Hans Dieter Huber
Der von Bildern umstellte Horizont. Systemische Anmerkungen zu Anna Oppermann

Vortrag im Rahmen des Symposiums "Über Medialität - Anlass Anna Oppermann" am 25. April 2004 in der Hamburger Kunsthalle

First Upload: 22.4.2004 Last Update: 28.04.2004

1. Intro

Eine Skizze, ein Bozzetto, kein fertig ausgearbeitetes Gemälde. Daher sind Imagination und Vorstellungsvermögen der Zuhörer gefordert. Wie bei jeder Skizze besteht die Kunst im Weglassen und Andeuten dessen , was gemeint ist, mit wenigen Linien. Ich möchte dabei vier verschiedene Disziplinen mit einander in Verbindung bringen und -sozusagen- in einem experimentellen Design auf Probe stellen: Radikaler Konstruktivismus, systemische und autopoietische Erklärungsmodelle, Ergebnisse der Bildwissenschaft und der Kognitionsforschung. Dies möchte ich in skizzenhafter Weise mit dem Werke und der Methode Anna Oppermanns verbinden.

2. Bild, Beobachter, Milieu: Grundlagen

In meinem Denken gehe ich von einer grundlegenden Trilogie zwischen Bild, Beobachter und Milieu aus. Auf keinen der drei Bereiche kann bei einer Bildanalyse verzichtet werden.

 

Abb.1: Hans Dieter Huber: Trilogie zwischen Bild, Beobachter und Milieu.

 

Keines dieser Elemente ist aus einer systemischen Bidlwissenschaft eliminierbar. Bilder können ohne einen Beobachter nicht beobachtet werden. Was ein Bild ist, wenn es nicht beobachtet wird, vermag ich nicht zu sagen. Aber auch ein physisches Bildobjekt muss vorhanden sein, um beobachtet werden zu können. Sonst haben wir nur einen Beobachter, der sich in einer Umgebung umher bewegt, aber keine Bilder. Bilder sind der Anlass für Beobachtng. Bilder und Beobachter existieren nicht in einem Vakuum, sondern in einer gemeinsamen Umgebung. Es gibt für Beobachter keine Möglichkeit, ein Bild zu beobachten, ohne sich in derselben räumlichen, zeitlichen oder sozialen Umgebung zu befinden, wie das Bild. Diese gemeinsame Umgebung von Bild und Beobachter ist von zentraler Bedeutung für die Konstruktion von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen durch den Beobachter selbst.

Dies gilt in selbem Maße von den Installationen Anna Oppermanns. Sie sind Bildsysteme, benötigen einen Beobachter, um gesehen, erfahren und verstanden zu werden und befinden sich in einem gemeinsamen räumlichen, zeitlichen und sozialen Milieu.

Abb. 2: Anna Oppermann: Ensemble Cotoneaster horizontalis-Zergmispel-Boden(be)decker (Antikommuniaktionsdesign), Installationsansicht Hamburger Kunstverein 1984

Aus dieser Grundsituation kann man als wissenschaftlicher Beobachter oder als Meta- Beobachter seine Aufmerksamkeit wechselweise einem dieser drei Pole zuwenden: dem Bild, dem Beobachter oder dem Milieu.

Abb.3: Hans Dieter Huber: Oszillation der Aufmerksamkeit

Da Aufmerksamkeit als kognitive Ressource knapp und begrenzt ist, bleiben die jeweils anderen Elemente dieser Situation als ausgeblendeter, latenter Hintergrund bestehen.

3. Das Bild als System

Ich fasse die Rauminstallationen Anna Oppermanns als Systeme auf. Sie selbst hat von Ensembles gesprochen, was einen lockeren und offenen Verbund suggeriert, der sich ständig verändern kann. Nach ihrem Tode jedoch ist aus dem offenen und lockeren Ensemble ein fest definiertes System aus definiten Elementen geworden, bei dem nichts hinzugefügt oder weggelassen werden kann, ohne das Werk zu verändern.

