Hans Dieter Huber
"Es müssen im Grunde die Grenzen aufgestoßen werden"
Ein Gespräch mit Ansgar Nierhoff am 16.9.94 in Köln-Rodenkirchen

(veröffentlicht in: Dokumentation Klasse Ansgar Nierhoff I, Mainz 1995, o. S.)


H.D.H.: Herr Nierhoff, Sie sind vor sechs Jahren als Professor für Bildhauerei nach Mainz an die Hochschule berufen worden. Was war für Sie ein Grund, an die Universität zu gehen?
A.N.: Im Grunde habe ich mir für meine Lehrtätigkeit nichts anderes vorgestellt, als das, was nach meinem eigenen Erleben gute Lehrer an künstlerischen Hochschulen gemacht haben. Ich nenne nun einmal welche, die ich kennengelernt habe, die ich selbst als Lehrer genossen habe, oder durch die ich erfahren habe, wie man mit jüngeren Künstlern vielleicht umgehen und arbeiten sollte. Da sind meine eigenen Lehrer, Norbert Kricke, Josef Faßbender und Eduard Trier zu nennen und dann solche, die ich später kennengelernt habe, wie Erwin Heerich, Hermann Wiesler, Robert Kudielka, Künstler oder Kunstwissenschaftler, mit denen ich mich darüber unterhalten habe, was ein Lehrer an einer Akademie tun könnte. Weniger Josef Beuys, weniger Dieter Roth, die ich als Künstler sehr schätze, aber wo ich - als sie Lehrer waren - Bedenken hatte, wie sie das machten, wenngleich viele junge Künstler mit ihnen gut gefahren sind. Ich habe selbst eine Unterscheidung gemacht: Also mir haben eher die eingeleuchtet, die weniger von sich selbst sprachen, stattdessen die Studenten und Schüler kommen ließen.
H.D.H: Sie haben also in Bezug auf ihre eigenen Lehrer positive Erfahrungen gemacht. Wie versuchen Sie nun selbst, diese positiven Erfahrungen an Ihre Schüler weiterzugeben?
A.N.: Als Summe meiner Erfahrungen. Aber die, die ich als gute Beispiele genannt habe, unterscheiden sich doch sehr. Daraus ist bei mir selber ein gewisser Mix entstanden. Der besteht aus meinen Erfahrungen mit meinen Lehrern, den Erkenntnissen eigenverantworteter Arbeit, Ausstellungstätigkeit im Anschluß an mein Studium, den Begegnungen und Auseinandersetzungen mit anderen Künstlern und allen, die erkennbar an meiner Arbeit beteiligt waren, sowie längeren Gesprächen besonders mit Erwin Heerich über die Möglichkeit, als Künstler Lehrer für andere Künstler zu sein. Das Entscheidende ist natürlich herauszufinden: was wollen die Studenten, für deren Dasein und Fortkommen an der Akademie ich zuständig bin, oder für deren Ablehnung ich prüfungsbedingt zuständig bin. Wie gehe ich mit ihnen um? Wenn sie da sind oder es kommen andere, die ich gar nicht zugelassen habe zu mir in meine Klasse, setzt das ja immer wieder voraus, daß wir zu einem Verhältnis gelangen, was letztendlich die Fähigkeiten, die Qualitäten, die Persönlichkeit, den Charakter des jeweiligen Studenten fördert und fordert; in dem Rahmen, der mir dazu in der begrenzten Zeit möglich ist.
H.D.H.: Wie bauen Sie ein solches Verhältnis zu ihren Schülern auf, oder woran erkennen Sie, daß sich ein möglicherweise positives Verhältnis entwickeln könnte?
A.N.: Das Thema der Zusammenarbeit ist - wie sollte es anders sein - die künstlerische Arbeit; das, was jemand hervorbringt. Aber das, was jemand macht, indem er malt, fotografiert, bildhauert oder sonstige künstlerische Ausdrucksweisen anwendet, kann ja noch nicht alles sein oder gewesen sein, sondern wir müssen darüber sprechen. Das Gespräch findet zwischen zweien oder in der Gruppe statt. Ich forciere und bevorzuge die Gespräche im Klassenplenum.
H.D.H.: Wie läuft so ein Klassenplenum ab? Gibt es da feste Termine, oder ergibt sich das aus einer inneren Dynamik der Arbeit, daß man beispielsweise sagt, gut jetzt haben wir den Wunsch, wir wollen darüber sprechen, oder haben Sie feste Termine?
