Hans Dieter Huber


Die Abwesenheit des Anwesenden

(oder)

Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren

Spätestens seit Sartres 'Das Sein und das Nichts' weiß man, daß die Dinge niemals vollständig wahrgenommen werden können, sondern immer nur in fragmentarischen Ausschnitten und Abschattungen. Der Grund dafür liegt in der Perspektivität unserer Erfahrung und in der Begrenztheit unserer Existenz. Jeder wahrgenommene Gegenstand steht daher in einer fundamentalen Beziehung sowohl zum Sichtbaren wie zum Unsichtbaren. Seine Oberflächen sind zugleich die Grenzen zum Unsichtbaren, das an ihnen haftet bzw. zum nichts, das an sie grenzt. Beobachten können wir immer nur Oberflächen. Was hinter ihnen liegt, können wir nur vorstellen, denken oder wissen, aber nicht sehen.

 

Andreas M. Kaufmann öffnet die Oberfläche einer Wand, indem er einen Türspion in ihr anbringt, der eine verzerrte ,traumhafte und völlig irreale Sicht auf die dahinter liegenden Raumkompartimente der Transformatorenstation freigibt. Es gibt aber keine Möglichkeit, diese Freigabe der Oberfläche für den Blick zu überprüfen. Wir können uns nicht von der Zuverlässigkeit des Durchblicks überzeugen, indem wir hinter die Wand gehen, sondern wir müssen der Konstruktion und unseren Augen vertrauen. Wir sind unserem Blick und seiner vermeintlichen Präsenz schonungslos ausgeliefert.

Auf diese Weise sind die sichtbaren Phänomene stets von einem Hof aus Vorstellungen, Imaginationen und Mythen umgeben, mit denen wir unsere Angst vor der Unbeobachtbarkeit des Abwesenden, dem Dunklen, dem Anderen oder dem Fremden kompensieren. Wir ergänzen das, was wir nicht beobachten können, durch unsere Vorstellungen und unser Wissen. Doch genau hier, in unserer Imagination, lauern die Systeme des Begehrens und der Täuschung. Der polnische Philosoph Roman Ingarden hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Leerstelle in die Ästhetik eingeführt. Er argumentierte, daß in der Literatur und in der Kunst zahlreiche Bestimmungen offengelassen werden, die später durch subjektive Konkretisationen des Betrachters aufgefüllt werden können und müssen.


Die Märchen von Sam Samore enthalten Brüche, Verschiebungen und Verlagerungen, die die erzählerische Logik des Handlungsablaufes unterbrechen und eine Unbestimmtheit der Handlungssituation entstehen lassen, die durch die subjektiven Vorstellungen des Hörers ergänzt werden muß. Diese Ergänzung der Leerstellen ist von ganz entscheidener Bedeutung für die Märchen Sam Samores. Sie erweitern den Bereich des Hörbaren um einen unkalkulierbaren Bereich der Imagination oder kognitiven Phantasie, die bei jedem Hörer ein anderer ist. Somit trifft ein identisch Anwesendes auf ein differentes Anderes, das nur als Abwesenheit, als Lücke gedacht werden kann.


An jedem Kunstwerk kann eine Differenz beobachtet werden, die weder überbrückt noch re-integriert werden kann: der Unterschied zwischen dem, was auf der Oberfläche des Werkes vorhanden ist und dem, was nicht vorhanden ist. Diese Differenz hängt mit den Referenzen des Werkes zusammen. Ein Kunstwerk kann als Symbolsystem auf nicht Anwesendes Bezug nehmen. Die Referenz läuft dann aus dem Kunstwerk hinaus in die Welt. Kunst ist in dieser Funktion nur ein Stellvertreter für Abwesendes.


Die Staubskulptur von Erwin Wurm ist ein solcher Stellvertreter. Zuerst wird eine rechteckige, flache Form, ein zufällig gefundenes Holzstück, auf den Boden gelegt. Danach wird Hausstaub mit einem feinen Sieb über diese Fläche und die angrenzenden, nicht abgedeckten Bodenpartien gesiebt. Anschließend wird das Brett vorsichtig wieder abgehoben. Auf diese Weise entsteht auf dem Boden eine sich von außen nach innen verdichtende Form aus Staub, die mit einer harten Grenze auf die ausgesparte Innenform trifft. Die Form des Werkes verweist auf die nicht vorhandene Innenform als etwas Abwesendes, Fehlendes, nicht Darstellbares, dessen Existenz durch den Beobachter nur ergänzt oder vorgestellt werden kann.