Als eine erste, allgemeine Systemdefinition möchte ich folgende Definition begreifen:

Ein System besteht aus Einheiten, die in wechselseitiger Interaktion miteinander stehen. Was als Grenze einer Einheit, eines Teilsystems oder des ganzen Systems aufgefasst wird, bestimmt der Beobachter mit Hilfe seiner Wahrnehmungsunterscheidungen und Bezeichnungen. Begriffe fassen zu Einheiten zusammen und trennen verschieden Bezeichnetes voneinander.

Abb.4: Ausschnitt aus Problemlösungsauftrag an Künstler (Raumprobleme), 1978-1984

Was als eine Einheit oder als Element in einer Rauminstallation von Anna Oppermann betrachtet wird und was als viele verschiedene Einzelteile angesehen wird, ist in konstruktivistischer Auffassung immer das Resultat der Unterscheidung und Bezeichnung eines bestimmten Beobachters.

 

Abb. 5: Mögliche Elemente des Bildsystems von Anna Oppermann: Problemlösungsauftrag an Künstler (Raumprobleme), 1978-1984

Wenn die innere Struktur oder die Funktionsweise einer bestimmten Einheit in einem solchen Bild-System nicht von Interesse ist, kann man diese Einheit auch als ein geschlossenes Element, als black box, mit Input- und Output-Beziehungen behandeln. Man kann als Beobachter also seinen Blick entweder auf die interne Struktur einer Einheit richten, oder auf die wechselseitigen Interaktionen zwischen zwei oder mehreren solcher Einheiten. Es interessiert dann nur die Beschreibung ihrer Interaktionen mit anderen Einheiten eines Systems. Die Grenze eines Systems ist ebenfalls das Resultat der Wahrnehmungsunterscheidungen und Bezeichnungen eines Beobachters. Anna Oppermann hat selbst einmal ein Schema veröffentlicht, das eine solche Unterscheidung in Einheiten bedeutet.

Abb. 6: Anna Oppermann: Schema von Problemlösungsauftrag an Künstler (Raumprobleme)

Von dieser allgemeinen Systemdefinition kann man nun eine spezifischere Definition für Bildsysteme ableiten:

Ein Bild als System besteht aus einzelnen Bestandteilen, die man als seine grundlegenden Einheiten bezeichnen kann. Zwischen den Einheiten eines Bildes lassen sich verschiedene Formen von Interaktionen beobachten. Die Beschreibung der Einheiten und ihrer Interaktionsmöglichkeiten ergibt die Struktur des Bildsystems als seinen tatsächlichen Zustand zum Zeitpunkt der Beschreibung. Was als eine Einheit in einem Bildsystem gilt und was als komplexes, zusammengesetztes Subsystem aufgefasst wird, ist das Resultat der Unterscheidung und Bezeichnung eines bestimmten Beobachters.

Bei Bildern kann man verschiedene Ebenen der Beobachtung unterscheiden, die physische, die optische und die semantische. Nur der physische Bildträger ist wie jeder andere Gegenstand der Welt vollständig bestimmt. Man kann ihn aus verschiedenen Richtungen immer wieder beobachten. Man kann ihn anfassen, umdrehen, riechen, und schmecken. Man kann ihn mit allen Sinnen erfassen.

Abb. 7: Detail aus der Installation Portrait Herr S., 1971-1981

Die physischen Elemente oder Gegenstände einer Rauminstallation von Anna Oppermann müssen von einem Beobachter aufgefasst, interpretiert und verstanden werden. In dieser Übersetzungsleistung einer physischen, externen Objektstruktur in eine biologische und interne Struktur von bildhaften Vorstellungen, Schemata, Begriffen, Stereotypen und Erinnerungen ist der Beobachter der entscheidende Katalysator.

