Hans Dieter Huber
Ästhetische Bildung in
Europa
erschienen in: la boite en valise - oder Die Neue Welt liegt mitten in Europa, Ausstellungskatalog Kunstverein Weiden, 2004
Wenn wir von ästhetischer Bildung in einem neuen und erweiterten Europa sprechen, muss man als erstes die Frage stellen, was unter dem Begriff der ästhetischen Bildung zu verstehen ist. Der Begriff der Ästhetik ist ein Lehnwort aus dem griechischen aisthesis, welches soviel wie sinnliche Wahrnehmung bedeutet. Eine aisthetische Bildung wäre in diesem ersten Sinne eine Ausbildung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Damit ist der Begriff des Ästhetischen jedoch bei weitem nicht vollständig umrissen. Aisthesis ist darüber hinaus nämlich auch ein eigener Typus von Erkenntnis der Welt, nämlich eine Form der sinnlichen Erkenntnis. Während das Denken unkörperlich und abstrakt ist, benennt aisthesis eine organische Wissenspräsenz, die sich den äußeren Einwirkungen auf den Organismus verdankt. Ohne sie ist sinnliche Erkenntnis nicht möglich. Damit definiert aisthesis die Schnittstelle zwischen Innen und Außen, zwischen einer unbekannten und nicht erkennbaren Realität und dem inneren, emotional-kognitiven System eines Beobachters. Ästhetische Bildung wäre in diesem ursprünglichen Verständnis die Ausbildung der sinnlichen Wahrnehmungskompetenz als der zentralen Schnittstelle für die sinnliche Erkenntnis der Welt und des Selbst.
Im Jahre 1735 versucht ein junger Privatdozent in Frankfurt an der Oder
namens Alexander Gottlieb Baumgarten eine neue Wissenschaft zu entwickeln,
die er Ästhetik
nennt und als eine Theorie der sinnlichen Erkenntnis auffasst. Sie ist von Anfang
an als Bildungsaufgabe konzipiert. Das Ziel liegt in einem sinnlich kompetent
und umfassend ausgebildeten Menschen. Es wird sehr ausführlich dargelegt,
was dieser neue, ästhetische Mensch alles können soll und es wird ebenso
ausführlich begründet, warum er dies alles können soll. Baumgarten
(1714-1776) muss daher als zentraler Bildungsreformer des 18. Jahrhunderts angesehen
werden wie Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827).
Unter dem philosophischen Schwergewicht des Königsberger Denkers verengt
sich der Blickwinkel einer umfassenden, ästhetischen Bildung jedoch auf
die Ausbildung des Geschmacksurteils in Sachen Kunst. Erst am Ende des 20. Jahrhunderts
wird der Bildungsbeitrag von Alexander Gottlieb Baumgarten wieder entdeckt. Durch
Philosophen wie Helmut Schweizer, Wolfgang Welsch und Gernot Böhme wird
die von Immanuel Kant zugeschlagene Tür wieder geöffnet. Das über
250 Jahre hinweg unvollendet gebliebene Projekt einer systematischen ästhetischen
Ausbildung der sinnlichen Erkenntnis wird Mitte der achtziger Jahre wieder in
Erinnerung gebracht. 1989 fällt der Eiserne Vorhang. Der geistige Mittelpunkt
Europas verschiebt sich nach Osten. Zum ersten Mal ist Osteuropa zu einem direkten
Nachbarn geworden. Der PISA-Schock mit den schlechten Ergebnisse in Deutschland
und anderen traditionellen europäischen Kernländern wie Italien und
Frankreich führen zu einer bildungspolitischen Reaktion. In überhasteter
Hysterie werden die mühsam eroberten Gebiete einer ästhetischen Sinnesschulung
von den ideologischen Staatsapparaten an den Rand gedrängt. Der begrifflich-mathematisch-naturwissenschaftliche
Komplex versucht mit Macht, seine in den achtziger Jahren verloren gegangene,
hegemoniale Vorherrschaft zu restaurieren. Das Imperium schlägt zurück.
Die verengte Lesart der PISA-Studie durch die ideologischen Staatsapparate einiger
europäischer Länder führt zu einer Restaurierung des Kalten Krieges
in der Bildungspolitik und zu einer fortschreitenden Marginalisierung ästhetischer
Bildungsaufgaben. Das ist die Situation, in der wir uns in Europa gegenwärtig
befinden. Nun gilt es Widerstand zu leisten gegen die amtlich verordnete Dummheit
(Dietmar Kamper).
Die Verengung der Bildungsdiskussion auf Sprache, Logik und Mathematik
führt
im Endeffekt zu einer zunehmenden Vernachlässigung und Marginalisierung
der somatisch-körperlichen, nicht-begrifflichen und nicht-logischen Erkenntnisfähigkeiten.
Die mangelnde Innovationskraft unserer hoch bezahlten Spitzenmanager wird bemängelt.
Woher soll sie denn auch kommen, wenn man die Welt auf Fließdiagramme und
statische Wahrscheinlichkeitsrechnung reduziert und jede Kleinigkeit durchökonomisiert.
