erscheint
in:
Klaus Sachs-Hombach
(Hg.): Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung. Köln.
Herbert van Halem Verlag 2004 (in Vorbereitung)
In meinem Ansatz
unterscheide ich drei verschiedene Arten von Bildwissenschaften: eine allgemeine,
eine spezielle und eine historische Bildwissenschaft. Eine
allgemeine Bildwissenschaft unterscheidet sich von einer speziellen und einer
historischen Bildwissenschaft vor allem dadurch, dass sie weder bestimmte
Bildmedien behandelt noch historische Rekonstruktionen vornimmt. Sie
bleibt insofern allgemein,
als sie eine allgemeine Einführung in das grundlegende Verhältnis
zwischen Bildern, Beobachtern und Milieus gibt, ohne auf einzelne Medien
oder Werke genauer einzugehen. Insofern ist eine allgemeine Bildwissenschaft
notwendigerweise
unhistorisch und unspezifisch. Sie legt dafür die Verhältnisse
systematisch dar. Eine allgemeine Bildwissenschaft argumentiert allgemein
und unhistorisch.
Sie entwickelt die ontologischen und epistemologischen Grundlagen von Bildern,
Beobachtern und ihren Milieus auf eine allgemeine, für alle Bildmedien
gültige Art und Weise.
Eine spezielle Bildwissenschaft argumentiert dagegen nicht allgemein, sondern
medienspezifisch, aber ebenfalls unhistorisch. Sie untersucht statt dem Allgemeinen
das Besondere an Bildern. Statt gemeinsame Grundlagen herauszuarbeiten, schärft
sie den Blick für die spezifischen Differenzen zwischen einzelnen Bildmedien,
unterschiedlichen Beobachtern und verschiedenen Milieus. Sie beschreibt die
unterschiedlichen Organisationsweisen und Strukturen verschiedener Bildmedien,
die unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten verschiedener Beobachter sowie
die verschiedenen sozialen Milieus. Statt einer Erkenntnistheorie des Bildes
lässt sich hier eine spezielle Bildmedienwissenschaft entwickeln, in der
die unterschiedlichen Strukturen und Funktionen der einzelnen Bildmedien in
Differenz und Absetzung voneinander behandelt werden.
Eine historische Bildwissenschaft würde unter Absehung des Allgemeinen
und des Medienspezifischen den Versuch unternehmen, den historischen Wandel
von Bildern in ihrem Verhältnis zu bestimmten, historischen Beobachtern
und bestimmten historischen Milieus und Lebensstilen zu rekonstruieren. Sie
wäre im Prinzip eine Erzählung, welche die Geschichte von Bildern,
Beobachtern und Milieus von den ersten Elfenbeinschnitzereien und Höhlenmalereien
bis zum heutigen Zeitpunkt erzählen würde.
Die Ziele einer systemischen Bildwissenschaft liegen im Beschreiben, Interpretieren, Vermitteln und Verstehen der spezifisch ästhetischen, gesellschaftlichen und historischen Funktionsweisen von Bildern oder Bildmedien in unserer Gesellschaft. Dazu ist eine Ausbildung spezifischer Bildlesekompetenzen notwendig.
Die systemische Bildwissenschaft
geht von einer irreduziblen Trilogie zwischen einem Bild, einem Beobachter
und einem spezifischen Milieu aus, in welches
beide eingebettet sind.
Abb. 1: Hans Dieter Huber: Der trilogische Raum von Bild,
Beobachter und Milieu: Schnitt durch den Äquator, 2003
Ein Beobachten von Bildern ohne Beobachter ist nicht möglich. Systemische
Bildwissenschaft geht davon aus, dass eine Beobachtung von Bildern ohne einen
konkreten und bestimmten Beobachter nicht möglich ist. Dieser Beobachter
kann ein lebender Organismus, aber auch eine Maschine sein (zum Beispiel ein
intelligenter Agent). Bild und Beobachter sind beide in spezifische Milieus
einbettet. Diese Bestimmung ist insofern von Bedeutung, als hier erstens das
Verhältnis zwischen Bildern und ihren ästhetischen, sozialen, institutionellen, ökonomischen,
politischen oder kulturellen Milieus beschrieben sowie zweitens das Verhältnis
zwischen Beobachtern, ihren sozialen Milieus und den darin gepflegten Lebensstilen
und Existenzformen genauer untersucht werden kann. Löst man ein Bild in
der Interpretation aus seinem ursprünglichen Original-Milieu heraus, führt
dies zu Artefakten und unter Umständen zu falschen Ergebnissen. Bild und
Beobachter sind zum Zeitpunkt ihrer Begegnung immer in dasselbe Milieu einbettet.