 

4. Der Beobachter

Ich kann natürlich nicht in 30 Minuten das gesamte emotional-kognitive Funktionieren eines lebenden Menschen beschreiben. An dieser Stelle muss ich mich auf einige sehr knappe, aber prägnante Stichworte begrenzen, wie sie eben für eine Skizze typisch sind.Wir können eine biologische von einer individuellen und einer sozial-kollektiven Beobachtungsebene unterscheiden.Auf der biolgischen Ebene besitzen alle Menschen der Welt die selbe biologische Grundausstattung. Sie haben zwei Augen, die sich in den Augenhöhlen bewegen lassen; zwei Ohren, zwei Nasenlöcher, zwei Hände, einen Mund und einen Kopf. Die Augen sitzen in einem Kopf, den man mit Hilfe von Atlas und Dreher auf sehr komplexe Weise hin und herbewegen kann. Der Kopf wiederum ruht auf einem Oberkörper mit zwei Armen, der ebenfalls sehr komplex bewegt werden kann.

Abb.8: Lage der Augen im Kopf und Kopfdrehung beim Menschen (aus James Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, 1982)

Der Unterkörper mit den beiden Beinen gestattet es dem Beobachter, sich fast in beliebiger Richtung im Raum umherzubewegen, sofern er nicht von dem ihn umgebenden Milieu in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Hinzu kommt die individuelle Persönlichkeitsstruktur eines Beobachters, die wir mit dem Begriff der Biographie oder Lebensgeschichte eines Beobachters bezeichnen. Seine Erfahrungen als Säugling und Kleinkind, als Jugendlicher in der Schule, in der Familie und unter Gleichaltrigen, sein Bildungsgrad sowie sein Einkommen und sein beruflicher Status bringen unwiederruflich individuelle, soziale, kulturelle, ökonomische und politische Differenzen in diese gemeinsame biologische Grundausstattung.

Abb.9: Hans Dieter Huber: Hannelore vor Jackson Pollocks Number 32,1950; Kunstsammlungen Düsseldorf, 1984

Darüber hinaus ist ein Beobachter jedoch kein Einzelgänger, sondern er lebt in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen, in einem bestimmten Land auf der Erde mit bestimmten kulturellen, sozialen und kommunikativen Traditionen. Sie beeinflussen sein Verhalten, sein Handeln, sein Wahrnehmen, seine Phantasie, sein Denken und auch seine Erinnerung auf eine massive Weise, der er sich oftmals nicht bewusst ist. Welche Verhaltenskalibirerung und Disziplinierung des Verstehens von Bildern durch den Druck auf soziale Kohärenz stattfindet, ist einem vielerorts gar nicht bewusst. Die Gesellschaft macht den Beobachter zu einem Subjekt, wie Michel Foucault sagt, zu einem Unterworfenen, der sich den Dispositiven der Sprache und der Gesellschaft unterstellt hat.

Abb. 10: Hans Dieter Huber: Unischerheitsreduktion durch Ansprache: Stiftung für konkrete Kunst, Reutlingen

Wir können unsere Lerngeschichte der visuellen Kultur und ihre sozialen und politischen Einflüsse nicht aus der Art und Weise, wie wir Bilder wahrnehmen, eliminieren. Wir müssen also davon ausgehen, dass aufgrund einer mehr oder weniger unterschiedlichen, individuellen Lebensgeschichte des Beobachters zunächst jeder etwas anderes wahrnehmt, interpretiert und versteht. Wir müssen davon ausgehen, dass jeder Beobachter und jede Beoachterin betimmte Vorlieben und Abneigungen für bestimmte künstlerische, ästhetische und bildnerische Zusammenhänge besitzt, bestimmte Wahrnehmungsgewohnheiten oder -stile besitzt, die ihr exploratives Wahrnehmungsverhalten im Milieu prägt. In einem zweiten Schritt werden jedoch diese vermeintlich so individuellen und persönlichen Wahrnehmungsgewohnheiten durch die Kontrollfelder der Sprache und des Milieus wieder auf eine konsensuelle Koordination des Verhaltens und der Bewertung hin ausgerichtet.