A.N.: Erstens gibt es verlässliche Daten, zu denen ich da bin: An zwei Tagen in der Woche bin ich regelmäßig seit sechs Jahren für jeden in der Klasse da, aber auch für alle anderen sonst anfallenden Aufgaben. Und es ergeben sich weitere Möglichkeiten, die nach besonderer Vereinbarung sowieso stattfinden. Nicht die Häufung der Gespräche ist meines Erachtens entscheidend, sondern eher, daß es die Möglichkeit und feste Zeiten dazu gibt. Der Anlaß ist durchweg ein künstlerisches Vorhaben, oder die begonnene oder vor dem Abschluß stehende Arbeit. Wenn ich diese Arbeit zur Grundlage nehme, muß ich auch darauf warten können, daß er oder sie etwas gemacht hat. Und wenn er/sie einmal eine schlappe Phase hat, dann muß er/sie die auch haben können und muß auch für sich - unabhängig von den organisatorischen Vorgaben - sich sogar während eines Semesters eine schlappe Phase leisten dürfen, ohne daß er/sie deshalb von mir gefeuert würde. Wenn dieses Gespräch nun stattfindet, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Dazu gehört: Es besteht keine Eile; alle Teilnehmer liefern wahrhaftige Beiträge. Da es um Unfertiges geht und der Grundsatz gilt, zu helfen, stelle ich, soweit das möglich ist, Vertraulichkeit sicher - das leuchtet ein, das geht nur in einer Klasse. Es muß sich jemand diesem Plenum offenbaren können mit aller Subjektivität, mit der ganzen Unsicherheit, ohne Schaden zu nehmen. Das Verhältnis zwischen Sprache und bildnerischen Ergebnissen ist auch die Grundlage einer Beurteilung, Empfehlung und weiteren Bestärkung des eingeschlagenen Weges oder dessen scharfer Kritik. Dazwischen spielt sich alles ab. Und jeder, der seine Arbeiten zeigt, oder der, der sie beurteilt, ist in allerhöchstem Maße mit all seinen Fähigkeiten, seiner Sensibilität, seiner Kenntnis und seiner Erfahrung gefordert, an diesem Gespräch waghalsig teilzunehmen. D.h., wir unterhalten uns nicht über die Dinge, die zum "Eingemachten" gehören, sondern wir versuchen herauszufinden, was ist an dem, was jemand tut, was unbedingt getan werden muß, bzw. wie kann - das ist dann häufig auch meine Strategie im Hinterkopf - wie kann ich jemanden dazu bringen, zu sich selbst zu finden? Was ist das, was er herausfinden will? Denn sonst wäre er ja nicht bei mir, sonst könnte er ja seine künstlerische Arbeit selbständig machen, ohne Kritik herauszufordern, ohne selber Beschreibungen einzuliefern, selber Analysen zu versuchen, oder sie von anderen machen zu lassen.
H.D.H.: Man spricht in der Systemtheorie davon, daß ein Beobachter, der einen anderen beobachtet, den blinden Fleck des Anderen erkennen kann, in dem Sinne, ich sehe etwas, was du nicht siehst. Spielt so etwas in ihrem Klassenplenum eine Rolle?
A.N.: Das spielt auch eine Rolle. Denn erst einmal handelt es sich um eine positive Darstellung dessen, was jemand gemacht hat. Der wird nicht von dem reden, was fehlt oder ein Fehler ist, selbstverständlich, denn das widerspräche der Frage. Er wird von dem sprechen, was er sich gedacht hat , was er damit beabsichtigt, wie er das von anderem absetzt, was er erforschen will, was sein Problem ist, wie er es im Verhältnis zu anderen Gattungen der Kunst sieht, usw. Das erste Wort in unserem Plenum hat immer der, der etwas gemacht hat. Das zweite Wort haben die, die etwas daran unschlüssig finden.
H.D.H: Die Kritiker?