Es gibt keine Möglichkeit, dass sich Bild und Beobachter, wenn sie sich
begegnen, in zwei verschiedenen Milieus befinden. Diese Tatsache ist von Bedeutung,
da das Milieu voreinstellende und verhaltenskalibrierende Wirkungen auf den
Beobachter hat. Es stellt es ihn darauf ein, welche Arten von Bildern er in
diesem Milieu höchstwahrscheinlich zu erwarten hat, wie er sich diesen
Bildern gegenüber angemessen zu verhalten hat, wie er ihre ästhetische,
gesellschaftliche oder historische Funktion verstehen soll, was als eine angemessene
und adäquate Form des Handelns und Reagierens gegenüber diesen
Bildern gilt.
Man kann keines dieser drei Bestimmungstücke aus einer systemischen Bildwissenschaft
entfernen oder eines der drei Elemente auf die beiden anderen reduzieren. Ohne
Bilder gibt es keine Bildwahrnehmung, ohne Beobachter gibt es keine Interpretation
von Bildern, und ohne ein umgebendes Milieu gibt es keine Situation, in der
sich ein Bild und ein Beobachter jemals begegnen könnten. Diese Trilogie
ist also grundlegend. Sie stellt die Ausgangssituation jeglicher bildwissenschaftlichen
Untersuchungstätigkeit dar.
Wenn man die Ausgangssituation der Trilogie räumlich erweitert, erhält
man eine dreidimensionale Kugel, die den Möglichkeitsraum der Bildwissenschaft
repräsentiert
Abb. 2: Hans Dieter Huber: Trilogischer Kugelraum einer systemischen
Bildwissenschaft, 2003.
Wie das Adjektiv
systemisch zum Ausdruck bringt, wird die Situation, in der sich die Begegnung
von Beobachtern mit Bildern in einem speziellen
Milieu
ereignet, als ein soziales System begriffen. Aber auch
das Bild selbst wird als ein System
aufgefasst. Der Beobachter wird als ein lebendes, sich
selbst reproduzierendes, autopoietisches System verstanden. Das Milieu wird
als Umwelt, Umgebung
oder Situation aufgefasst.
In einer allgemeinen, systemischen Bildwissenschaft kann man drei verschiedene
Bereiche voneinander unterscheiden:
a) Das Bild als ein System
b) Der Beobachter als ein System
c) Das Milieu als ein System
Als eine erste, allgemeine Systemdefinition möchte ich folgende Definition begreifen:
Ein System besteht aus Einheiten, die in wechselseitiger Interaktion miteinander stehen. Was als Grenze einer Einheit, eines Teilsystems oder des ganzen Systems aufgefasst wird, bestimmt der Beobachter mit Hilfe seiner Wahrnehmungsunterscheidungen und Bezeichnungen.
Von dieser allgemeinen Systemdefinition kann man nun spezifische Definitionen für Bilder, für Beobachter und für Umgebungen ableitenSo kann man ohne Weiteres von Bildern als Systemen sprechen. Es kommt darauf an, welches man als seine grundlegenden Einheiten betrachtet:
Ein Bild als System besteht aus einzelnen Bestandteilen, die man als seine grundlegenden Einheiten bezeichnen kann. Zwischen den Einheiten eines Bildes lassen sich verschiedene Formen von Interaktionen beobachten. Die Beschreibung der Einheiten und ihrer Interaktionsmöglichkeiten ergibt die Struktur des Bildsystems als seinen tatsächlichen Zustand zum Zeitpunkt der Beschreibung. Was als eine Einheit in einem Bildsystem gilt und was als komplexes, zusammengesetztes Subsystem aufgefasst wird, ist das Resultat der Unterscheidung und Bezeichnung eines bestimmten Beobachters.
