Hans Dieter Huber
Die Unschärfebeziehung zwischen Kunstwerk und Betrachter. Anmerkungen
zu den Installationen Martin Conraths
First Upload: 12.12.1996 Last Update: 03.10.99
(veröffentlicht in: MC. Analoge Systeme. Arbeiten
1986-89, Galerie der Stadt Langenfeld, 10.05. 89 -1.06.89 , S. 6-7)
I
Die Werke MCs entziehen sich konsequent der Sprache und der verbalen
Verfügbarkeit. In dem Moment, in dem man glaubt, einen Teil dieses
Werkes sprachlich bestimmt und beschrieben zu haben, zeigt es sich sogleich
von einer anderen, gegensätzlichen Seite. Es ist geradezu eine Unschärfebeziehung,
die zwischen Gegenstand und beschreibendem Beobachter herrscht. Mit Hilfe
der einen verbalen "Meßapparatur" gelangen wir zu diesen
Beschreibungsergebnissen,. mit Hilfe einer anderen zu jenen Resultaten.
Die Möglichkeit der Werkerfahrung führt zur Teilung der Welt in
den zu beobachtenden Kunstgegenstand und in den Rest, der die für die
Beobachtung relevanten Teile der Welt enthält. (1) In dem Ausmaß,
in dem die Sprache und das Wort solche Erfahrungen fixieren und Gesehenes
festlegen, also das Werk abtöten wollen, entzieht es sich diesem Tötungsversuch
durch Worte. Zwischen dem Werk und seiner Beobachtbarkeit herrscht eine
grundlegende und nicht wegzureduzierende Unschärfe, welche ihre eigenen
Blindheiten und Einsichten produziert.
Die Struktur der Sprache führt daher in eine Paradoxie. Mit Hilfe
des einen Begriffssystems erscheint das Werk so und so, mit Hilfe eines
anderen Begriffssystems erscheint es jedoch ganz anders. In dieser Paradoxie,
in den sich gegenseitig ausschließenden Unbestimmtheiten liegen Lücken
und Zwischenräume, die von den Wörtern nicht überschnitten
werden. hier liegt der Ort, an dem sich das Werk befindet. Um etwaige Mißverständnisse
gleich auszuschließen: diese paradoxale Unbestimmbarkeit resultiert
aus dem spezifischen Verhältnis zwischen dem Werk als einem nicht-verbalen
Modell und der logischen Struktur der Sprache, in der es interpretiert wird.
Sobald man nämlich nicht interpretiert, tritt diese paradoxale Struktur
der Unbestimmbarkeit und Unschärfe auch nicht auf. Was das aber noch
für eine Art und Weise ist, hinzuschauen ohne eine bestimmte Meinung
über das Gesehene zu haben, kann man wohl kaum mehr als eine Art von
Sehen bezeichnen. (2) Diese Alternative ist keine Alternative. Sie ist eine
Illusion. Zur Interpretation mit Begriffen gibt es keine Alternative, denn
unsere Begriffe sind in etwa schon so grundlegend, wie die grundlegenden
Einzeldinge in unserer Welt, auf die wir uns beziehen, nur sein können.
(3)
Der amerikanische Künstler Barnett Newman hat in einem seiner Aufsätze
zwischen zwei Arten von Malerei unterschieden, zwischen metaphysischer und
transzendentaler Malerei. (4) Unter 'metaphysisch' versteht Newman das spezielle
Verhältnis, das zwischen einer Idee und einem konkreten Kunstwerk besteht,
welches diese Idee veranschaulicht. In seinem Verständnis ist die gesamte
europäische Malerei bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Ideenmalerei,
d.h. eine Kunst, welche geistige Konzepte im Medium des Tafelbildes anschaulich
realisiert. Die transzendentale Malerei hingegen arbeitet nicht mit dem
Begriff der Idee, sondern sie untersucht die Bedingungen und Möglichkeiten
von künstlerischer Gestaltung überhaupt. (5) Sie veranschaulicht
also im Gegensatz zur metaphysischen Malerei keine abstrakten Ideen oder
Begriffe, sondern sie erforscht generell die jedweder ästhetischen
Botschaft vorausliegenden Grundbedingungen und Möglichkeiten ästhetischer
Erfahrung. Eine metaphysische Position von Malerei ist also mit Erkenntnisgewinnung
durch Kunst, mit der Epistemologie von Ideen befasst, während eine
transzendentale Position von Malerei mit der Ontologie der Kunst befasst
ist, also mit der Frage nach ihren grundlegenden Elementen und deren Existenz.
