Maßnahme neu gezogen. Der Boden und die Decke, die von außen gesehen, normalerweise als Komponenten des Installationssystems wahrgenommen werden, sind vom System abgekoppelt und werden der Umwelt zugerechnet. Damit verkoppelt sich die Installation auf der einen Seite mit ihrer Umwelt und gleichzeitig schließt sie sich auf eine neue Art und Weise von ihr ab. Sie gibt den Boden und die Decke an die Umwelt zurück, behält aber Wand, Tür und Beleuchtung als Systemkomponenten. Betritt ein Beobachter die Installation, widerfährt ihm eine äußerst unangenehme Erfahrung. Das Gefühl, als ob ihm der Boden unter den Füßen wegsinken würde oder er knöcheltief in etwas Befremdendem stehe, ist von allen Beobachtern deutlich wahrnehmbar und wird auf Befragen hin geäußert. In dieser Installation befindet sich der Beobachter in einer paradoxalen Situation. Auf der einen Seite ist er mit seinen Füßen Teil der Umwelt und blickt von diesem externen Standpunkt aus in das System hinein. Auf der anderen Seite ist er mit seinem visuellen Sinn im System selbst drin und blickt nach außen auf die Umwelt. Dies führt also zu einer widersprüchlichen Erfahrung von Lokalisation. Die visuelle Wahrnehmung und die kinästhetische Wahrnehmung liefern hier einander widersprechende Impulse ans Gehirn, das hierdurch in einen paradoxalen, kognitiven Zustand gebracht wird. Vertraut der Beobachter der Erfahrung seiner Augen, glaubt er sich im Raum befindlich. Vertraut er dagegen seinen Füßen, erfährt er sich als außerhalb des Werkes stehend. Der Beobachter muß die Dissonanzen zwischen den widersprüchlichen Kognitionen reduzieren, indem er die eine Seite der Unterscheidung, also die visuelle oder die kinästhetische, als seinen jeweiligen Standpunkt bezieht und die andere Seite der Unterscheidung unterdrückt oder latent hält.

Nauman selbst sagt in einem Gespräch mit Coosje van Bruggen:

Floating Room handelte davon, dass man den Raum um die eigene Person herum nicht beherrschen kann; der Raum im Innern des erleuchteten Zimmers schwebt nach draussen, wo es dunkel ist.11

Raumgrenzen bilden also für das System eine essentielle Schnittstelle. Sie schließen es operativ von der Umwelt ab. Gleichzeitig aber bilden sie den support aus. Raumgrenzen sind also eine Art Passage oder Übergang zwischen Systemgrenzen.12 Ob die Grenzen des Raumes zur Umwelt gehören oder zum System, ist nicht eindeutig zu entscheiden, sondern hängt vom Standpunkt des Beobachters ab, ob er sich innerhalb oder außerhalb des Systems befindet.




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Vom System aus gesehen, sind die Grenzen des Raumes bereits Umwelt, sie gehören nicht mehr zur Installation. Von der Umwelt aus gesehen, sind die Wand, der Boden oder die Decke jedoch sehr wohl Teil des Installationssystems, sie sind schon Installation. Mit Hilfe von Grenzen können Systeme sich also zugleich schließen und öffnen, indem sie interne Wechselwirkungen von System-Umwelt-Wechselwirkungen abtrennen.13


V

Kommen wir noch einmal auf die begriffliche Bezeichnung der Komponenten einer Installation durch die Unterscheidungen eines Beobachters zurück. Durch die linguistische Etikettierung geraten diese in einen Zusammenhang mit dem schon bestehenden Netz aus Erfahrungen und Wissensbeständen des jeweiligen Beobachters.14 Durch die Bezeichnungen, die im verbalen Begriff der Beobachtung anderer Beobachter zugänglich werden, löst sich die kognitive Konstruktion der Kunsterfahrung von ihrer situativen Gebundenheit ab und wird Teil der Erfahrungsnetze des Individuums. Das Beobachtete wird mit den Meinungen, Überzeugungen, Vorurteilen, Vorlieben, Abneigungen, Wünschen, Verdrängungen oder Widersprüchen des Beobachters konfrontiert und in diese integriert. Dadurch findet ein Übergang statt. Aus einem physikalischen Gegenstand ist ein kognitiver geworden.

