Hans Dieter Huber 

Systemische Bildwissenschaft


First Installation:28.04.04 Last Update: 30.04.04


erscheint in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung. Köln. Herbert van Halem Verlag 2004 (in Vorbereitung)

1. Aufgaben einer allgemeinen Bildwissenschaft

In meinem Ansatz unterscheide ich drei verschiedene Arten von Bildwissenschaften: eine allgemeine, eine spezielle und eine historische Bildwissenschaft. Eine allgemeine Bildwissenschaft unterscheidet sich von einer speziellen und einer historischen Bildwissenschaft vor allem dadurch, dass sie weder bestimmte Bildmedien behandelt noch historische Rekonstruktionen vornimmt. Sie bleibt insofern allgemein, als sie eine allgemeine Einführung in das grundlegende Verhältnis zwischen Bildern, Beobachtern und Milieus gibt, ohne auf einzelne Medien oder Werke genauer einzugehen. Insofern ist eine allgemeine Bildwissenschaft notwendigerweise unhistorisch und unspezifisch. Sie legt dafür die Verhältnisse systematisch dar. Eine allgemeine Bildwissenschaft argumentiert allgemein und unhistorisch. Sie entwickelt die ontologischen und epistemologischen Grundlagen von Bildern, Beobachtern und ihren Milieus auf eine allgemeine, für alle Bildmedien gültige Art und Weise.
Eine spezielle Bildwissenschaft argumentiert dagegen nicht allgemein, sondern medienspezifisch, aber ebenfalls unhistorisch. Sie untersucht statt dem Allgemeinen das Besondere an Bildern. Statt gemeinsame Grundlagen herauszuarbeiten, schärft sie den Blick für die spezifischen Differenzen zwischen einzelnen Bildmedien, unterschiedlichen Beobachtern und verschiedenen Milieus. Sie beschreibt die unterschiedlichen Organisationsweisen und Strukturen verschiedener Bildmedien, die unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten verschiedener Beobachter sowie die verschiedenen sozialen Milieus. Statt einer Erkenntnistheorie des Bildes lässt sich hier eine spezielle Bildmedienwissenschaft entwickeln, in der die unterschiedlichen Strukturen und Funktionen der einzelnen Bildmedien in Differenz und Absetzung voneinander behandelt werden.
Eine historische Bildwissenschaft würde unter Absehung des Allgemeinen und des Medienspezifischen den Versuch unternehmen, den historischen Wandel von Bildern in ihrem Verhältnis zu bestimmten, historischen Beobachtern und bestimmten historischen Milieus und Lebensstilen zu rekonstruieren. Sie wäre im Prinzip eine Erzählung, welche die Geschichte von Bildern, Beobachtern und Milieus von den ersten Elfenbeinschnitzereien und Höhlenmalereien bis zum heutigen Zeitpunkt erzählen würde.

 

2. Ziele einer systemischen Bildwissenschaft

Die Ziele einer systemischen Bildwissenschaft liegen im Beschreiben, Interpretieren, Vermitteln und Verstehen der spezifisch ästhetischen, gesellschaftlichen und historischen Funktionsweisen von Bildern oder Bildmedien in unserer Gesellschaft. Dazu ist eine Ausbildung spezifischer Bildlesekompetenzen notwendig.

 

3. Die Trilogie von Bild, Beobachter und Milieu

Die systemische Bildwissenschaft geht von einer irreduziblen Trilogie zwischen einem Bild, einem Beobachter und einem spezifischen Milieu aus, in welches beide eingebettet sind.


Abb. 1: Hans Dieter Huber: Der trilogische Raum von Bild, Beobachter und Milieu: Schnitt durch den Äquator, 2003