Es bietet
sich an, bei Bildern drei verschiedene Systemebenen von einander zu unterscheiden:
den materiellen Bildträger, die bildliche
Darstellung und die Bildreferenz. Auf
der Ebene des physischen Bildträgers bestehen die Einheiten je nach
Bildmedium aus Pigmenten, Bindemitteln und Trägermaterialien wie Papier,
Holz, Leinwand, Metall, Putz, und so weiter. In den Neuen Medien können
hier auch sehr komplexe physische Systeme,
wie Monitore, Beamer, Computer und so weiter,
auftreten.
Die zweite Systemebene eines Bildes ist
die Ebene der bildlichen Darstellung. Hier
lassen
sich als
relevante
Einheiten Formen, Farben oder Formate
voneinander unterscheiden. Sie ist einem
Beobachter nur in reiner Sichtbarkeit zugänglich
und durch keinen anderen Sinn erfahrbar. Sie kann nicht gehört, geschmeckt,
gefühlt oder gerochen werden. Sie kann nur gesehen werden, und hierfür
ist ein Beobachter mit zwei funktionierenden
Augen und einem emotional-kognitiven System
notwendig.
Auf der Ebene der Bildreferenz haben wir
es dagegen mit Begriffen und semantischen
Netzwerken
zu tun.
Die Bedeutung
eines Bildes ist ein
System aus Begriffen,
die ein Beobachter mit Hilfe seiner Wahrnehmungen,
Vorstellungen, Assoziationen, Erinnerungen,
Gefühlen, seines Denkens und Handelns konstruiert hat. Die
Bedeutung eines Bildes entsteht im tatsächlichen Gebrauch eines Beobachters
in einem bestimmten Milieu. Man kann dieses, im Beobachter entstehende System
von Gedanken auch als semantisches Netz bezeichnen. Die entscheidenden Schnittstellen
für den Übergang von einem an der Wand befindlichen materiellen Bild
in die Mentalität eines Beobachters stellen die zahlreichen Stellen von
Unbestimmtheit in einem Bilde dar. Denn es ist nicht alles in einem Bilde dargestellt,
was in der Wirklichkeit durch ein aktives, exploratives Wahrnehmungsverhalten
und -handeln bestimmt werden könnte. Dem in einem Bild dargestellten Referenzobjekt
können wir uns jedoch überhaupt nicht nähern, da es gar nicht
anwesend ist und nur als Bild in reiner Sichtbarkeit erfahrbar ist. Hier treten
die Vermögen der bildhaften Vorstellung, Phantasie oder Einbildungskraft
in ihre Funktion. Der Beobachter projiziert aus sich heraus in diese Leerstellen
und füllt sie auf subjektive, von
der bildlichen Darstellung nicht gedeckte
Weise.
Es hat im 20. Jahrhundert eine weit verzweigte Diskussion darüber gegeben, was alles zu einem Milieu zählt. Dabei wurde der Begriff einerseits sehr ausgeweitet, auf der anderen Seite aber auch zu sehr eingeschränkt. So definiert etwa Brockhaus sehr umfassend:
Ein Milieu umfasst die Gesamtheit der natürlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten, die auf einen Menschen, eine Schicht oder eine soziale Gruppe einwirken. Das Milieu beeinflusst maßgeblich die Erfahrungen und damit zugleich die Art und Weise des Denkens, Wertens und Entscheidens. (Brockhaus 1994).
Eine wichtige Unterscheidung ist etwa die zwischen wirksamem und erlebtem Milieu. Entweder ist beides Milieu, oder nur das erlebte Milieu ist ein Milieu und das Wirksame nur Umwelt. So definiert z.B. Max Scheler:
Es mag vielerlei objektiv auf mich ›wirken‹ – z.B. elektrische und magnetische Ströme, Strahlen aller Art, die ich nicht empfinde usw. –, was sicher nicht zu meinem ›Milieu‹ gehört; so wenig wie, was ich ererbt habe, zu meiner ›Tradition‹ gehört. Nur das auf mich als wirksam Erlebte gehört dazu. ›Milieu‹ ist also nur das, was ich als ›wirksam‹ erlebe. (Scheler 1966: 153 f.)