Kunsterfahrung ist keinesfalls eine Art Einbahnstrasse, in der die "Botschaft" des Kunstwerkes lediglich vom Beobachter passiv "aufgenommen" wird. Sie ist vielmehr ein wechselseitiger Prozeß. Sie ist eine soziale Interaktion. Die Installation selbst gibt die Richtung der Wahrnehmungsauseinandersetzung vor. Sie definiert das Thema der Interaktion oder den universe of discourse, wie manche Philosophen sagen. Der Beobachter reagiert auf diese Auslösesituation durch eine Veränderung seines internen kognitiven Gleichgewichts. Der veränderte, kognitive Zustand wirkt wieder in Form einer veränderten Wahrnehmungseinstellung auf das Werk zurück. Die Komponenten und Interaktionen des Kunstwerks können und werden in einem zweiten Beobachtungsgang neu unterschieden und bezeichnet. Daher kann man Kunsterfahrung als eine rekursive Interaktion zwischen Kunstwerk und Beobachter beschreiben, bei welcher der Kunstgegenstand als ein kognitiver oder mentaler Gegenstand während der Beobachtung nicht neutral oder unverändert zurückbleibt. Es gibt aus diesem Grunde keinen Gegenstand, der, wenn er beobachtet wird, beobachtungsneutral zurückbleibt.15




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VII

Der deutsche Kunsthistoriker Hans Sedlmayr hatte bereits 1931 darauf hingewiesen, daß die Auseinandersetzung mit den Werken der jeweils aktuellsten Kunstproduktion rückwirkend auch den Blick auf ältere Kunstwerke und Epochen verändert, weil sich durch die neue Kunst unsere Einstellungen zu ihr verändert haben.16 Vielleicht gelingt es uns, durch eine neue theoretische Bestimmung des ästhetischen und sozialen Funktionierens von Teilen der zeitgenössischen Kunst, wie am Beispiel von Rauminstallationen gezeigt, auch Werke älterer Kunstepochen und Kunstgattungen in ihrer spezifischen Installationssituation zu begreifen. Vielleicht verstehen wir dann genauer, wie sie von einem Künstler vor Ort installiert worden sind, wie sie bestimmte strukturelle Kopplungen mit ihrer Umwelt eingehen, oder wie sie sich hinsichtlich bestimmter Interaktionsmöglichkeiten von ihrer Umwelt operational abschließen. Eine Rückübertragung von Erkenntnissen und Einsichten, die an der zeitgenössischen Kunst gewonnen wurden, auf die "Rauminstallationen" von Tizian17 (Abb. 11) oder Bernini (Abb. 12) würde uns deren Kunst mit neuen Augen und nicht mit dem trügerischen Blick einer vermeintlich adäquat rekonstruierbaren Vergangenheit sehen lassen, die letztendlich doch nur eine Fiktion unserer Gegenwart ist.

Abbildungsnachweise

Abb.1: Joseph Beuys: Plight, 1985, Centre Georges Pompidou, Paris, © VG Bild-Kunst, Bonn 1993
Abb.2: Bruce Nauman: Dirty Joke, 1987; Sammlung Elaine und Werner Dannheisser, New York; © VG Bild-Kunst, Bonn 1993
Abb. 3: Bruce Nauman: Andrew Head/Julie Head On Wax 1989; Sammlung Jerry und Emily Spiegel, New York; © VG Bild-Kunst, Bonn 1993
Abb. 4: Bruce Nauman: Ten Heads Circle/In and Out 1990; Courtesy Leo Castelli Galleries, New York; © VG Bild-Kunst, Bonn 1993
Abb. 5: Bruce Nauman: Shadow Puppets and Instructed Mime 1990, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Museum für Gegenwartskunst, Basel
Abb. 6: Bruce Nauman: Shadow Puppets and Instructed Mime 1990, (Detail), Emanuel Hoffmann-Stiftung, Museum für Gegenwartskunst, Basel; © VG Bild-Kunst, Bonn 1993
Abb. 7: Bruce Nauman: Shadow Puppets and Instructed Mime 1990, Grundriß der Installation in der Sperone Westwater Gallery, New York 1990; © VG Bild-Kunst, Bonn 1993
Abb. 8: Bruce Nauman: Learned Helplessness in Rats (Rock and Roll Drummer), 1988; Sammlung Elaine und Werner Dannheisser, New York, Foto: Dorothee Fischer; © VG Bild-Kunst, Bonn 1993
Abb. 9: Bruce Nauman: Floating Room: Lit from Inside, 1972 (1980 rekonstruiert); Hallen für Neue Kunst, Schaffhausen, Schweiz; © VG Bild-Kunst, Bonn 1993
Abb. 10: Bruce Nauman: Floating Room: Lit from Inside, 1972 (1980), Detail Innenansicht; Hallen für Neue Kunst, Schaffhausen, Schweiz; © VG Bild-Kunst, Bonn 1993
Abb. 11: Tizian: L`Assunta , 1516-1518, Santa Maria Gloriosa dei Frari, Venedig
Abb. 12: Gian Lorenzo Bernini: Tabernakel von St. Peter, Petersdom, Rom, 1624-1633