Ein Beobachten von Bildern ohne Beobachter ist nicht möglich. Systemische Bildwissenschaft geht davon aus, dass eine Beobachtung von Bildern ohne einen konkreten und bestimmten Beobachter nicht möglich ist. Dieser Beobachter kann ein lebender Organismus, aber auch eine Maschine sein (zum Beispiel ein intelligenter Agent). Bild und Beobachter sind beide in spezifische Milieus einbettet. Diese Bestimmung ist insofern von Bedeutung, als hier erstens das Verhältnis zwischen Bildern und ihren ästhetischen, sozialen, institutionellen, ökonomischen, politischen oder kulturellen Milieus beschrieben sowie zweitens das Verhältnis zwischen Beobachtern, ihren sozialen Milieus und den darin gepflegten Lebensstilen und Existenzformen genauer untersucht werden kann. Löst man ein Bild in der Interpretation aus seinem ursprünglichen Original-Milieu heraus, führt dies zu Artefakten und unter Umständen zu falschen Ergebnissen. Bild und Beobachter sind zum Zeitpunkt ihrer Begegnung immer in dasselbe Milieu einbettet. Es gibt keine Möglichkeit, dass sich Bild und Beobachter, wenn sie sich begegnen, in zwei verschiedenen Milieus befinden. Diese Tatsache ist von Bedeutung, da das Milieu voreinstellende und verhaltenskalibrierende Wirkungen auf den Beobachter hat. Es stellt es ihn darauf ein, welche Arten von Bildern er in diesem Milieu höchstwahrscheinlich zu erwarten hat, wie er sich diesen Bildern gegenüber angemessen zu verhalten hat, wie er ihre ästhetische, gesellschaftliche oder historische Funktion verstehen soll, was als eine angemessene und adäquate Form des Handelns und Reagierens gegenüber diesen Bildern gilt.
Man kann keines dieser drei Bestimmungstücke aus einer systemischen Bildwissenschaft entfernen oder eines der drei Elemente auf die beiden anderen reduzieren. Ohne Bilder gibt es keine Bildwahrnehmung, ohne Beobachter gibt es keine Interpretation von Bildern, und ohne ein umgebendes Milieu gibt es keine Situation, in der sich ein Bild und ein Beobachter jemals begegnen könnten. Diese Trilogie ist also grundlegend. Sie stellt die Ausgangssituation jeglicher bildwissenschaftlichen Untersuchungstätigkeit dar.
Wenn man die Ausgangssituation der Trilogie räumlich erweitert, erhält man eine dreidimensionale Kugel, die den Möglichkeitsraum der Bildwissenschaft repräsentiert


Abb. 2: Hans Dieter Huber: Trilogischer Kugelraum einer systemischen Bildwissenschaft, 2003.

4. Verschiedene Systemdefinitionen

Wie das Adjektiv systemisch zum Ausdruck bringt, wird die Situation, in der sich die Begegnung von Beobachtern mit Bildern in einem speziellen Milieu ereignet, als ein soziales System begriffen. Aber auch das Bild selbst wird als ein System aufgefasst. Der Beobachter wird als ein lebendes, sich selbst reproduzierendes, autopoietisches System verstanden. Das Milieu wird als Umwelt, Umgebung oder Situation aufgefasst.
In einer allgemeinen, systemischen Bildwissenschaft kann man drei verschiedene Bereiche voneinander unterscheiden:

a) Das Bild als ein System
b) Der Beobachter als ein System
c) Das Milieu als ein System

Als eine erste, allgemeine Systemdefinition möchte ich folgende Definition begreifen:

Ein System besteht aus Einheiten, die in wechselseitiger Interaktion miteinander stehen. Was als Grenze einer Einheit, eines Teilsystems oder des ganzen Systems aufgefasst wird, bestimmt der Beobachter mit Hilfe seiner Wahrnehmungsunterscheidungen und Bezeichnungen.

Von dieser allgemeinen Systemdefinition kann man nun spezifische Definitionen für Bilder, für Beobachter und für Umgebungen ableitenSo kann man ohne Weiteres von Bildern als Systemen sprechen. Es kommt darauf an, welches man als seine grundlegenden Einheiten betrachtet:

Ein Bild als System besteht aus einzelnen Bestandteilen, die man als seine grundlegenden Einheiten bezeichnen kann. Zwischen den Einheiten eines Bildes lassen sich verschiedene Formen von Interaktionen beobachten. Die Beschreibung der Einheiten und ihrer Interaktionsmöglichkeiten ergibt die Struktur des Bildsystems als seinen tatsächlichen Zustand zum Zeitpunkt der Beschreibung. Was als eine Einheit in einem Bildsystem gilt und was als komplexes, zusammengesetztes Subsystem aufgefasst wird, ist das Resultat der Unterscheidung und Bezeichnung eines bestimmten Beobachters.

