Hans Dieter Huber
Ästhetische Bildung in Europa


First Installation:12.04.04 Last Update: 12.04.04


erschienen in: la boite en valise - oder Die Neue Welt liegt mitten in Europa, Ausstellungskatalog Kunstverein Weiden, 2004

Wenn wir von ästhetischer Bildung in einem neuen und erweiterten Europa sprechen, muss man als erstes die Frage stellen, was unter dem Begriff der ästhetischen Bildung zu verstehen ist. Der Begriff der Ästhetik ist ein Lehnwort aus dem griechischen aisthesis, welches soviel wie sinnliche Wahrnehmung bedeutet. Eine aisthetische Bildung wäre in diesem ersten Sinne eine Ausbildung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Damit ist der Begriff des Ästhetischen jedoch bei weitem nicht vollständig umrissen. Aisthesis ist darüber hinaus nämlich auch ein eigener Typus von Erkenntnis der Welt, nämlich eine Form der sinnlichen Erkenntnis. Während das Denken unkörperlich und abstrakt ist, benennt aisthesis eine organische Wissenspräsenz, die sich den äußeren Einwirkungen auf den Organismus verdankt. Ohne sie ist sinnliche Erkenntnis nicht möglich. Damit definiert aisthesis die Schnittstelle zwischen Innen und Außen, zwischen einer unbekannten und nicht erkennbaren Realität und dem inneren, emotional-kognitiven System eines Beobachters. Ästhetische Bildung wäre in diesem ursprünglichen Verständnis die Ausbildung der sinnlichen Wahrnehmungskompetenz als der zentralen Schnittstelle für die sinnliche Erkenntnis der Welt und des Selbst.


Im Jahre 1735 versucht ein junger Privatdozent in Frankfurt an der Oder namens Alexander Gottlieb Baumgarten eine neue Wissenschaft zu entwickeln, die er Ästhetik nennt und als eine Theorie der sinnlichen Erkenntnis auffasst. Sie ist von Anfang an als Bildungsaufgabe konzipiert. Das Ziel liegt in einem sinnlich kompetent und umfassend ausgebildeten Menschen. Es wird sehr ausführlich dargelegt, was dieser neue, ästhetische Mensch alles können soll und es wird ebenso ausführlich begründet, warum er dies alles können soll. Baumgarten (1714-1776) muss daher als zentraler Bildungsreformer des 18. Jahrhunderts angesehen werden wie Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827). Unter dem philosophischen Schwergewicht des Königsberger Denkers verengt sich der Blickwinkel einer umfassenden, ästhetischen Bildung jedoch auf die Ausbildung des Geschmacksurteils in Sachen Kunst. Erst am Ende des 20. Jahrhunderts wird der Bildungsbeitrag von Alexander Gottlieb Baumgarten wieder entdeckt. Durch Philosophen wie Helmut Schweizer, Wolfgang Welsch und Gernot Böhme wird die von Immanuel Kant zugeschlagene Tür wieder geöffnet. Das über 250 Jahre hinweg unvollendet gebliebene Projekt einer systematischen ästhetischen Ausbildung der sinnlichen Erkenntnis wird Mitte der achtziger Jahre wieder in Erinnerung gebracht. 1989 fällt der Eiserne Vorhang. Der geistige Mittelpunkt Europas verschiebt sich nach Osten. Zum ersten Mal ist Osteuropa zu einem direkten Nachbarn geworden. Der PISA-Schock mit den schlechten Ergebnisse in Deutschland und anderen traditionellen europäischen Kernländern wie Italien und Frankreich führen zu einer bildungspolitischen Reaktion. In überhasteter Hysterie werden die mühsam eroberten Gebiete einer ästhetischen Sinnesschulung von den ideologischen Staatsapparaten an den Rand gedrängt. Der begrifflich-mathematisch-naturwissenschaftliche Komplex versucht mit Macht, seine in den achtziger Jahren verloren gegangene, hegemoniale Vorherrschaft zu restaurieren. Das Imperium schlägt zurück. Die verengte Lesart der PISA-Studie durch die ideologischen Staatsapparate einiger europäischer Länder führt zu einer Restaurierung des Kalten Krieges in der Bildungspolitik und zu einer fortschreitenden Marginalisierung ästhetischer Bildungsaufgaben. Das ist die Situation, in der wir uns in Europa gegenwärtig befinden. Nun gilt es Widerstand zu leisten gegen die amtlich verordnete Dummheit (Dietmar Kamper).