Kunst kann aber auch auf etwas verweisen, was tatsächlich anwesend ist. Sie kann auf sich selbst hinweisen. Man hat dies als Selbstreferenz bezeichnet. Indem Kunstwerke auf sich selbst aufmerksam machen, betonen sie ihre Autonomie, ihre Selbstreferentialität und verstärken damit ihren Anspruch auf eine radikale und kompromisslose Freiheit von jeglichen dienenden Zwecken.


Der heizbare Spiegel von Heimo Zobernig macht physisch auf sich selbst aufmerksam, indem er dem Betrachter durch eine verstärkte Wärmeempfindung eine Abweichung gegenüber der normalen Funktion von Spiegeln anzeigt. Das kalte Spiegelbild wird künstlich erwärmt. Das Ich und das Andere, in Lacans Sprache das 'Je 'und das 'Moi', begegnen sich im Spiegel. Das Bild des Spiegels ist eine wichtige Voraussetzung zur Herausbildung sozialer Identität. Das Ich im Spiegel ist ein Anderer. Das vom Selbst entfremdete Ich wird durch eine Heizschlange hinter dem Spiegelglas erwärmt. Vor dem Spiegel ist die Wärme im Raum spürbar. Die Heizschlange erwärmt den Raum, worauf der Spiegel so heiß wird, daß man ihn nicht mehr anfassen kann. Das Bild immaterialisiert sich durch seine Un-greifbarkeit.


Als Stellvertreter von Abwesendem machen Kunstwerke dagegen auf Teile oder Bereiche von Welt, die ausserhalb des Kunstwerks liegen, aufmerksam. Sie lenken den Blick und die Aufmerksamkeit eines Beobachters von sich selbst ab und auf anderes. Damit haben sie eine dienende Funktion. Kunst wird als Mittel zum Zweck instrumentalisiert, als Medium externer Referenzen benutzt.


Bei Anatolij Shuravlev wird die trügerische Oberfläche des Anwesenden so sehr an den Punkt des Unsichtbaren herangeführt, daß beide fast identisch werden. Die winzigen, nur 7x9 mm grossen Oberflächen sind nur noch Kondensationskerne, aber keine Stellvertreter oder Platzhalter mehr. Es handelt sich um Abbildungen von Graphiken Brasilienreisender des 17. Jahrhunderts, die sehr stark heimatlichen Landschaften ähneln. Jede kulturelle Differenz ist in ihnen ausgelöscht worden. Die Stellvertreterfunktion wird hier so stark verdünnt, dass eine untere Wahrnehmungsschwelle erreicht bzw. unterschritten wird, die das Sichtbare in den Bereich des Unsichtbaren, der kulturellen Projektion verschiebt. Wie in einem Schlauch, der sich in seine eigene Oberfläche ausstülpt, tritt das Unsichtbare als re-entry, als Wiedereintritt des Unterschiedenen (das Sichtbare) in die Unterscheidung selbst (Sichtbares/Unsichtbares) wieder ein und macht dabei die benutzte Unterscheidung selbst sichtbar.


Wendet der Beobachter seine Aufmerksamkeit auf das Dargestellte, blickt er durch das Werk hindurch wie durch ein Fenster, einen transparenten Stellvertreter oder Platzhalter, auf die Welt. Wendet er seine Aufmerksamkeit dagegen dem Kunstwerk selbst zu, blickt er auf die Materialität des Kunstwerks, auf seine Präsenz oder Anwesenheit in der Gegenwart. Die Materialitäten eines Werkes garantieren seine Identität und seine Originalität, also seine historische Authentizität.