Es bietet sich an, bei Bildern drei verschiedene Systemebenen von einander zu unterscheiden: den materiellen Bildträger, die bildliche Darstellung und die Bildreferenz. Auf der Ebene des physischen Bildträgers bestehen die Einheiten je nach Bildmedium aus Pigmenten, Bindemitteln und Trägermaterialien wie Papier, Holz, Leinwand, Metall, Putz, und so weiter. In den Neuen Medien können hier auch sehr komplexe physische Systeme, wie Monitore, Beamer, Computer und so weiter, auftreten.
Die zweite Systemebene eines Bildes ist die Ebene der bildlichen Darstellung. Hier lassen sich als relevante Einheiten Formen, Farben oder Formate voneinander unterscheiden. Sie ist einem Beobachter nur in reiner Sichtbarkeit zugänglich und durch keinen anderen Sinn erfahrbar. Sie kann nicht gehört, geschmeckt, gefühlt oder gerochen werden. Sie kann nur gesehen werden, und hierfür ist ein Beobachter mit zwei funktionierenden Augen und einem emotional-kognitiven System notwendig.
Auf der Ebene der Bildreferenz haben wir es dagegen mit Begriffen und semantischen Netzwerken zu tun. Die Bedeutung eines Bildes ist ein System aus Begriffen, die ein Beobachter mit Hilfe seiner Wahrnehmungen, Vorstellungen, Assoziationen, Erinnerungen, Gefühlen, seines Denkens und Handelns konstruiert hat. Die Bedeutung eines Bildes entsteht im tatsächlichen Gebrauch eines Beobachters in einem bestimmten Milieu. Man kann dieses, im Beobachter entstehende System von Gedanken auch als semantisches Netz bezeichnen. Die entscheidenden Schnittstellen für den Übergang von einem an der Wand befindlichen materiellen Bild in die Mentalität eines Beobachters stellen die zahlreichen Stellen von Unbestimmtheit in einem Bilde dar. Denn es ist nicht alles in einem Bilde dargestellt, was in der Wirklichkeit durch ein aktives, exploratives Wahrnehmungsverhalten und -handeln bestimmt werden könnte. Dem in einem Bild dargestellten Referenzobjekt können wir uns jedoch überhaupt nicht nähern, da es gar nicht anwesend ist und nur als Bild in reiner Sichtbarkeit erfahrbar ist. Hier treten die Vermögen der bildhaften Vorstellung, Phantasie oder Einbildungskraft in ihre Funktion. Der Beobachter projiziert aus sich heraus in diese Leerstellen und füllt sie auf subjektive, von der bildlichen Darstellung nicht gedeckte Weise.

5. Der Begriff des Milieus

Es hat im 20. Jahrhundert eine weit verzweigte Diskussion darüber gegeben, was alles zu einem Milieu zählt. Dabei wurde der Begriff einerseits sehr ausgeweitet, auf der anderen Seite aber auch zu sehr eingeschränkt. So definiert etwa Brockhaus sehr umfassend:

Ein Milieu umfasst die Gesamtheit der natürlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten, die auf einen Menschen, eine Schicht oder eine soziale Gruppe einwirken. Das Milieu beeinflusst maßgeblich die Erfahrungen und damit zugleich die Art und Weise des Denkens, Wertens und Entscheidens. (Brockhaus 1994).

Eine wichtige Unterscheidung ist etwa die zwischen wirksamem und erlebtem Milieu. Entweder ist beides Milieu, oder nur das erlebte Milieu ist ein Milieu und das Wirksame nur Umwelt. So definiert z.B. Max Scheler:

Es mag vielerlei objektiv auf mich ›wirken‹ – z.B. elektrische und magnetische Ströme, Strahlen aller Art, die ich nicht empfinde usw. –, was sicher nicht zu meinem ›Milieu‹ gehört; so wenig wie, was ich ererbt habe, zu meiner ›Tradition‹ gehört. Nur das auf mich als wirksam Erlebte gehört dazu. ›Milieu‹ ist also nur das, was ich als ›wirksam‹ erlebe. (Scheler 1966: 153 f.)


