Hans Dieter Huber

Visuelle Performativität


First Installation: 18.12.2004 Last Update: 18.12.2004


erschienen in: Hans Dieter Huber, Bettina Lockemann, Michael Scheibel: Visuelle Netze. Wissenräume in der Kunst. Ostfildern-Ruit: HatjeCantz Verlag 2004, S. 31-38

Was ist visuelle Kompetenz?

Bei dem Begriff der Kompetenz handelt es sich um einen theoretischen, unbeobachtbaren Terminus im Rahmen einer bestimmten Theorie der Kompetenz.1 Während Kompetenz die Zuschreibung einer bestimmten Eigenschaft an eine Person durch einen Beobachter zweiter Ordnung darstellt, bezieht sich der Gegenbegriff Performanz dagegen auf öffentlich wahrnehmbares Verhalten.2 Die entscheidende Frage lautet aber in unserem Zusammenhang, ob es eine spezifische Eigenschaft gibt, an der wir erkennen können, dass wir hier eine besondere Kompetenz vorliegen haben, nämlich die Spezialform einer „visuellen" Kompetenz, was immer darunter zu verstehen sein wird. Diese Sonderform müsste man definieren oder zu mindestens den Versuch wagen, zu definieren, was unter dem Adjektiv "visuell" im Zusammenhang mit Kompetenz zu verstehen sein soll. Als eine erste Definition soll hier an dieser Stelle genügen, dass mit visueller Kompetenz alle Formen der Bildproduktion, -distribution und -rezeption verstanden werden, die mit Hilfe des menschlichen Sehvorgangs oder anderer Medien erzeugt, organisiert und verbreitet werden.3

Der Begriff des Beobachters

Bei Kompetenzen handelt es sich nicht um fest definierbare Eigenschaften bestimmter Fähigkeiten, sondern um einen sozialen Beobachtungs-, Bewertungs- und Zuschreibungsprozess. In diesem Prozess sind gleichermaßen die syntaktischen wie die semantischen Netzwerke der Sprachorganisation beteiligt. Die Unterscheidung zwischen Kompetenz und Inkompetenz ist also eine Differenz, welche in bestimmten sozialen Situationen auf bestimmte Personen oder Personengruppen angewendet wird. Durch den sozialen Kontext der Attribution wird die Unterscheidung Kompetenz/Inkompetenz zu einem ideologisch aufgeladenen Konzept unserer Kultur. Wenn wir von Kompetenz/Inkompetenz sprechen, ist damit noch keine spezifische Referenz in einem besonderen Gebiet des Handelns angegeben, in dem jemand - durch die Zuschreibung eines Beobachters - kompetent oder inkompetent operiert. Die Zu- oder Abschreibung von Kompetenz/Inkompetenz ist vom jeweiligen Beobachter und dessen Beurteilung abhängig.

Der Begriff der visuellen Kompetenz

Wenn man nun nach dem Begriff der visuellen Kompetenz fragt, ist es notwendig, auf verschiedene Verwendungszusammenhänge oder Kontexte des Begriffes hinzuweisen. Ich möchte diese Differenzen in einigen Thesen veranschaulichen:

1. Der Begriff der Kompetenz ist ein Begriff, der auf verschiedene Art und Weise entweder Personen oder sozialen Systemen zugesprochen wird. Von einer kompetenten Maschine zu sprechen, ergibt gegenwärtig wenig Sinn. Es handelt sich um einen Urteilsbegriff, der in verschiedenen Situationen von verschiedenen Sprechern auf verschiedene Personen oder Systeme angewandt wird. Die Zuschreibung von Kompetenz oder Inkompetenz kann man im Prinzip als einen Vorgang sozialer Attribution auffassen. Für ihn gelten daher diejenigen Mechanismen, wie sie die Attributionsforschung um Fritz Heider, Jones & Davis und Kelley beschrieben und theoretisch zu erfassen versucht hat. Das Entscheidende ist dabei, dass ein Urteilender hinsichtlich seiner Zuschreibungen Fehler machen kann. In der Attribution von Kompetenz ist ein Mechanismus der Unsicherheitsabsorption enthalten. Durch die Zuschreibung wird Unsicherheit in Sicherheit überführt. Die generelle Problematik von Urteilsbegriffen liegt jedoch darin, auf welcher Basis von Beobachtungen oder Wissen ein solches Urteil getroffen und einer Person als deren Eigenschaft zugeschrieben wird.