A.N.: Ja, den Vorzug vor dem Lehrer haben dann immer die Kommilitonen. Ich bin der letzte, der eingreift, d.h., ich muß lediglich höllisch aufpassen, daß da nichts abläuft, was meiner Aufmerksamkeit entginge. So sehe ich mich selber jedenfalls dabei. Ich habe eine Moderatorenfunktion, zunächst einmal. Dann habe ich allerdings die Aufgabe, wenn bei diesen Erwägungen und Kritiken der Kommilitonen im Verhältnis zur Beschreibung und Analyse des Künstlers selber eigentlich noch zu wenig herausgekommen ist oder manches noch nicht angesprochen ist, dann auf Punkte zu verweisen oder hinzuführen, die noch nicht erörtert wurden. Das kann auch dazu führen, daß ich weit aushole und erst einmal einen Hintergrund dafür zu schaffen versuche, in dem ich auf kunsthistorische Ereignisse, auf andere zeitgenössische Kontexte, auf sonstige Belange verweise, von denen ich annehmen muß, daß zumindestens die wesentlich jüngeren als ich das so gar nicht wissen können. Denn man muß zu einem Teil manches miterlebt haben, um es dann auch als eine Erfahrung einbringen zu können. Wobei ich dann wieder bei der Erfahrung bin, die natürlich wesentlich ist für einen künstlerischen Lehrer. Wenn ein künstlerischer Lehrer nicht intensiv als Künstler im Atelier gearbeitet hat, nicht veröffentlicht hat, und das alles nicht kennt, was auch auf junge Künstler zukommt, wird er auch nicht imstande sein, mit jungen Künstlern wiederum sehr fruchtbringend zusammenzuarbeiten, nämlich sie einerseits zu einer guten Kritikfähigkeit anzuregen und ihnen andererseits auch eine hohes Maß an Toleranz im Gespräch mitzugeben, die sie doch tunlichst pflegen sollten im Umgang mit den Kunstwerken anderer.
H.D.H.: Jetzt ist es aber so, daß jeder Mensch anders ist, daß jeder Mensch andere Erfahrungen gemacht hat. Für mich stellt sich daher die Frage, inwieweit können Sie ihre eigenen Erfahrungen als Bildhauer, die Sie in Ihrem Leben gemacht haben, auf eine andere Generation übertragen, die doch fast ein halbes Menschenalter jünger ist?
A.N.: Die Studenten in meiner Klasse sind sogar noch mehr als eine Generation jünger als ich. Da sind also große Distanzen da. Und manchmal muß ich auch nachfragen, weil ich Bestimmtes gar nicht verstanden habe, weil meine Sprache unter Umständen antiquiert ist, ich bestimmte Slogans nicht mitbekomme, weil die mich nicht interessieren. Ich will es einmal so formulieren: Ich habe in den Jahren seit 1968 -1988 - das sind satte zwanzig Jahre - den Versuch gemacht, nicht so völlig von der Rolle zu kommen im Verhältnis zu jüngeren Künstlern. Ich war also durchaus vertraut mit Problemstellungen aus den Veröffentlichungen anderer, etwas jüngerer Künstler als ich. Die Distanz, dieser Altersunterschied wurde zwar größer, aber ich habe den Kontakt nicht verloren. Sei es, daß ich mit Künstlern jüngeren Alters in Symposien oder z.B. in der Villa Romana oder in Gruppenausstellungen oder beim Deutschen Künstlerbund kooperiert habe, Gespräche geführt habe, so daß der Faden nicht abriß. Dazu boten sich auch Gelegenheiten bei Jurys und Ausstellungen für die "Jungen". Ich glaube, dieses Bedürfnis haben alle Künstler. Keiner macht etwas, um es dann in der Ecke vergammeln zu lassen, sondern jeder möchte mit seiner Arbeit zur Kommunikation beitragen. Jeder leistet seine Beiträge. Es ist nicht nur eine Selbsterfahrung und Befriedigung, was man tut. Auf die Fragestellungen, die man selber ausposaunt, möchte man Antworten bekommen. Dadurch ergibt sich auch die Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben, damit die Distanz nicht zu groß wird. Wenn ich das auf die Studenten in der Klasse übertrage, nehme ich die von vorneherein so ernst wie alle anderen Künstler auch. Ich glaube zunächst einmal alles. Es sei denn, ich werde durch ganz bestimmte Passagen bei Gesprächen irritiert oder durch bestimmte Details der Erscheinungsformen kommen Zweifel. Dann frage ich nach. Man hat bald heraus, aus welchem Antrieb jemand etwas tut. Und insofern ist nicht die Frage, ob ich Anfang Fünfzig bin und der Student Anfang Zwanzig oder Mitte Zwanzig. Denn die dreißig Jahre müssen unter Umständen gar nichts bedeuten. Es kann eine hohe Weisheit bei einem Zwanzigjährigen da sein und bei mir absolute Unbeholfenheit. Es kann auch umgekehrt sein. Also, man muß das herausfinden. Insofern spielen natürlich auch Sympathien eine Rolle mit, die man füreinander hat oder für bestimmte Erscheinungsformen von Kunstwerken, den Handlungsergebnissen. Es kann also durchaus sein, daß man bestimmte Dinge einfach nicht abkann, und mit denen kann man dann auch nur schwer kritisch umgehen. Aber das will ich mal zum Sonderfall erklären. In aller Regel bin ich imstande, über Dinge, die zunächst einmal materiell konkret und vorhanden sind, oder auch als Illusion da sind, erst einmal sachlich zu sprechen. Und man kommt dann schon in ein Curriculum der Gedanken, der Erwägungen, usw., um das zum Gegenstand weiterer Erörterung und einer wesenhaften Kommunikation zu machen.