Abb.11: Hans Dieter Huber: Kunstreligiöses Milieu: Ausstellungseröffnung Hospitalhof Stuttgart 9.1.04

Was bedeuten diese skizzenartigen Ausführungen nun für die Interaktion eines Beobachters oder einer Beobachterin mit einem Ensemble von Anna Oppermann? Wir müssen zunächst davon ausgehen, dass jeder Beobachter aufgrund der enorm hohen Wahrnehmungsselektivität etwas anderes sieht, es auf eine andere Weise miteinander verbindet und damit zu einem anderen Gesamtverständnis dieser Arbeiten kommen wird, als der nächste.

Abb.12: Anna Oppermann: Der Künstler Dieter Roth in einem Ensemble von Anna Oppermann (geplant für "Der ökonomische Aspekt", später aber wieder von Oppermann verworfen)

Dies beschreibt aber nur die eine Hälfte der Geschichte. Durch das jeweilige soziale Milieu, in dem der Beobachter sich bewegt, findet eine sehr spezeille Voreinstellung und Kalibirierung des jeweiligen Verständnishorizontes statt. Noch bevor man ein Museum betritt, weiß man normalerweise bereits, welche Arten von Bildern man darin finden wird, wie man sich davor zu verhalten hat und wie nicht, was als eine gute Bemerkung gilt und was als eine schlechte. Diese Verhaltenskalibrierung findet bei jeder erneuten Begegnung statt und differenziert deshalb die Beobachter in Novizen, Dilettanten und Experten.

Beobachter unterscheiden sich also vor allem hinsichtlich der Selektivität, mit der sie verschiedene Elemente eines Bildsystems auffassen, schematisieren und in ein persönliches, semantisches Netzwerk von Begriffen einspeisen. Ganz generell kann man sagen, dass ein Beobacher zu einem gegebenen Zeitpunkt nur dasjenige an einer Rauminstallation Anna Oppermanns verstehen kann, was er zu diesem Zeitpunkt verstehen kann. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht verstehen kann, kann er zu diesem Zeitpunkt schlicht und einfach nicht verstehen. Jeder Beobacher reduziert also die enorme Komplexität der Installationen Oppermanns auf ein für ihn gerade noch verstehbares und verarbeitbares kognitives Maß, gottseidank oder leider, je nachdem, welche Perspektive man einnehmen will. Exakt hier formuliert sich die Schnittstelle zur Museumspädagogik und zur Vermittlungsarbeit, die eine Disziplinierungsarbeit ist. Die grundlegende Selektivität von Beobachtern kann man wiederum nach folgenden Gesichtspunkten differenzieren: Aufmerksamkeit - Unaufmerksamkeit, Konvergenz-Divergenz, Differenzierung-Dedifferenzierung, wichtig- unwichtig, bekannt - unbekannt, bewußt- unbewußt. Hier spielt auch das visuell Unbewusste in erheblichem Maße hinein. Oppermann hat selbst in einer Skizze eine hochinteressante Rezeptionstheorie entwickelt, die es eigentlich verdienen würde, einmal gesondert untersucht zu werden:

Abb.13: Anna Oppermann: Schema eines kreativen Prozesses

Neuere Ergebnisse der letzten Jahre aus den Forschungsgebieten der impliziten Wahrnehmung, des automatischen Handelns oder des impliziten Lernens legen nahe, dass im Bereich der bewussten wahrnehmung ein erheblicher Anteil an automatischen und unbewussten Mechanismen anzunehmen ist. Oppermann spricht in obigem Schema von Primär- und Sekundärprozessen, zwei wichtigen Begriffen aus der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Aber es tauchen auch die Begriffe der De-Differenzeirung, der Dissoziation und der Re-Introjektion auf, die vielleicht aus der psychoanalytischen Kunsttheorie des englischen Psychoanalytikers Arnold Ehrenzweig stammen könnten. die inhaltliche Charakterisierung und Beschreibung der verchiedenen Phasen kreativen Prozsses steht wiederum Ernst Krsi Psychologie des künstelrischen Poduktionsprozesses sehr nahe. Warum gehe ich hierauf so ausführliche in. Das Schema ist für zwar für die Künstlerin selbst als Erklärung ihres Vorgehens beim Entwickelns eines Ensembles gedacht. Wenn wir aber von der These ausgehen, dass auch der Vorgang der wahrnehmungsexplorationeines ensembles von anna Oppermann ein aktiver und schöpferischer Prozess ist, - und wer würde dies ernstaft abstreiten wollen- dann haben wir hier einerstklassiges schema vorleigen, wie die künstlerin selbst den Rezeptionsprozess ihrer künstelrischen Arbetien aufgefasst hat. Hier wäre meines Erachtens nun der explizite Ansatzpunkt, bezüglich einer Theorie des Beobachters weiterzufahren. der Primärprozess ist ein Prozess der Verdichtung, der Verschiebung und der Darstellung der unbewußt erfahrenen Sinneszusammenhänge. Der Sekundärporzess überzieht die im Primärprozess zu Bewusstsein gelangten Gehalte einer sekundären Bearbeitung:

In Totem und Tabu (1912) schreibt Freud:

Eine intellektuelle Funktion in uns fordert Vereinheitlichung, Zusammenhang und Verständlichkeit von jedem Material der Wahrnehmung oder des Denkens, dessen sie sich bemächtigt und scheut sich nicht, einen unrichtigen Zusammenhang herzustellen, wenn sie infolge besonderer Umstände den richtigen nicht erfassen kann.

Man kann daher die sekundäre Beabreitung auch mit dem Begriff der Rationalisierung vergleichen. Der Beobachter bearbeitet das in der Wahrnehmungsexploration erfahrene Material in Richtung auf Vereinheitlchung, Zusammenhang und Verständlichkeit, also auf Stimmigkeit und Kohärenz. im Prinzip haben wir hier eine wunderbare Rezeptionstheorie vorleigen, die wir nur nutzen und ein wenig aktualisieren müssen.

Abb.14: Anna Oppermann: Kurzgefasstes Schema über die Art des Vorgehens im Ensemble

5. Soziale Milieus

Der dritte, wichtige Bereich einer systemischen Bildwissenschaaft stellt die genauere Untersuchung der Variablen von räumlicher Umgebung, zeitlicher Situation und sozialem Milieu dar, in denen sich die Begegnung von Bildern und Beobachtern ereignet.

Was ist überhaupt ein Milieu? Ältere Milieutheorien fassten darunter die Gesamtheit der natürlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten, die auf einen Menschen, eine Schicht oder eine soziale Gruppe einwirken. Das Milieu beeinflusst maßgeblich die Erfahrungen und damit zugleich die Art und Weise des Denkens, Bewertens und Entscheidens.

Abb. 15: Hans Dieter Huber: Skizze des Verhältnisses zwischen Bild, Beobachter, Milieu und äußerer Umwelt, 2003

In den siebziger und achtziger Jahren hat es immer wieder die verschiedensten Versuche gegeben, das Verhältnis eines Beobachters zu seiner Umgebung mit bestimmten Begrifflichkeiten zu formulieren. Ein historisch relativ alter Begriff ist Alfred Schütz' Konzept der Lebenswelt, der sich vom späten Edmund Husserl herleitet. auch Kurt Lewins Konzept des Lebensraums steht ebenso in dieser Tradition wie Aron Gurwitsch' Milieuwelt. In den sechziger und siebziger Jahren gibt es dann verschiedene Umwelt- und Situationstheorien.

Situation ist die (in ihrer Art immer einmalige) Wirklichkeit von Milieubeziehungen im Unterschied zur relativ dauernden Disposition, die wir mit Milieu bezeichnen. Situation ist aktuelles Milieu. (Adolf Busemann 1932, S. 14)

Der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze hat in seinem grundlegenden Buch Die Erlebnisgesellschaft von 1992 dem Milieubegriff zu einer erneuten Aktualität verholfen. Er geht von einem fundamentalen Wandel unserer Gesellschaft aus, nämlich dem Wandel von einer Schichten- und Klassengesellschaft zu einer Erlebnisgesellschaft. Durch die Vermehrung der persönlichen Möglichkeiten ist der Mensch immer mehr in die Lage versetzt, zu wählen, in welcher Szene oder in welchem Erlebnismilieu er sich aufhalten möchte. Statt zu einem, durch das Milieu und die soziale Situation weit gehend begrenzten, Verhaltensraum kommt es zu einer zunehmend intrinsisch gesteuerten und motivierten Auseinandersetzung mit der Umwelt.Milieus definieren sich durch gemeinsame oder ähnliche Lebensstile.