2. An dieser Stelle taucht das Problem der Beobachtbarkeit von Kompetenzen auf. Woran lässt sich ein theoretisches Konstrukt wie die visuelle Kompetenz einer Person überhaupt beobachten? Man kann hier drei verschiedene Bereiche der Beobachtbarkeit unterscheiden: das Produkt, den Prozess und die Person. Beobachten lassen sich Produkt-, Prozess - und Personenvariablen hinsichtlich der Frage von Kompetenz und Inkompetenz. Ein urteilender Beobachter kann aufgrund des sichtbaren Resultates jemandem Kompetenzen zuschreiben, er kann es aber auch der Person selbst aufgrund der Beobachtung ihres Handelns und ihrer Selbst-Präsentation sowie einem bestimmten Prozess oder Ablauf, der sich beobachten lässt, zuschreiben. Entscheidend ist, dass die Zuschreibung letztendlich immer an die Person geht. Einem Gegenstand oder einem Ereignis Kompetenz zuzusprechen, ergibt keinen Sinn.

3. Visuelle Kompetenz gibt es im Bereich der Bildproduktion, der Bilddistribution und der Bildrezeption. In jedem dieser drei Kontexte sind auf der einen Seite sowohl sehr ähnliche Fähigkeiten gefordert, als auch grundlegend verschiedene. Auch der Bildermacher ist in den Phasen, in denen er das Entstehen eines Bildes kritisch reflektiert, sein eigener Beobachter. Er ist eine Art erster Beobachter und setzt in der kritischen Reflexion die selben Bildlesekompetenzen ein, wie ein nicht selbst produzierender Beobachter.

Andererseits kann man auch die Frage stellen, ob es denn überhaupt einen Menschen auf der Welt gibt, der keine Bilder produziert. Diese Frage ist wahrscheinlich zu verneinen. Deswegen ist ein Bilder produzierender Mensch noch lange kein Künstler, wie Joseph Beuys vielleicht zu behaupten wagte. Aber der Sachverhalt lehrt, dass jeder Mensch, ob alt oder jung, Bildproduktionskompetenzen besitzt, und seien sie noch so rudimentär. Jeder Mensch kann zeichnen, jeder hat bildhafte Vorstellungen und Phantasien in seinem Inneren, jeder versteht auf einfache Weise Bilder. Ein anthropologisches Grundkönnen zur Bildproduktion ist daher durchaus vorhanden.

Das Lesen von Bildern geschieht daher meistens vor einem zweifachen Hintergrund. Der eine Erfahrungshintergrund ist der gegenwärtige des eigenen Lebens, der eigenen Kultur und Sozialisation innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. Dieser Horizont des eigenen Milieus führt bekanntlich im Falle von historischen Bildern immer wieder zu Fehldeutungen und historischen Missverständnissen. Dieser Kontext des gegenwärtigen Lebens muss also ergänzt werden durch ein möglichst genaues und fundiertes Wissen über die relevanten historischen Zusammenhänge in einem bestimmten Gebiet. In diesem Falle sind es vor allem Historiker, Kunsthistoriker, Archäologen und Kulturwissenschaftler, die in bestimmten historischen Epochen forschen und Bilder aus diesen Kulturen besser verstehen und auch entsprechend lesen können. Die Lesefähigkeit von Bildern im Sinne einer visuellen Kompetenz zur Bildrezeption ist entscheidend von dem historischen Wissen um dieses Bild abhängig.