H.D.H.: Lernen Sie von Ihren Schülern genauso viel wie die Schüler von Ihnen?
A.N.: Ich lerne in jedem Falle von meinen Schülern. Ich bin auch in der kurzen Zeit, die ich als Lehrer tätig bin, sehr viel toleranter geworden. Ich habe am Anfang eher mal "zugeschlagen". Wenn ich etwas als Pappkameraden oder sonst offensichtlich Oberflächliches irgendwas erkannte, habe ich gesagt, so nicht, und habe das auch entsprechend gewürdigt. Und da konnten die verschiedenen Typen von Studenten nicht gleich gut mit umgehen, und manche hat das wirklich zermürbt. Ich habe mich dann bemüht, das wieder einzurenken, wenn das eine "lebensgefährliche Verletzung" war. Andere können einfach solche harten, zutreffenden Kritiken wegstecken. Inzwischen bin ich eher der Auffassung, daß das kaum weiterhilft oder aufbaut. Es bringt mich in zu große Konflikte, weil ich mit der "Reparatur" zu viel zu tun habe. Andererseits hat der einen hohen Kräfteverlust, der so bescholten wurde bzw. der auch so decouvriert wurde. Es ist und bleibt meine Aufgabe, Schwächen aufzuzeigen. Aber das sollte trotz großer Vertrautheit im Umgang miteinander behutsam geschehen. Seit ich da zweimal ein bißchen zu hart vorgegangen war, mache ich das angemessen und das erweist sich als gut.
H.D.H.: Wenn Sie an der Arbeit eines Studenten erkennen, daß diese Arbeit eigentlich sehr schwach ist, oder daß sie eigentlich als künstlerische Arbeit nicht stimmt, wie gehen Sie dann damit um?
A.N.: Ich bemühe mich, von mir aus nicht zu sagen, daß sie schwach ist, sondern den, der sie gemacht hat, der sie vorstellt, von sich aus darauf kommen zu lassen, so daß er - falls möglich - zu was Besserem in der Lage wäre. Es geht ja nicht darum, jemanden wegzufegen. Das ist nicht meine Aufgabe. Jeder muß es letztenendes doch selbst erkennen, ob er imstande ist, den schweren Weg, den Künstler in guten und in schlechten Zeiten vor sich haben, diesen schweren Weg auch zu begehen. Und das kann nur dadurch passieren, daß der Künstler kritisch ist und gestärkt wird. Nur dann ist er dazu überhaupt in der Lage den Weg zu gehen. Ob er sein hohes Ziel erreicht, ist noch eine ganz andere, aber auch nicht von mir zu verantwortende Geschichte. Da sind so viele Anfeindungen, die zeitlebens auf jemanden warten, daß er nicht meine noch dazu gebraucht. Ich habe eigentlich eine ausschließliche Subventionierungsaufgabe, die darin besteht, daß ich erstens die Fähigkeiten herauskitzle, die Kritikfähigkeit fördere und vor allen Dingen die Beurteilungsfähigkeit gegenüber der eigenen Arbeit stärke. Also nicht nur im Verhältnis zu anderen, denn jedes Kunstwerk ist ein neues und unterscheidet sich von jedem anderen Kunstwerk, von dem eigenen und von denen, die andere machen, immer wesentlich - selbst wenn alles aufeinander basiert und nichts ohne das andere denkbar wäre.
H.D.H.: Können Sie konkrete Beispiele oder Regeln angeben, wie Sie im Gespräch mit Ihren Schülern diese Kritik- oder Urteilsfähigkeit schärfen?
A.N.: Wenn ich das genau festlegen könnte, müßte ich ja dazu das erste Lehrbuch über das Lernen von Bildender Kunst schreiben.
H.D.H: Genau das wäre hochinteressant!