Es ist also sinnvoll, ein Außen des Milieus zu konzipieren, das selbst nicht Milieu ist, das aber auf dieses Milieu und seine interne strukturelle Dynamik einwirken kann. Dieses außen von Milieus bezeichne ich als äußere Umwelt. In ihr sind alle natürlichen, physischen und wirksamen Einflüsse, dasjenige, was Willy Hellpach die geopsychischen Erscheinungen genannt hat (Hellpach 1917), aufgehoben.
Ein Milieu ist ein bestimmter Ausschnitt oder ein spezieller Bereich aus der gesamten Umwelt eines Beobachters. Ein Milieu besitzt eine unscharfe Grenzzone und damit auch ein Außen, das nicht Milieu ist und auf dieses und seine Individuen einwirkt. Dieser Ausschnitt zeichnet sich durch die Entwicklung ähnlicher Existenzformen und Lebensstile aus. Gerhard Schulze definiert soziale Milieus als Personengruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben (Schulze 1992: 174). Milieus zeichnen sich demnach durch eine höhere Konnektivität ihrer Existenz- und Kommunikationsformen aus.


Abb. 3: Hans Dieter Huber: Skizze des Verhältnisses zwischen Bild, Beobachter, Milieu und äußerer Umwelt, 2003


Das Milieu übt die Funktion eines Kontrollfeldes aus. Es steuert, stellt ein oder kontrolliert die Begegnung zwischen Bild und Beobachter.

 

6. Bildungsaufgaben einer systemischen Bildwissenschaft

Die Ausbildung dieser Kompetenzen zur Bildproduktion und Bildrezeption in Kindergarten, Schule, Hochschule und außerschulischer Erwachsenenbildung stellt ein wichtiges Bildungsziel systemischer Bildwissenschaft dar. Die Mitglieder unserer Gesellschaft müssen dringend zu einem kritischen, selbstbewussten und reflektierten Umgang in der Produktion und Rezeption von Bildern und Bildmedien ausgebildet werden. Wir leisten uns in unserer Gesellschaft eine folgenschwere Unterschätzung der bildhaften, visuellen und sinnlichen Weltzugänge. Mathematisch-naturwissenschaftliche und sprachlich-diskursive Weltzugänge werden in der Bildungssituation nach PISA eindeutig bevorzugt. Dies stellt einen Rückfall in einen reduktiven Materialismus dar, in dem nichts eine Geltung hat, was sich nicht auf ein Naturgesetz zurückführen lässt. Mit dieser einseitigen Ausrichtung unserer Ausbildung auf Sprache und Logik fallen wir in die 50er Jahre, in den Kalten Krieg der Ausbildungssysteme, zurück. Dies kommt einer einseitigen Betonung und Bevorzugung bestimmter menschlicher Fähigkeiten gleich, die den grundlegenden fundamentalen und existentiellen bildhaften Zugang zur Welt, den wir besitzen und mit den Begriffen der Phantasie, der Imagination und des bildhaften Vorstellungsvermögens umschreiben, außer acht lassen und vernachlässigen. Wir leisten uns in Deutschland ein visuelles Analphabetentum in dem Ausmaß einer Bananenrepublik der Dritten Welt. Das einzige Fach, welches sich diesen grundlegend bildhaften Weltzugängen in der Schule stellt, ist die Kunstpädagogik. Für dieses Fach müssen Unterichtssmodule und didaktische Ansätze zur Entwicklung einer kritischen, emanzipierten Bildlesekompetenz entwickelt werden.

Literaturverzeichnis

Brockhaus. (Hrsg.): Die Enzyklopädie in 24 Bänden. 20. Aufl., Bd. 14. Leipzig, Mannheim 1994, S. 645
Hellpach, Willy: Die geopsychischen Erscheinungen. Wetter, Klima und Landschaft in ihrem Einfluss auf das Seelenleben. 2. Aufl. Leipzig: Wilhelm Engelmann 1917
Huber, Hans Dieter. Bild, Beobachter, Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2004
Schulze, Gerhard: Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M., New York: Campus-Verlag 1992
Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. 5. Aufl. Bern, München: Francke Verlag 1966


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