Die Arbeit 'Untitled (Schupfnudeln)' von Rirkrit Tiravanija ist auf den ersten Blick denkbar einfach. Man frägt sich, was sie mit Kunst zu tun haben soll. Ein Schupfnudelrezept als Kunstwerk? Das Rezept sollte nach Tiravanijas Vorstellungen vom Kurator möglichst unprätentiös gekocht werden und wurde zur Eröffnung von den anwesenden Gästen verspeist. In der Ausstellung selbst sind die Reste der Mahlzeit sowie die Kochutensilien zu sehen: der Tisch, die Kochplatten, die Pappteller mit den Essensresten. Gerüche von Sauerkraut durchziehen noch einige Wochen die Ausstellungsräume. Das, was noch anwesend ist, verweist in einem ganz direkten und unmittelbaren Sinne auf etwas Abwesendes. Das Anwesende ist eine Spur, die an den Ursprung des Werkes zurückweist, der nicht (mehr) existiert. Die Menschen fehlen, die mit Hilfe ihrer Eß-Kultur das Mahl zubereitet haben und in ihrer kulturspezifischen Tradition verzehrt haben. Die ausgestellten Gegenstände verweisen auf diese Form der Kultur und die Form der sozialen Gemeinschaft ihrer Benutzer.


Beide Weisen des Bezeichnens, Selbstreferenz und Fremdreferenz, sind als die zwei grundlegenden Symbolisierungsmöglichkeiten der Kunst immer im Spiel. Wie zwei Seiten ein und derselben Unterscheidung funktionieren sie nur in ausschliesslicher Differenz zueinander. Wenn man das Werk und seine selbstreferentiellen Eigenschaften beobachtet, ist ein Blick auf das Abwesende, Unsichtbare nicht gleichzeitig möglich. Bei einem Blick auf die externen Referenzen von Kunst gerät das Kunstwerk jedoch aus dem Zentrum der Beobachtung.


Die leere Whiskyflasche von Simone Westerwinter bleibt nur noch ein Hinweis, ein Relikt, ein Beweisgegenstand, eine Spur, ein auslösendes Moment für eine Geschichte, eine Handlung, einen mündlichen Kontext, dessen zusammenhang nur wenige kennen.


Ereignisse und Handlungen sind flüchtig. Sie existieren nur in dem Moment, in dem sie ausgeführt werden. Danach sind sie wieder für immer verschwunden. Handlungen können zwar Spuren in der Welt hinterlassen oder man kann sie mit Hilfe verschiedener Medien aufzeichnen. Aber jede noch so perfekte Aufzeichnung, jede Spur, jede Erinnerung ist nur eine Reliquie, ein oberflächlicher Platzhalter, ein Vertreter für etwas, was nicht anwesend ist, was nicht anwesend sein kann, weil es längst vergangen und verschwunden ist.


Um was geht es in der Aktion Westerwinters? Daß man hinterher sagen kann, man hätte den Kurator der Ausstellung betrunken gemacht, daß man dabei war, daß die halbe Nacht durchgezecht wurde? Es geht wahrscheinlich um Künstlermythen, Ausstellungsmythen, Authentizitätsmythen im Sinne des "Ich war dabei." In diesem Sinne verweist die leere Whiskyflasche als Reliquie auf einen Zustand der Welt, in der Kunstereignisse nur noch als etwas Abwesendes, Verlorenes gedacht werden können, aber nicht als etwas Anwesendes, Authentisches.


Wie können wir die Welt als anwesend denken? Das war die Frage, die Sartre und Merleau-Ponty zeit ihres Lebens beschäftigt hat. Die Kunst entschädigt uns für diesen Verlust, indem sie uns eine raffinierte Präsenz herstellt, an die wir glauben, die wir in ästhetischer Erfahrung gerne konsumieren. Kunstwerke scheinen damit in einer Paradoxie gefangen zu sein. Auf der einen Seite sind sie sichtbare Oberflächen aus Formen, Farben, Materialien oder Massen. Auf der anderen Seite sind sie transparente Platzhalter. Sie sind Verweise auf etwas, was nicht anwesend ist, was eben nicht mit den Mitteln der Kunst dargestellt werden kann.


An einem messingeloxierten, vierkantigen Wandhaken hängt die Plexiglasscheibe im Format 32 x 25 cm mit polierten Kanten von Gerwald Rockenschaub. Sie ist transparent. Der Blick des Betrachters fällt durch das Werk hindurch auf die normalerweise von ihr verdeckte Wand. Da das Werk in seiner Sichtbarkeit stark reduziert ist, wird die Umgebung, in der es sich befindet, umso bedeutender. Damit transformiert das Werk das normalerweise Unsichtbare der Umgebung in die sichtbare Anwesenheit eines Hintergrundes, der alles bedingt. In seiner Bedeutung als Bezugspunkt, Ressource, Anker, Rahmen, Hintergrund oder Horizont für die Kunst wird die unmittelbare Umgebung des Kunstwerks zum Gegenstand von Beobachtung und das Werk selbst zum blinden Fleck der ästhetischen Erfahrung.