A.N.: Das würde ich mir nicht zutrauen. Ich kenne auch noch keines. Aber ich glaube, daß es immer wieder gute Lehrer gegeben hat, die durch den Beweis bzw. den Nachweis ihrer eigenen Arbeit, durch die Gespräche, die sie mit anderen geführt haben, aus der Situation heraus offen und ehrlich mit hohem Verantwortungsgefühl wiederum die Studenten befähigt haben, daß die ihre Arbeit entsprechend kritisch sehen und auch ein Verhältnis zu anderen Kunstwerken haben, usw. Ich würde es nicht in feste Regeln schreiben können, wie man das macht, sondern das muß das jeweilige Gespräch, die Situation und Konstellation ergeben. Ich glaube, es ist ein je neuer und je eigener Prozeß, der zwischem einem Lehrer und einem Künstler in diesem Verhältnis entsteht und der den Schüler gezielt befähigt. Es gibt ja Künstler, die ohne Lehrer ausgekommen sind, ohne künstlerischen Lehrer an Hochschulen, die als Autodidakten zu bedeutenden Künstlern geworden sind. Oder die Geschichte bzw. Öffentlichkeit hat sie zu bedeutenden Künstlern gemacht, wobei wir darüber streiten könnten, wann etwas bedeutend ist. Es gibt da keine festzuschreibende Regel. Und das ist auch der Grund dafür, aus meiner Sicht immer noch in Zweifel zu ziehen, ob es sinnvoll ist, diese künstlerische Ausbildung in der Universität zu halten. Einfach weil die Bedingungen des künstlerischen Studiums gänzlich anders sind als in allen anderen Studiengebieten. Alle anderen Fakultäten haben nämlich ein Regelkorsett - und das mit Fug und Recht. Ob die Mathematiker, die Sprachwissenschaftler, die Physiker oder die Mediziner: Da ist eine viel stärkere Verschulung möglich und auch vorhanden. Der Konflikt taucht ja schon bei uns im Bereich der "Ausbildung" von Künstlern und Kunstlehrern auf. Wie soll eigentlich die umfassende Kenntnis und Fähigkeit des jungen Künstlers gleichermaßen so trainiert und geschult werden, daß sie beispielsweise für den Lehrerberuf am Gymnasium tauglich macht? Das ist ein bleibender Konflikt. Daß jemand lernt, Steine zu schlagen, Gips zu gießen, mit Ton zu modellieren und technische Fähigkeiten zu erwerben, sagt überhaupt nichts über sein künstlerisches Vermögen, über die dazu erforderlichen kreativen und charakterlichen Fähigkeiten aus. Aber deshalb Lehrer sein? Und dieser Konflikt bleibt uns erhalten. Man kann natürlich sagen, es ist sinnvoll, ein Fundament von Fertigkeiten und technischen Fähigkeiten zu haben und zu besitzen. Und wenn einer ein Feeling hat, sind diese Fähigkeiten auch übertragbar in andere Bereiche, die da hinzukämen. Aber das Bauhaus lehrt auch und die Immer-wieder-Belebungsversuche der Bauhausidee beweisen es bis heute, daß Regelwerke nicht funktionieren, sondern daß zu allen Zeiten aufgrund der Komplexität, auch des für den Künstler erkennbaren Hintergrundes, alle Fähigkeiten gleichzeitig gefördert und vorhanden sein müssen. Und eine gute Mischung daraus führt dann hin und wieder zu markanten künstlerischen Persönlichkeiten, auch zu Lehrerpersönlichkeiten. Für die künstlerischen Lehrer gilt, daß sie Künstler sein müssen. Ich will nicht sagen, überragende Künstler im täglichen Geschäft und der veröffentlichten Meinung. Aber sie müssen die Erfahrung z.B. des Ausstellungsbetriebes gemacht haben. Sie sollten die Erfahrung der Kooperation mit anderen Künstlern gemacht haben, mit anderen Künstlern in Kontakt stehen. Ich glaube nicht, daß Künstler isoliert ihr Dasein führen können und dann gute Lehrer für junge Künstler sein können.
H.D.H.: Otto Dix hat einmal auf den Vorwurf, daß seine Bilder Sünde seien, erwidert, um zu wissen, was Sünde ist, müsse man sie erst begangen haben, die Erfahrung selbst gemacht haben.
A.N.: Das kann ich mit meinen Erklärungen und Erläuterungen überhaupt nicht überbieten. Das ist so viel Wahrheit! Die spürt doch jeder, diese Wahrheit. Man muß es erst gemacht haben, um es unter Umständen als eine Erkenntnis auch in anderen Kontexten wieder gebrauchen zu können. Das ist so. Nicht etwa, daß man alles gemacht haben müßte, was man malt! Mal abgesehen davon, daß ich mich ja mit der Darstellung von Gemachtem gar nicht befasse: Ich mache etwas. Das ist ja schon der Unterschied. Aber meine eigene Arbeit spielt im Verhältnis, das ich zu jungen Künstlern als Lehrer aufnehme, eine nachgeordnete Rolle. Das ist zwar immer mein Hintergrund, den ich aber nicht reklamehaft hervorzerre, um ihn anderen aufzudrücken. Es gibt solche Lehrer, die sagen, ihr lernt erst einmal zu malen wie ich und dann könnt ihr wiederkommen. Das meine ich überhaupt nicht. Ich nehme die Jungen von vorneherein ernst, wenn ich eine praktische oder technische Fähigkeit, eine intellektuelle Fähigkeit und Redlichkeit erkenne und auch eine Intensität vermuten darf, - die ist mir ganz wichtig. Dann ist mir das Grundlage genug, mit einem solchen Studenten eine Kooperation einzugehen.