Die Verengung der Bildungsdiskussion auf Sprache, Logik und Mathematik führt im Endeffekt zu einer zunehmenden Vernachlässigung und Marginalisierung der somatisch-körperlichen, nicht-begrifflichen und nicht-logischen Erkenntnisfähigkeiten. Die mangelnde Innovationskraft unserer hoch bezahlten Spitzenmanager wird bemängelt. Woher soll sie denn auch kommen, wenn man die Welt auf Fließdiagramme und statische Wahrscheinlichkeitsrechnung reduziert und jede Kleinigkeit durchökonomisiert. Man sollte bewusst, gezielt und mit wissenschaftlichen Methoden nachforschen, aus welchen somatischen, affektiven, emotionalen oder kognitiven Wurzeln sich unser Vorstellungsvermögen und unsere Kreativität speisen. Das gegenwärtige Kunstsystem ist dagegen ausdifferenziert bis zur Atomisierung. Kunst wird zu einer besonderen Art von sozialer Selbstdarstellung in einem hedonistischen, aufsteigerorientierten Lebensstilmilieu. Sprach Guy Debord 1967 noch von der Gesellschaft des Spektakels, leben wir heute weitgehend in einer flachen Erlebnisgesellschaft, in der sich temporäre Sozialbeziehungen über gemeinsame Lebensstile und Milieus definieren (Gerhard Schulze). Die Diktatur der Kuratoren entmündigt den Künstler und zwingt ihn zu einem semantischen Abstieg. Dem semantischen (und ökonomischen) Aufstieg der Kuratoren, Eventdesigner und Projektmanager stehen der semantische (und ökonomische) Abstieg des Künstlers und der Kunstpädagogik gegenüber.


Im Osten stellt sich die Situation dagegen ganz anders dar. In den postkommunistischen Ländern Osteuropas existiert noch eine gänzlich andere Schichten- und Klassenstruktur der Gesellschaft als im Westen. Als Künstler zu arbeiten, heißt immer noch, ernsthaft aufrichtig und authentisch zu sein und Widerstand zu leisten gegen die staatlich verordnete Dummheit. Dies stellt ein großes Potential und eine große Kraft für eine neue ästhetische Bildung in Europa dar.


Welche Rolle spielt die Ausbildung einer kritischen, erweiterten ästhetischen Urteilskraft für ein neues Europa? Die Jugend ist das Kapital der Zukunft. Die jungen Menschen, die nun in einem erweiterten und zart vereinten Europa heranwachsen, stellen unsere europäische Zukunft dar. Hier muss eine europäische, ästhetische Bildung ansetzen. Es liegt (noch) in unserer Hand, wie gut wir sie ausbilden und welche Zukunft für Europa wir damit ermöglichen.


Wenn wir in das zwanzigste Jahrhundert zurückblicken, bleiben uns für eine historische Anknüpfung an die Traditionen ästhetischer Bildung im Westen nur die Jahre bis 1933 und dann wieder ab 1950, im Osten die Jahre bis etwa 1925 und nach 1990. Das ist wenig. Dennoch muss eine Geschichte der Konzepte ästhetischer Bildung in Europa geschrieben werden. Es ist eine europäische und keine nationale Geschichte. Schon ein kurzer Blick auf die gegenseitigen Anregungen und den Austausch zwischen dem französischen Kubismus, dem Bauhaus in Dessau und den Bildungskonzepten des russischen Konstruktivismus (Vchutemas und INCHUK), die über einzelne Personen wie Josef Albers, Paul Klee, Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Wladimir Tatlin, Alexander Rodschenko, Naum Gabo oder Lazlo Moholy-Nagy und ihre Reisen, Begegnungen und Freundschaften gelaufen sind, zeigen ganz klar und deutlich, dass Konzepte ästhetischer Bildung, da sie ein nicht sprachliches Wissen verkörpern, immer schon europäisch waren. Was wir dringend benötigen, wäre eine Archäologie ästhetischer Bildungskonzepte in Europa. Wir müssten ferner wissen, in welchen Ländern zu welcher Zeit und durch welche Personen welche ästhetischen Bildungsansätze im Bereich der Kunstlehre betrieben und durchgeführt wurden. Durch den Eisernen Vorhang war uns im Westen ein Blick in die osteuropäischen Länder und ihre spezifisch nationalen Ansätze zur ästhetischen Bildung wohl mehr verschlossen als in umgekehrter Richtung.


Eine gemeinsame, gesamteuropäische Ausbildung der sinnlichen Erkenntniskompetenzen als einer erweiterten ästhetischen Urteilskraft wäre eine Aufgabe, die wir nach der Erweiterung der Europäischen Union auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene aufnehmen müssen. Die eigenen regionalen, nationalen und europäischen Identitäten im Bereich ästhetischer Bildung müssen ausgegraben, artikuliert, entwickelt und angewendet werden. Sie müssen Eingang finden in die Bildungspläne der Schulen, Hochschulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen. Nur in einer ästhetischen, das heißt, sinnlich gebildeten europäischen Gemeinschaft, in welcher Sinnlichkeit, Intuition, Phantasie, Vorstellungsvermögen und schöpferische Innovation mit der Freiheit Hand in Hand gehen, haben wir eine gemeinsame Zukunft.


Hans Dieter Huber