In der Kommunikationswissenschaft ist Kompetenz vor allem durch John Austin und Noam Chomsky Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre zusammen mit dem Pendantbegriff der Performanz in die linguistische Terminologie der Sprechakttheorie eingeführt worden. Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit von Sprechern und Hörern, mit Hilfe eines begrenzten Inventars von Kombinationsregeln und Grundelementen potentiell unendlich viele (auch neue, noch nie gehörte) Sätze bilden und verstehen zu können.4 Sie beschreibt die Fähigkeit, einer potentiell unendlichen Menge von Ausdruckselementen eine ebenso potentiell unendliche Menge von Bedeutungen zuzuordnen. Chomsky stützt sich hierbei u.a. auf Wilhelm von Humboldts Schrift Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues von 1836.5 Kompetenz im Sinne Chomskys ist die Kenntnis der Sprache, über die Sprecher und Hörer intuitiv verfügen, über die sie aber nur in seltensten Fällen explizit Rechenschaft ablegen können.6

Kompetenz und Performativität

An dieser Stelle haben wir erstmals eine brauchbare Definition für eine mögliche Theorie visueller Kompetenz vorliegen. Visuelle Kompetenz ist demzufolge die Fähigkeit, aus einem begrenzten Inventar von Grundelementen, Kombinationsregeln und Medien eine potentiell unendliche Vielfalt bildhafter Darstellungen zu erzeugen. Der Begriff der visuellen Kompetenz muss durch den Begriff der visuellen Performativität ergänzt werden. Denn es stellt sich die Frage nach der Beobachtbarkeit visueller Kompetenzen. Wie können Kompetenzen, wenn sie innere, unbeobachtbare Fähigkeiten, Kenntnisse und Wissensbestände einer Person sind, öffentlich beobachtet werden?

Kompetenzen zeigen sich daher stets an ihrer beobachtbaren Performativität. Aus der visuellen Performativität als einer öffentlich beobachtbaren, prinzipiell jedermann zugänglichen Oberfläche können wir auf die visuellen Kompetenzen eines Bildermachers oder - lesers zurückschließen.7 Die Zuschreibung von Kompetenz ist also eine Form von Attribution.8 Wir schreiben einer Person aufgrund bestimmter, beobachtbarer Verhaltensweisen bestimmte Eigenschaften oder Dispositionen von visueller Kompetenz zu.

Chomskys Kompetenzbegriff ist in der Folge zahlreichen Kritiken und Modifikationen unterworfen worden. Ein Hauptargument lautet, dass eine theoretische Trennung von Kompetenz und Performanz methodisch nicht zufrieden stellend durchgeführt werden kann. Nach Nathan Stemmer hängt eine zufrieden stellende Theorie der Kompetenz in letzter Konsequenz von der jeweiligen Performanz ab, da seiner Ansicht nach die Adäquatheit einer solchen Theorie nur auf der Basis von Performanzen determiniert werden kann.9 Dieser Einwand weist bereits auf die grundlegenden Schwierigkeiten hin, eine Theorie visueller Kompetenz ohne eine adäquate Theorie visueller Performativität entwickeln zu wollen.

Visuelle Performativität

Wenn sich die Frage nach visueller Kompetenz nur über eine Theorie visueller Performativität klären lässt, sollte man seine Aufmerksamkeit auf den Begriff der Performanz verlagern. Er entstand aus der Einsicht, dass innere Fähigkeiten und Dispositionen von Lebewesen der unmittelbaren Beobachtung unzugänglich seien. Performanzen als aktuelle Handlungen sind dagegen jederzeit öffentlich beobachtbar. Je nach Theorielage tritt dabei der Performanzbegriff in Relation zu verschiedenen Gegenbegriffen. So ist er beispielsweise ein Komplement zum Begriff der Fähigkeit, zum Begriff des Lernens, der Motivation, aber auch zum Begriff der Kompetenz.10

Besonders im Rahmen linguistischer Theorien der Sprachkompetenz ist Performanz als ein Gegenkonzept zu Kompetenz weiterentwickelt worden. So ist nach Hermanns unter Performanz ein vom Können, der Fähigkeit oder der Sprachbeherrschung unterschiedenes aktuelles Tun zu verstehen (also die konkrete Sprachverwendung oder der konkreten Sprachgebrauch).11 Performanz bezeichnet zweitens die konkrete Anwendung eines bestimmten Mechanismus oder einer bestimmten kulturellen Logik, die wir letztendlich Kompetenz nennen. Performanz ist also die Anwendung und der Gebrauch von Kompetenz. Damit aber enthält eine mögliche Theorie der (visuellen) Performanz als die umfassendere Theorie eine mehr oder weniger explizite oder implizite Theorie von Kompetenz als einen ihrer Bestandteile. Das Verhältnis zwischen Kompetenz und Performanz ist dasjenige einer Teil-Ganzes-Beziehung. Das Kompetenz-Performanz-Modell wurde in verschiedenen soziologischen bzw. soziolinguistischen Arbeiten in den übergeordneten Rahmen einer Theorie der kommunikativen Kompetenz integriert bzw. erweitert. Dabei wurde der Begriff der Performanz teilweise ganz aufgegeben, wie bei Jürgen Habermas zugunsten des Begriffs des kommunikativen Handelns.12