H.D.H.: Als ich Ihre Schüler kennengelernt habe, war ich sehr überrascht, daß sie alle völlig anders arbeiten als Sie selbst. Und ich hätte mir das bei einem so dominanten Künstler eigentlich nicht erwartet. Ich finde das aber sehr überzeugend. Liegt das daran, daß zu Ihnen keine Studenten kommen, die - sagen wir einmal - in Metall oder in Stahl bzw. in klassischen bildhauerischen Techniken arbeiten, oder liegt das einfach an der heutigen Zeit, daß die jungen Künstler so anders arbeiten wie ihr Lehrer?
A.N.: Ich mache die Aufnahme in die Klasse nicht davon abhängig, in welchem Material, in welcher Technik oder in welchem Medium ein Künstler arbeitet. Für mich ist entscheidend, ob ich eben diese intellektuelle Fähigkeit, eine Intensität und auch die Fähigkeit zu einer Kommunikation vermuten kann, die in der Klasse ganz einfach da sein muß. Denn das Plenum soll ja mehr sein, als die Zwiesprache anderenfalls erbrächte sie keinen Mehrwert. Hier soll die Selbstdarstellungsfähigkeit des Künstlers gestärkt werden. Wenn diese frühzeitig und häufig eingefordert wird, als Aufgabe begriffen wird, dann tut er sich im Ernstfall damit leichter. Und Künstler können nicht anders existieren, als dadurch, daß sie das, was sie malen, zeichnen, bildhauern, filmen, fotografieren, auch zeigen. Und wenn der Adressat auch nur der Galerist, der Kritiker oder die Museumsdirektorin ist. Sie müssen es zeigen. Es geht nicht anders, denn sonst wird es niemand kennen können. Daß die Studenten in anderen Medien arbeiten als ich selber, will ich zu einem Teil Zeiterscheinungen und Moden zuschreiben. Aber selbst im Video und im Foto gelten dramaturgische, kompositorische, technische und strategische Regeln, die auch in der Bildhauerei gelten. Insofern macht das keinen Unterschied. Ich sehe da kein Problem auf mich zukommen, außer: Alles befaßt sich nur mit der Technik. Da bin ich ein unfähiger Mensch, und diese elektronische Technik werde ich auch nicht aufnehmen in mein eigenes Repertoire. Sondern ich will den Fotos ansehen, ob sie interessant sind, ob sie etwas zeigen von dem, was jemand will und ob sie wahrhaftig sind. Und wenn ich das so abbuchen kann, dann lohnt es sich darüber zu reden. Was auf längere Sicht dabei herauskommt, muß man sehen. Das wird sich zeigen in Gesprächen mit dem Künstler, mit dem Studenten, ob das tragfähig ist. Wenn sich jemand mit Holzkonstruktionen, mit Eisenplastik oder mit Hauen in Stein befaßt, möchte ich erkennen, daß er weiß, in welchem Umfeld er sich bewegt. Sonst habe ich es ihm zu nennen. Das ist dann meine Aufgabe. Diesen Vorsprung vor ihm muß ich eigentlich immer haben, zumindestens solange, wie er noch "im Hause ist". Er kann dann schon einiges mehr wissen, das ist nicht das Problem. Aber die Einbettung in die verschiedensten Kontexte, die muß sichergestsellt sein, dafür trage ich Sorge. Oder: wenn ich nicht versiert genug bin, hole ich mir Rat von entsprechenden Fachleuten. Den möchte ich immer gerne hinzuziehen. Ich habe Versuche gemacht, Kunstwissenschaftler mit hinzuzuziehen. Das macht sich besonders bemerkbar auf Studienreisen, die ich für unabdingbar halte. In Mainz sind sie erforderlicher als irgendwo sonst in einer Stadt. Denn in Mainz passiert ja fast gar nichts mit der Bildenden Kunst, weder im Museum noch sonst irgendwo. Und die Kritik in den Zeitungen ist sozusagen gleich null, wenn man nicht überregionale Zeitungen liest. Es ist also erforderlich, Studienreisen zu machen, und zwar kleinere zu den aktuellen Ausstellungen, aber auch größere. Dadurch wird besonders der Klassenzusammenhalt gefördert bei den unterschiedlichsten Unternehmungen, nämlich Künstler oder Museen zu besuchen, die Architektur zu sehen.