Man sollte bewusst, gezielt und mit wissenschaftlichen Methoden nachforschen,
aus welchen somatischen, affektiven, emotionalen oder kognitiven Wurzeln sich
unser Vorstellungsvermögen und unsere Kreativität speisen. Das gegenwärtige
Kunstsystem ist dagegen ausdifferenziert bis zur Atomisierung. Kunst wird zu
einer besonderen Art von sozialer Selbstdarstellung in einem hedonistischen,
aufsteigerorientierten Lebensstilmilieu. Sprach Guy Debord 1967 noch von der
Gesellschaft des Spektakels, leben wir heute weitgehend in einer flachen Erlebnisgesellschaft,
in der sich temporäre Sozialbeziehungen über gemeinsame Lebensstile
und Milieus definieren (Gerhard Schulze). Die Diktatur der Kuratoren entmündigt
den Künstler und zwingt ihn zu einem semantischen Abstieg. Dem semantischen
(und ökonomischen) Aufstieg der Kuratoren, Eventdesigner und Projektmanager
stehen der semantische (und ökonomische) Abstieg des Künstlers und
der Kunstpädagogik gegenüber.
Im Osten stellt sich die Situation dagegen ganz anders dar. In den postkommunistischen
Ländern Osteuropas existiert noch eine gänzlich andere Schichten- und
Klassenstruktur der Gesellschaft als im Westen. Als Künstler zu arbeiten,
heißt immer noch, ernsthaft aufrichtig und authentisch zu sein und Widerstand
zu leisten gegen die staatlich verordnete Dummheit. Dies stellt ein großes
Potential und eine große Kraft für eine neue ästhetische Bildung
in Europa dar.
Welche Rolle spielt die Ausbildung einer kritischen, erweiterten ästhetischen
Urteilskraft für ein neues Europa? Die Jugend ist das Kapital der Zukunft.
Die jungen Menschen, die nun in einem erweiterten und zart vereinten Europa heranwachsen,
stellen unsere europäische Zukunft dar. Hier muss eine europäische, ästhetische
Bildung ansetzen. Es liegt (noch) in unserer Hand, wie gut wir sie ausbilden
und welche Zukunft für Europa wir damit ermöglichen.
Wenn wir in das zwanzigste Jahrhundert zurückblicken, bleiben uns für
eine historische Anknüpfung an die Traditionen ästhetischer Bildung
im Westen nur die Jahre bis 1933 und dann wieder ab 1950, im Osten die Jahre
bis etwa 1925 und nach 1990. Das ist wenig. Dennoch muss eine Geschichte der
Konzepte ästhetischer Bildung in Europa geschrieben werden. Es ist eine
europäische und keine nationale Geschichte. Schon ein kurzer Blick auf die
gegenseitigen Anregungen und den Austausch zwischen dem französischen Kubismus,
dem Bauhaus in Dessau und den Bildungskonzepten des russischen Konstruktivismus
(Vchutemas und INCHUK), die über einzelne Personen wie Josef Albers, Paul
Klee, Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Wladimir Tatlin, Alexander Rodschenko,
Naum Gabo oder Lazlo Moholy-Nagy und ihre Reisen, Begegnungen und Freundschaften
gelaufen sind, zeigen ganz klar und deutlich, dass Konzepte ästhetischer
Bildung, da sie ein nicht sprachliches Wissen verkörpern, immer schon europäisch
waren. Was wir dringend benötigen, wäre eine Archäologie ästhetischer
Bildungskonzepte in Europa. Wir müssten ferner wissen, in welchen Ländern
zu welcher Zeit und durch welche Personen welche ästhetischen Bildungsansätze
im Bereich der Kunstlehre betrieben und durchgeführt wurden. Durch den Eisernen
Vorhang war uns im Westen ein Blick in die osteuropäischen Länder und
ihre spezifisch nationalen Ansätze zur ästhetischen Bildung wohl mehr
verschlossen als in umgekehrter Richtung.
Eine gemeinsame, gesamteuropäische Ausbildung der sinnlichen Erkenntniskompetenzen
als einer erweiterten ästhetischen Urteilskraft wäre eine Aufgabe,
die wir nach der Erweiterung der Europäischen Union auf regionaler, nationaler
und europäischer Ebene aufnehmen müssen. Die eigenen regionalen, nationalen
und europäischen Identitäten im Bereich ästhetischer Bildung müssen
ausgegraben, artikuliert, entwickelt und angewendet werden. Sie müssen Eingang
finden in die Bildungspläne der Schulen, Hochschulen und außerschulischen
Bildungseinrichtungen. Nur in einer ästhetischen, das heißt, sinnlich
gebildeten europäischen Gemeinschaft, in welcher Sinnlichkeit, Intuition,
Phantasie, Vorstellungsvermögen und schöpferische Innovation mit der
Freiheit Hand in Hand gehen, haben wir eine gemeinsame Zukunft.