Es ist also sinnvoll, ein Außen des Milieus zu konzipieren, das selbst
nicht Milieu ist, das aber auf dieses Milieu und seine interne strukturelle
Dynamik einwirken kann. Dieses außen von Milieus bezeichne ich als äußere
Umwelt. In ihr sind alle natürlichen, physischen und wirksamen Einflüsse,
dasjenige, was Willy Hellpach die
geopsychischen Erscheinungen genannt
hat (Hellpach 1917),
aufgehoben.
Ein Milieu ist ein bestimmter
Ausschnitt
oder ein spezieller
Bereich aus der gesamten
Umwelt eines Beobachters.
Ein Milieu
besitzt eine unscharfe Grenzzone
und damit auch ein
Außen, das nicht
Milieu ist und auf dieses und seine Individuen einwirkt. Dieser Ausschnitt
zeichnet sich durch die Entwicklung ähnlicher Existenzformen und Lebensstile
aus. Gerhard Schulze definiert soziale Milieus als Personengruppen, die sich
durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation
voneinander abheben (Schulze 1992: 174). Milieus zeichnen sich demnach durch
eine höhere Konnektivität
ihrer Existenz- und Kommunikationsformen
aus.
Abb. 3: Hans Dieter Huber:
Skizze des Verhältnisses zwischen Bild, Beobachter,
Milieu und äußerer
Umwelt, 2003
Das Milieu übt die Funktion
eines Kontrollfeldes aus. Es steuert,
stellt
ein oder kontrolliert
die Begegnung zwischen Bild und Beobachter.
Die Ausbildung dieser Kompetenzen zur Bildproduktion und Bildrezeption in Kindergarten, Schule, Hochschule und außerschulischer Erwachsenenbildung stellt ein wichtiges Bildungsziel systemischer Bildwissenschaft dar. Die Mitglieder unserer Gesellschaft müssen dringend zu einem kritischen, selbstbewussten und reflektierten Umgang in der Produktion und Rezeption von Bildern und Bildmedien ausgebildet werden. Wir leisten uns in unserer Gesellschaft eine folgenschwere Unterschätzung der bildhaften, visuellen und sinnlichen Weltzugänge. Mathematisch-naturwissenschaftliche und sprachlich-diskursive Weltzugänge werden in der Bildungssituation nach PISA eindeutig bevorzugt. Dies stellt einen Rückfall in einen reduktiven Materialismus dar, in dem nichts eine Geltung hat, was sich nicht auf ein Naturgesetz zurückführen lässt. Mit dieser einseitigen Ausrichtung unserer Ausbildung auf Sprache und Logik fallen wir in die 50er Jahre, in den Kalten Krieg der Ausbildungssysteme, zurück. Dies kommt einer einseitigen Betonung und Bevorzugung bestimmter menschlicher Fähigkeiten gleich, die den grundlegenden fundamentalen und existentiellen bildhaften Zugang zur Welt, den wir besitzen und mit den Begriffen der Phantasie, der Imagination und des bildhaften Vorstellungsvermögens umschreiben, außer acht lassen und vernachlässigen. Wir leisten uns in Deutschland ein visuelles Analphabetentum in dem Ausmaß einer Bananenrepublik der Dritten Welt. Das einzige Fach, welches sich diesen grundlegend bildhaften Weltzugängen in der Schule stellt, ist die Kunstpädagogik. Für dieses Fach müssen Unterichtssmodule und didaktische Ansätze zur Entwicklung einer kritischen, emanzipierten Bildlesekompetenz entwickelt werden.
Literaturverzeichnis
Brockhaus. (Hrsg.): Die
Enzyklopädie in 24 Bänden. 20. Aufl., Bd.
14. Leipzig, Mannheim 1994, S. 645
Hellpach, Willy: Die geopsychischen Erscheinungen. Wetter, Klima und Landschaft
in ihrem Einfluss auf das Seelenleben. 2. Aufl. Leipzig: Wilhelm Engelmann
1917
Huber, Hans Dieter. Bild, Beobachter, Milieu. Entwurf einer allgemeinen
Bildwissenschaft.
Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2004
Schulze, Gerhard: Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart.
Frankfurt/M., New York: Campus-Verlag 1992
Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.
Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. 5. Aufl.
Bern, München:
Francke Verlag 1966