Jedes Kunstwerk führt diese Differenz als eine Spaltung an seiner Oberfläche vor, an der sich der Sinn zweiteilt. Er teilt sich in einen Sinn, der wieder in das Kunstwerk zurückführt und mit dessen Hilfe man über Authentizität, Glaubwürdigkeit oder Originalität von Farbe als Farbe, von Material als Material, von Oberfläche als Oberfläche, von Werk als Werk diskutieren kann.


Bei der Arbeit 'Bilateral Dead Papyrus' von Vincent Shine meinen wir auf den ersten Blick, zwei echten, verwelkten und abgestorbenen Papyruspflanzen zu begegnen, die mit Nadeln an die Wand geheftet wurden. Erst ein zweiter, prüfender Blick läßt erkennen, daß man es mit einem vollkommenen Artefakt zu tun hat, das genauestens konstruiert worden ist. Es besteht aus zwei achsensymmetrisch angeordneten Pflanzenimitationen, die sich in dieser perfekten Symmetrie nicht in der Natur finden lassen. Die Oberflächen, die so natürlich und echt aussehen, bestehen aus Kunststoffen wie Ethylen-Vinyl-Acetat, Polyether-Methacrylat und Cyan-Acrylsäure-Ester.


Das andere Doppel des Sinns, das sich an der Oberfläche abspaltet, läuft vom Kunstwerk weg. Es läuft in die Welt hinaus und kehrt nicht mehr in die Kunst zurück. Es wird zur Imagination, zur geistigen Vorstellungsleistung eines bestimmten Beobachters. Es ist der Verweis auf das Abwesende, auf das, was im Bild selbst nicht anwesend sein kann, weil es mit dem Medium der Kunst nicht hergestellt werden kann, sondern nur als Verweis, als Referenz gehandhabt werden kann. Das Dargestellte ist an der Oberfläche des Werkes abgespalten worden und kann - mit den Mitteln der Kunst - nicht mehr zurückgewonnen werden. Es muß als totaler Verlust abgebucht werden. Die Präsenz der Oberfläche ist eine Falle. Wer zu sehr seinen Augen vertraut, wird von der Gegenwart des Sichtbaren eingefangen.


Bei der Arbeit 'Kleiner Kübel' von Fischli/Weiss würde man auch noch aus nächster Nähe wetten, daß er echt ist. Erst, wenn man seine visuelle Wahrnehmung durch die tastende Hand zu überprüfen versucht, be-greift man im wörtlichen Sinne, dass die Oberfläche nur eine leere Präsenz ist, ein transparenter Platzhalter für einen echten Kübel. Aber in dem Moment, in dem man das be-greift, ist es schon zu spät. Die Gegenwart hat sich in die Abwesenheit des Anwesenden verwandelt. Man ist bereits in die Falle gelaufen. Man hat die Entfaltung der Paradoxie der Kunst am eigenen Leib als Kunsterfahrung erfahren. Das Sehen als zuverlässiges Sinnesorgan zur Weltorientierung erweist sich als trügerisch und unzuverlässig. Die Präsenz ist korrumpierbar, die Gegenwart der Dinge trügerisch und brüchig. Wo ist die Welt?

Jedes Kunstwerk ist in eine unauflösbare Ursprungsparadoxie eingebettet. Nur durch ihre Entfaltung auf eine der beiden Seiten, nämlich entweder in Richtung Sichtbares oder Abwesendes, kann dieser paradoxale Ursprung aus der Wahrnehmung ausgeschaltet werden. Was immer also an Kunst zu beobachten ist, ist die Entfaltung einer Paradoxie, die sich selbst der Beobachtung entzieht. Es besteht nur die Möglichkeit statt des Unbeobachtbaren Formen zu beobachten und dabei zu wissen, daß dies in der Weise der Entfaltung einer Paradoxie geschieht.
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