H.D.H: Was sehen Sie als das wesentliche Ziel solcher Studienreisen? Was sollen die Studierenden dort lernen?
A.N.: Es reicht nicht aus, sich mit seinen eigenen Formhandlungen zu befassen, sondern das alles ist in Kontexten zu sehen. Wir leben auch sonst nicht isoliert. Die zeitgenössische Kunst und die angrenzenden Wissenschaften, die von großem Interesse sind, vor allem natürlich die Kulturwissenschaften, sind in Mainz nicht in dem Maße abrufbar, wie es ein Bildender Künstler braucht. Diese Kenntnisse auszubilden, ist meine Aufgabe. Wenn ich merke, daß Defizite da sind, habe ich die Aufgabe, Reisen zu organisieren, in entsprechende oder vermutete Zentren. Diese Reisen haben wir gemacht. Wir waren u.a. in Berlin, in Leipzig, in Wien, in Venedig, in Florenz oder haben eine Industriebetriebe-Reise mit Besuchen bei Künstlern verbunden. Alles das ist geschehen, so daß Anstöße und Horizonterweiterung da sind, damit man nicht aus einer Provinzialität heraus meint, das sei es schon gewesen; sondern: es müssen im Grunde die Grenzen aufgestoßen werden, um die Freizügigkeit, die Aufnahmefähigkeit und auch die Relativität des eigenen Handelns gut zu erkennen, und sich diese auch zum Maßstab der eigenen Arbeit zu machen. Selbstherrlichkeit ist kein guter Berater für einen Künstler. Der muß offen sein für viele andere Leistungen, Erkenntnisse, Erfahrungen Er muß für Kommunikation offen und fähig werden und sein, so daß er das dann in seine eigene Arbeit einfließen läßt, und nicht von einer dummen und intoleranten Ebene her meint, er sei das Genie.
H.D.H: Fördert die Studienreise also von der einen Seite hergesehen die Toleranz und das Verständnis für das Andere, für das Fremde und gleichzeitig auch den Anspruch an die eigene Arbeit, es sozusagen nicht in einer provinziellen Selbstbeweihräucherung bewenden zu lassen, sondern sie immer an den qualitätsvollsten Werken der Geschichte der Kunst zu messen?
A.N.: Exakt. Das haben die Studienreisen gezeigt: Darüberhinaus sind Kontakte mit bestimmten Klassen anderer Hochschulen vorgesehen. Ich vermute, daß deren Lehrer entsprechend arbeiten, und deshalb denke ich, kann man eine Menge lernen, wenn man diese Kooperationsformen oder auch Ausstellungsversuche und ähnliche Formen der Zusammenarbeit mit anderen sucht.
H.D.H: Sie haben relativ wenige Schüler. Woran liegt das? Wählen Sie so streng aus, oder trauen sich die Studenten einfach nicht zu Ihnen?
A.N.: Ich habe das letztere gehört, daß es solche Studenten geben soll, die sich nicht zu mir trauen. Ich weiß nicht, warum die sich nicht trauen. Wenn sie kommunikationsunfähig sind oder gehalten worden sind oder es geworden sein sollten, dann ist das nicht mein Fehler, sondern dann hat das vielleicht mit anderen Vorstellungen von der "Lehre" eines Kunstprofessors zu tun. Nein, ich habe auch, glaube ich, nicht zu strenge Maßstäbe. Ich glaube nicht, daß die Zahl von sechs, sieben, acht Studenten - das ist etwa die mittlere Zahl in meiner Klasse - gering ist. Ich kenne eigentlich nur künstlerische Hochschulen, sei es in Wien z.B. Avramides, den wir besucht haben, oder in Berlin z.B. Rolf Szymansiki oder Michael Schoenholtz, oder entsprechende in Düsseldorf. Die haben in ihrer Klasse - Klasse, das ist eine enge Gruppe mit zugehörigen, entsprechenden Arbeitsräumen - nie mehr Schüler gehabt. Ich selber stamme aus einer Klasse bei Kricke mit fünf Studenten zur gleichen Zeit. Bei Faßbender waren es dann etwas mehr, zwölf, weil der ja auch viele Graphiker dabei hatte. Aber wenn diese fünf oder acht Studenten, oder vielleicht zehn intensiv arbeiten und das auch zum Teil damit zusammenhängt, daß der Lehrer diese Intensität mit den Schülern sucht, dann finde ich das mehr als angemessen. Denn das ist verantwortbar. Ich halte nichts von diesen riesen Schülerzahlen, nur um bei jemand studiert zu haben, ich verweise auf J. Beuys mit seinen ca. 200 Schülern. Erwin Heerich hatte, soweit ich das weiß, eigentlich nie mehr als zwischen fünf und fünfzehn Leuten. Beim Bildhauer sind eigentlich nie so viele Studenten gewesen.