Wenn man die inneren Zustände einer Person nicht unmittelbar beobachten kann, -und davon können wir ausgehen-, muss man Kompetenz als einen theoretischen Terminus im Rahmen einer spezifischen Theorie über Kompetenz behandeln.13 Der Kompetenzbegriff ist theorierelativ, d.h. er hat nur innerhalb der spezifischen Konstruktion einer Theorie von Kompetenz eine bestimmte semantische Bedeutung. Außerhalb jeglichen theoretischen Rahmens ist der Kompetenzbegriff dagegen vollkommen bedeutungslos. Anders funktioniert dagegen der Performanzbegriff. Performanz ist durchaus empirisch beobachtbar. In den Begriffen Kompetenz und Performanz stehen sich also ein abstrakter, unbeobachtbarer Terminus einer Theorie und ein empirischer Beobachtungsbegriff gegenüber.

Modelle

Die Frage stellt sich nun, wie Kompetenzen über Performanzen beobachtbar werden, durch welche Brückenbildungen oder Modelle der abstrakte Terminus visueller Kompetenz empirisch beobachtbar wird. Modelle sind spezifische Interpretationen einer Theorie, die eine anschauliche Brücke zur Peripherie der empirischen Beobachtung herstellen. Einfachstes Beispiel ist das Molekülmodell aus farbigen Holzkugeln und farbigen Stäben, welche die Bindungsverhältnisse kennzeichnen. Aber Moleküle sind weder farbig noch aus Holz und sie sind auch nicht direkt beobachtbar, sondern nur über anschauliche Modellbildungen, welche die theoretischen Postulate der Theorie veranschaulichen.

Wenn wir nun zur visuellen Kompetenz als abstraktem, unbeobachtbarem Terminus zurückkehren und seiner spezifischen Relation zur visuellen Performanz, kann man folgende These formulieren: Visuelle Performativität veranschaulicht jeweils ein bestimmtes, kontingentes, d.h. immer auch anders mögliches Modell von visueller Kompetenz. An den spezifischen Formen und Modellen visueller Performativität können wir als externe Beobachter, die keinen epistemischen Zugang zum Inneren einer anderen Person besitzen, modellhaft beobachten, wie sich visuelle Kompetenz in spezifisch visuellen Handlungsformen formuliert.

Die Beobachtung visueller Performanz

Welches sind nun die spezifischen Modelle, die visuelle Kompetenzen anschaulich beobachtbar machen? Es sind die Werke, Produkte und Ergebnisse, die mit Hilfe bestimmter Medien hergestellt wurden. Visuelle Performativität lässt sich an den Werken, den Personen und den Situationen ablesen. Nun ist die Beobachtung visueller Performativität natürlich von dem jeweiligen Kontext abhängig, in dem der Künstler bzw. sein Werk oder seine mediale Spur auftreten. Je nach Kontext können andere Fähigkeiten relevant und kritisch werden. Visuelle Performanz ist immer auch mediale Performanz. Aber es ist nicht einfach nur Präsenz. Präsenz wäre einfache, schlichte Anwesenheit und einfache öffentliche Sichtbarkeit ohne ein spezifisches Handeln. Performativität ist aber immer in irgendeiner Art und Weise an ein spezifisch visuelles Handeln gebunden, das wir Präsentieren oder Aufführen (enaction) nennen können. Und dieses spezifische Handeln ist die öffentlich beobachtbare Basis, von der aus wir einer Person visuelle Kompetenz attribuieren, d.h. zu - oder absprechen. Visuelle Performanz zeigt also nur derjenige, der handelt, der etwas tut. Performanz ist deshalb stets öffentlich. Es kann keine private Performanz geben.