Fussnoten:
1 Wie Eckhard Lobsien: Das literarische Feld. Phänomenologie der Literaturwissenschaft , München: Fink Verlag 1988, S.11 für die Literaturwissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit der Literatur der Moderne nachgewiesen hat.
2 Es ist zwar jüngst ein reichlich bebilderter Band von Nicholas De Oliveira/Michael Petry/Nicola Oxley: Installation Art. London 1994 erschienen, der aber keineswegs die zahlreichen wissenschaftlichen Fragestellungen und Bedürfnisse ausreichend berücksichtigt. Thomas Schmidt-Wulffen und Wulf Herzogenrath arbeiten nach eigenen Angaben seit längerer Zeit an einem Buch über "Gestaltete Räume", das in absehbarer Zeit im Verlag Silke Schreiber erscheinen soll.
3 Diese Bereiche decken die Mannigfaltigkeit von Installationen keineswegs vollständig ab, sondern sie stellen erste, heurtistische Kategorien dar zur genauereren Differenzierung und Unterscheidung zwischen Skulpturen und Installationen.
4 Zu den logischen Begriffen vgl. Willard van Orman Quine: Grundzüge der Logik Frankfurt 1978, S.26 ff.
5 Insofern ist der systemtheoretisch-konstruktivistische Ansatz ein de-ontologischer Ansatz. Er macht keine Aussagen über die Elemente, die "wirklich" existieren, sondern beschreibt die Methode ihrer Unterscheidung und Konstruktion.
6 siehe Niklas Luhmann: Komplexität. in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S.940 f.:"Danach muß Komplexität mehrdimensional gemessen werden; sie nimmt zu mit der Zahl der Elemente, aber auch mit der Zahl und der Verschiedenartigkeit von Verknüpfungen zwischen Elementen, die das System vorsehen kann. ...In einem abstrakten, rein quantitativen Sinne besteht die Komplexität (oder Kompliziertheit) des Systems in der Zahl aller denkbaren Beziehungen zwischen allen Elementen (alles mit allem). Aus diesem abstrakten Relationierungspotential wählt die Struktur des Systems nach engeren Bedingungen die im System als möglich zugelassenen Beziehungen aus unter Reduktion der vollständigen Interdependenz. Erst diese interne Reduktion ermöglicht es, Grenzen gegenüber der Umwelt zu ziehen und Elemente als systemzugehörig zu qualifizieren. Welche Reduktionen intern gewählt werden können, ergibt sich aus der System/Umwelt-Relation, nämlich daraus, daß das System nur begrenzte Möglichkeiten findet, sich in einer Umwelt zu erhalten, die komplexer ist als es selbst."
7 zit. nach Wolfgang Larbig und Niels Birbaumer: Angst, in: Werner Wittling (Hrsg.): Handbuch der Klinischen Psychologie. Bd. 4: Ätiologie gestörten Verhaltens . Hamburg: Hoffmann und Campe 1980, S.198
8 Paul Watzlawik: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn. Täuschung. Verstehen, München-Zürich: Piper Verlag 1976, S.63 - 67
9 "Die dynamischen strukturellen Beziehungen einer Einheit mit ihrem Medium, durch die diese Einheit ihre Identität bewahrt (...) nenne ich >strukturelle Koppelung< (oder >strukturelle Anpassung<). Diese Koppelung wird durch die alltägliche Praxis des Beobachters erkennbar." Humberto R. Maturana: Elemente einer Ontologie des Beobachtens; in: Hans Ulrich Gumbrecht / K.Ludwig Pfeiffer(Hrsg.) Materialität der Kommunikation. Frankfurt: Suhrkamp 1988, S.833
10 Die frühere Systemtheorie hatte Systeme mit dem vagen Begriff des Zusammenhanges definiert, in dem Sinne, daß Systeme intern fester oder dichter zusammenhängen als mit ihrer Umwelt, daß sie intern eine geringere Komplexität besitzen als ihre Umgebung. Die ältere Systemtheorie sah also Systeme als besondere Objekte an. Wenn man dagegen Systeme nicht mehr als besondere Entitäten ansieht, die intern besonders dicht zusammenhängen, sondern statt dessen von der Differenz zwischen System und Umwelt als einer leitenden Unterscheidung von Beobachtern ausgeht, gelangt man zu einer ganz anderen Form von Theoriegestaltung. Es wird deutlich, daß sich Systeme vor allem durch operationale Schließung von ihrer Umwelt abkoppeln.