„Soziale Milieus seien demnach definiert als Personengruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben.“

Für Schulze ist der Milieubegriff sehr stark auf bestimmte Beobachtergruppen und ihre gemeinsamen Wahrnehmungs- und Kommunikationsstile bezogen.Der Milieubegriff ist Anfang der achtziger Jahre als ein Gegenbegriff gegen die Konzepte der Klassengesellschaft und der Modelle sozialer Schichtung entwickelt worden. das Argument hierfür war die zunehmende Auflösung sozialer schichten und klassengrenzen durch eine zunehmende räumliche mobilität.

 

Moore/Kleining (1960), S.91 Bolte (1967), S.316 Dahrendorf (1968), S.105

Abb.16: Verschiedene Schichtungsmodelle der deutschen Gesellschaft

gibt verschiedene Möglichkeiten, spezifische Milieus und ihre eigenen Stile und Lebensformen voneinander zu unterscheiden. Am einfachsten erscheint es mir im Moment, eine dreidimensionale Matrix verschiedener Milieucodierungen anzusetzen, in welche sich die verschiedenen Exemplare einordnen lassen.

Abb. 17: Hans Dieter Huber: Dreidimensionale Matrix verschiedener Milieus, 2003

Es zeigt sich nun, dass man eine erste, grobe Kategorisierung hinsichtlich der binären Codierungen sakral/profan, privat/öffentlich und individuell/gesellschaftlich mit ihren jeweils korrespondierenden Habiti und Stilen vornehmen kann. Aus dieser Matrix ergeben sich sechs extreme Milieutypen, zwischen denen verschiedene flexible und variable Übergangsformen existieren.

7. Soziale Milieus und das Werk von Anna Oppermann

Was bringt uns nun eine Anwendung der systemischen Begrifflichkeit von räumlicher Umgebung, zeitlicher Situation und sozialem Milieu für eine Analyse des Werkes von Anna Oppermann ? Wir haben definiert, dass sich soziale Milieus über gemeinsame Habiti und Lebensstile manifestieren. Lassen sich daher solche spezifischen Milieus auch bei den Beobachtern von Anna Oppermanns Kunst definieren? Rein analytisch gesprochen kann man sagen, dass diejenigen, die sich für Rauminstalltionen von Anna Oppermann interessieren, das sozale Milieu bilden, in welchem das Werk von Anna Oppermann immer weider neu situiert und sozial verortet wird.

Wir tun uns noch sehr schwer, den Begriff des Milieus auf die Werke Anna Oppermanns anzuwenden. In historischen Epochen fällt uns dies dagegen schon viel leichter. So lassen sich in der italienischen Wandmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts verschiedene höfische und städtische Milieus rekonstruieren mit entsprechenden Habiti, ein Versuch, den Jacques Le Goff unter anderem unternommen hat. Hier scheint es dagegen viel schwieriger zu sein. Wir stehen an einem Nullpunkt. Was man vielleicht generell sagen kann, ist, dass diese Werke primär für das Kunstsystem geschaffen worden sind, wie es sich besonders nach dem Zweiten Weltkrieg in Galerien, Kunstverein und Museumssystem ausdifferenziert hat. Damit ist natürlich das potentielle Publikum der Werke Anna Oppermanns das spezifische Publikum des Kunstsystems, das sich entweder durch einen ähnlichen sozioökonomischen Lebensstil oder Werthaltungen definiert oder -systemisch- durch die spezifische Codierung ihrer Kommunikationen und Anschlusskommunikationen unterscheiden lässt. Der Milieubegriff besitzt den Vorteil, dass er auf gemeinsame Wertorientierungen, Verhaltensweisen und Stile seiner Publika verweist.