Wie lässt sich visuelle Performativität beobachten? Über Werke, Personen und Situationen. Wie urteilen wir über die Qualität der visuellen Performativität eines Künstlers? Wir entscheiden darüber aufgrund unserer Erfahrung im Umgang mit Kunstwerken, mit Künstlern, mit spezifischen Performanz- und Kompetenzsituationen im Kunstsystem.14 Derjenige, der mehr Erfahrung und Kenntnisse auf dem Gebiet hat, wird leichter und besser die Qualität visueller Performativität beurteilen können, als derjenige, der auf dem Gebiet ein Laie ist. Wenn man argumentiert, dass visuelle Kompetenz als innere Fähigkeit unbeobachtbar ist und nur anhand einer Performance empirisch beobachtet werden kann, stellt sich eine neue Verschiebung des Blickwinkels ein. Die Aufmerksamkeit verlagert sich auf die Person des Beobachters und seine Rolle bei der Attribution von Kompetenzen.

An dieser Stelle werden visuelle Kompetenz und visuelle Performativität zu ideologisch aufgeladenen, heißen Begriffen, die in einem sozialen Machtgefüge von Zuschreibungen und Abschreibungen, von Ausgrenzungen und Eingrenzungen, in dem der jeweilige Beobachter empirisch operiert, erzeugt werden. Ein Beobachter tritt Bildern nicht als eine passive, unbeschriebene Projektionsfläche gegenüber. Die Beobachtung von Bildern ist kein passiver Prozess von Aufnahme und Rezeption, sondern eine aktive, selektierende, strukturierende und gestaltende Tätigkeit. Sie ist ebenfalls aktuelles Handeln, eben ästhetische Performativität im weitesten Sinne. Der Beobachter tritt mit seiner Beobachterkompetenz, die sehr verschieden sein kann, an die Werke der Kunst heran. Seine Kompetenz kann aber wiederum nur an seiner ästhetisch-diskursiven Performativität beobachtet und beurteilt werden. Im Kunstsystem als einem komplexen Sozialsystem begegnen sich verschiedene visuelle und ästhetische Kompetenzen in Form von unterschiedlichen Performativitäten.15 Die Performativität eines Künstlers in Form seines Werkes und seines Auftretens im weitesten Sinne trifft auf unterschiedliche Beobachtungskompetenzen des Betrachters, die sich wiederum nur in einer Beobachtung zweiter Ordnung, also in einer Beobachtung des Beobachters, beobachten lassen. Jede Form von visueller Kompetenz, sei es auf Seiten des Künstlers, des Kritikers, des Kurators oder des Laien, ist daher immer schon in ein ideologisches Gerüst aus Überzeugungen, Einstellungen, Präferenzen, Werthaltungen, Vorurteilen und Gewohnheiten eingebettet. Performanzen treffen im Kunstsystem aufeinander und erzeugen die typische Dynamik von Bestätigung und Verwerfung, von Annahme und Ablehnung, von Innovation und Tradition. Sie erhält die autopoietische Selbstreproduktion des Kunstsystems in Gange.

Anmerkungen:

1 Wolfgang Künne: Abstrakte Gegenstände. Semantik und Ontologie. Frankfurt a.M. 1983, S. 39

2 Im Zusammenhang mit dieser Frage müssen oder könnten weitere Fragen, welche die Abgrenzung des Begriffes von seinem Umfeld betreffen, diskutiert werden. Das Verhältnis von Kompetenz und Wissen, von Kompetenz und Fähigkeit müsste genauer geklärt werden. Wie hängt Wissen (also auch Kompetenz) z.B. mit Gedächtnis, Vergessen und Erinnern zusammen? Es wird hier also auch eine Aussage zur Rolle des Gedächtnisses beim Wissenserwerb und beim Wissensmanagement zu leisten sein. Auch die Beziehungen des Begriffes zum Begriff der Persönlichkeit und ihrer Eigenschaften, also der Charakterforschung und der sozialen Attribution spielen hier eine wichtige Rolle.