H.D.H: Stellen Sie sich in einem Gedankenexperiment einmal vor, Sie hätten dreißig Schüler. Was würde sich dann in Ihrem Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler ändern?
A.N.: Ich habe mir das wegen eines konkreten Beispiels, das als Aufgabe auf mich zuzukommen schien, überlegt. Da ging es nicht um dreißig, da ging es gleich um sechzig Schüler/Studenten, die ich betreuen sollte. Aber es war mir klar, daß das völlig anders aussehen würde. Daß ein Maß an intensivem Kontakt zwischen dem einzelnen Studenten und mir auch noch gegeben sein könnte, aber in hohem Maße geringer als das jetzt der Fall ist. Und hinzu kam auch, daß mir in dem Falle vier Assistenten zur Verfügung gestanden hätten, die - wenn ich das boshaft formuliere - im Grunde erst einmal die Grobarbeit gemacht hätten. Es wäre also vorab geklärt worden: was soll sein. Es wäre also eine organisierte Studienplanung erforderlich gewesen, die sich - wenn man es negativ ausdrückt - möglicherweise in einer gewissen Aufgabenstellung ausgedrückt hätte und wenn man es positiv sieht - bei hoher Intensität und Bereitschaft zur Zusammenarbeit - auch von Vorteil eben für Sechzig gewesen wäre. Aber es ist ein theoretisches Beispiel geblieben, weil ich diesen Ruf letztenendes nicht erhalten habe und weil auch noch andere Forderungen im Raum standen. Aber ich habe mich mit dem Gedanken befaßt. Mir war nicht ganz wohl dabei. Ich hätte es in Erfahrung bringen müssen.
H.D.H.: Wie ist das, wenn Ihre Schüler das Studium beendet haben, wenn sie ihr Diplom haben und danach als freie Künstler starten? Haben Sie dann noch Kontakt, unterstützen Sie Ihre Schüler auch noch nach ihrem Studium?
A.N.: Das mit dem Diplom halte ich für eine segensreiche Erfindung der Ende sechziger, Anfang siebziger Jahre, weil damit Künstler, die bis dato überhaupt keine Abschlüsse an künstlerischen Hochschulen machten, wenigsten für den Fall, daß sie nicht von dem Verkauf ihrer Arbeiten leben konnten, einen Anspruch hatten auf angemessene Bezahlung im öffentlichen Dienst. Ob dieses eintritt, ist eine andere Frage. Bei mir werden bislang alle mit dem bestandenen Diplom entlassen. Sie werden, wenn ich sie für besonders geeignet halte, im Sinne des Vertiefungsstudiums bei mir Meisterschüler. Insofern ist hier noch eine Intensivierung der Betreuung gegeben und die Möglichkeit, verstärkt eigenen Arbeiten nachzugehen. Und wenn sie dann, möglichst mit Meisterschülerzeugnis die Universität Mainz verlassen, vielleicht auch Mainz insgesamt, wie schon mehrere aus meiner Klasse, dann ist mir der Kontakt zu diesen jungen Künstlern auf Dauer sehr wichtig. Und bis jetzt habe ich noch zu allen, die je in meiner Klasse waren, einen guten Kontakt. Hin und wieder werde ich in Jurys für größere Ausstellungen oder Preisvergaben gewählt. Dann habe ich immer noch entsprechende Vorschläge zu machen oder kann auf bestimmte andere Weise diese jungen Künstler weiter fördern. Denn Förderung braucht jeder. Ob die nun durch den Lehrer erfolgt oder ob das Kritiker, Galeristen, Sammler tun, das ist eine andere Frage. Junge Leute hängen aus dem Glauben an ihre Arbeit dem Gedanken an, alle Leute müßten sich glücklich schätzen, wenn sie ein Werk von diesem jungen Künstler hätten. So ist das Leben ja leider nicht. Es ist viel prosaischer. Die meisten haben doch erhebliche Schwierigkeiten. Hier und da kann ich helfen oder beraten und bleibe selbst sehr gern in gutem Kontakt mit den "Ehemaligen".



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