11 Zit.n. Coosje van Bruggen: Bruce Nauman, Basel: Wiese Verlag 1988, S. 194
12 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt 1984, S.52:" Systeme haben Grenzen. Das unterscheidet den Systembegriff vom Strukturbegriff. Grenzen sind nicht zu denken ohne ein >dahinter<, sie setzen also die Realität des Jenseits und die Möglichkeit des Überschreitens voraus. Sie haben deshalb nach allgemeinem Verständnis die Doppelfunktion der Trennung und Verbindung von System und Umwelt."
13 ibd., S.52f.
14 Die Forschung spricht hier von sog. semantischen Netzwerken, die mit der Art und Weise, wie Gedächtnisinhalte begrifflich gespeichert werden, zu tun haben. Neuerdings ist das Konstrukt eines semantischen Netzwerkes mit überzeugenden Argumenten kritisiert worden. Siehe Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt: Suhrkamp 1991, S.21f.:"Während Rumelhart Schemata als elementare, im Langzeitgedächtnis gespeicherte, statische Bausteine der Kognition auffaßt, entwickelt Iran- Nejad ... eine Vorstellung von Schemata als vorübergehenden funktionalen Mustern, die durch Gehirntätigkeit immer wieder erzeugt werden (>transient functional pattern<). ...Der meines Erachtens entscheidende Gedanke Iran - Nejads liegt in der bewußten Hinwendung zur Funktion und damit in der Überwindung der Annahme einer Eins-zu-eins-Beziehung zwischen (komplexen) mentalen Mustern (z.B. Begriffen) und lokalisierbaren physiologischen Strukturen (oder Substraten). So macht es zwar Sinn, von neuronalen Netzwerken zu reden, nicht aber, von konzeptionellen Netzwerken zu reden. Konzeptionelle Netzwerke werden ständig neu hergestellt, aber sie >bestehen< nicht als ganze."
15 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt:Suhrkamp 1990, S.75: "Das hat die wichtige Konsequenz,...,daß das Beobachten die Welt, in der beobachtet wird, verändert. Es gibt, anders gesagt, keine zwar beobachtbare, aber beobachtungsinvariante Welt."
16 Hans Sedlmayr: Kunstgeschichte als Kunstgeschichte ; in: ders.; Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte. Vermehrte Neuausgabe. Mittenwald: Mäander Verlag 1978, S. 66: " Hat man aber eingesehen, daß schon zu einem einzigen Gebilde mit neuen Eigenschaften [Sedlmayr meint hier ein neues Kunstwerk] eine neue >Einstellung< untrennbar gehört, so wandeln sich von der neu entstandenen Einstellung her die Eigenschaften - und der relative Wert - aller, auch der schon vorher existierenden Gebilde [d. h. der Kunstwerke]. Zugleich ändert sich der Umkreis der Gebilde, die >Kunstwerke< ( im wertenden Sinne des Wortes) sind; es ändert sich der Umkreis der Gegenstände, die für diese Einstellung als >Motive< in Betracht kommen, und noch vieles andere."
Auch dies ist ein Beleg dafür, daß Kunsterfahrung eine Form von sozialer Interaktion ist und nicht nur eine einseitige, passive Aufnahme des Gesehenen.
17 Architektonische Anpassungen versuchen, den Konflikt zwischen Hochrenaissancealtar und gotischem Chor zu mildern. Der Altar füllt zwei Joche des Chores, er geht bis zur Höhe des Arkadengesimses; der Rahmen ist dem Verlauf der Bänder über der Arkade angepasst. Der Lettner von 1475 (Lombardo-Werkstatt) war für Tizian ein vorgegebener Sachverhalt. Seine Bogenöffnung lieferte einen szenographischen Rahmen für den Altar. Das arabeskenförmige Ornament des Lettners wiederholt sich im Altarrahmen: Etablierung einer eigenen visuellen Beziehung. Darüber hinaus existieren auffällige ikonographische Interaktionen zwischen Lettner und Hochaltar. Auch dies ist eine Form struktureller Kopplung zwischen System und Umwelt. Siehe hierzu vor allem David Rosand: Painting in Cinquecento Venice. Titian, Veronese, Tintoretto. New Haven and London 1982, S.55-58



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