3 Ferner könnte die Frage eine Rolle spielen, inwieweit sich eine Fähigkeit wie "visuelle Kompetenz" überhaupt sinnvoll von anderen Kompetenzen unterscheiden lässt. Es geht somit auch um die Frage einer zuverlässigen methodischen Isolierbarkeit dieses Konzeptes. Die Frage ist, wer trifft die Unterscheidung und aus welchem Hintergrund heraus wird diese Unterscheidung gemacht. Wer ist also der Beobachter, der die Unterscheidung zwischen visueller Kompetenz und visueller Inkompetenz trifft? Macht eine solcherart isolierte, monomodale Kompetenz überhaupt Sinn und sollte man nicht viel lieber von multimodalen Kompetenzen oder Wissensstrukturen sprechen?

4 Chomsky,Noam: Aspects of the theory of syntax, Cambridge, Mass.: M.I.T. Press 1965, S.4 : " Wir machen somit eine grundlegende Unterscheidung zwischen Kompetenz (das Wissen des Sprecher-Hörers von seiner Sprache) und Performanz (der aktuelle Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen)." [eigene Übersetzung]

5 Dort heißt es: "Das Verfahren der Sprache ist aber nicht bloss ein solches, wodurch eine einzelne Erscheinung zustandekommt; es muss derselben zugleich die Möglichkeit eröffnen, eine unbestimmbare Menge solcher Erscheinungen, und unter allen, ihr von dem Gedanken gestellten Bedingungen, hervorzubringen ... [Die Sprache] muss daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen" (Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 1836, Sektion 13, S.CXXII) zit. nach Noam Chomsky: Current Issues in Linguistic Theory, in: Jerry A. Fodor/ Jerrold J. Katz: The Structure of Language. Readings in the Philosophy of Language. Englewood Cliffs, New Jersey 1964, S.56

6 Sehr ähnlich verhält es sich oftmals auch bei Künstlern, die über ihre visuelle Kompetenz selten explizit sprachliche Rechenschaft ablegen können. Vgl. zum Begriff der künsterischen Kompetenz Tom Holert: Künstlerwissen. Studien zur Semantik visueller Kompetenz im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts. München: Fink 1998

7 Die Möglichkeit eines Fehlschlußes ist auch hier stets gegeben. Wir neigen dazu, bei einer besonders brillanten, erfolgreichen Performance auf eine besonders hohe Kompetenz zu schließen.

8 Werner Six: Attribution; in: Frey, Dieter/Greif, Siegfried (Hg.): Sozialpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. München [u.a.]:Urban & Schwarzenberg 1983, S.122-135; Wulf Uwe Meyer /Friedrich Försterling: Die Attributionstheorie; in: Dieter Frey/Martin Irle (Hg.): Theorien der Sozialpsychologie: Bd.I: Kognitive Theorien. Bern[u.a.]:Hans Huber 1993, S.175-214

9 Nathan Stemmer: A Note On Competence and Performance; in: Linguistics, no.65, 1971, S.83-89

10 E. Elling: Performanz; in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1989, Bd.7, Sp.248

11 F. Hermanns: Die Kalkülisierung der Grammatik, 1977, S.242, 256, 258 oder 263

12 Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialthechnologie- Was leistet die Systemforschung?. Frankfurt/M. 1971, S. 101-142. Vgl. ferner Dieter Baacke: Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München: Juventa Verlag 1974, bes. S.260ff.

13 Siehe zu dieser Auffassung auch Nathan Stemmer S.84. Es kann diese oder jene Theorie sein, es kann eine Theorie sozialer Kompetenz, der Sprachkompetenz oder auch visueller Kompetenz sein.

14 Vgl. hierzu Thierry de Duve: Kant nach Duchamp, München: Boer 1993

15 Zum Begriff der ästhetischen bzw. künstlerischen Kompetenz vgl. Jens Ihwe: Kompetenz und Performanz in der Literaturwissenschaft; in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): text bedeutung ästhetik. München: Bayrischer Schulbuch Verlag 1970, S.136-152; ferner Christian Doelker: Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der Multimediagesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta 1997


Hans Dieter Huber