Wenn man dieses Begriffspaar als zwei grundsätzlich verschiedene
Möglichkeiten ansieht, die Variationsbreite künstlerischer Erzeugnisse
in zwei Kategoriensysteme zu unterteilen, nämlich in eine eher erkenntnistheoretisch
orientierte und eine eher ontologisch orientierte Richtung, dann wird deutlich,
daß das Werk MCs eher dem Begriff einer transzendentalen Form von
Malerei zuzuordnen wäre. Denn er setzt keine abstrakten Ideen ins Bild
um, seine Werke enthalten keine bestimmte Erkenntnis darüber, daß
etwas so-und-so wäre, sondern sie untersuchen und überprüfen
in einer Art experimenteller Fragestellung die Grenzen und Möglichkeiten
künstlerischer Systeme am Ende des 20. Jahrhunderts. Daher auch der
Werktitel "Installation". Installiert wird sozusagen, um eine
bildliche Analogie zu gebrauchen, die experimentelle Meßapparatur.
Die Installation ist der Versuchsaufbau, der sich zwischen die Beobachtung
der Welt und den möglichen Resultaten dieser Beobachtung schiebt und
so die beschriebene Unschärfe hervorruft. Die ontologische Konfigurierung
der Werke MCs ist daher eine grundlegend andere als in den Werken der klassischen
europäischen Moderne.
Die Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist im Wesentlichen Ideenmalerei,
also anschauliche Realisierung abstrakter Konzepte. Sie ist auf Erkenntnis
hin angelegt, auf die ästhetische Erfahrung des Betrachters. Die klassische
europäische Moderne als eine metaphysische Konzeption von Kunst ist
also eine aufklärerische Kunst, welche auf die individuelle Erkenntnisstruktur
des Betrachters einwirken will,seine Emanzipation durch das Sehen und seine
Befreiung von herrschenden Konventionen durch eben diese Kunst anstrebt.
Die Position der Moderne ist diejenige der Aufklärung, der Befreiung
und der Emanzipation von als falsch erkannten Konventionen. (6) Sie ist
das Erkennen des Wahren durch die Schönheit der Kunst.
Viele Personen treten heute mit der Voreinstellung, durch ästhetische
Erfahrung Aufklärung zu erhalten,vor zeitgenössische Kunst. Und
genau diese Einstellung oder Erwartungshaltung erweist sich als das entscheidende
Hindernis zum Verständnis solcher Kunstwerke, die eher mit den ontologischen
Grundlagen der Kunst als mit der Vermittlung spezifischer ästhetischer
Inhalte befasst sind. Die Werke MCs, soweit sie unter diese Kategorie fallen,
wollen den Betrachter nicht durch Sehen zur Erkenntnis der Wahrheit führen,
sie enthalten nichts, was man als die ästhetische Formulierung einer
Idee beschreiben könnte. Darin sind sie anti-aufklärerisch. Sie
bleiben hermetisch, bieten keine Auflösung an, wie ein Rätsel,das
man nur zu entziffern hätte, um es zu verstehen. Sie lassen den Betrachter
in seinem Alltag und in seinen Konventionen zurück. Jean-Francois Lyotard
hat diese Situation einer Kunst nach der Moderne mit dem Begriff der Nicht-Bildlichkeit
der Bilder umschrieben. (7) Sie bieten nichts, aber auch gar nichts, was
wir als eine bestimmte Erkenntnis der Art, daß etwas so-und-so ist,
ansehen könnten.
II
Fassen wir unsere Vorbemerkungen zusammen. Es handelt sich also bei den
Werken von MC um einen Typus transzendentaler Malerei, welcher die vor der
Erfahrung liegenden Grundbedingungen von Kunst untersucht, überprüft
und daraus Erkenntnisse zieht. Wenn wir als Zuschauer von diesem hermetischen
Vorgang etwas verstehen wollen, müßen wir uns diesen Grundbedingungen
zuwenden und sehen, wie sie miteinander zusammenhängen. Dabei lassen
sich zunächst drei Hauptbereiche unterscheiden:
Erstens. Bei den meisten Arbeiten MCs handelt es sich um ein räumliches
System aus Einzelteilen, zwischen denen verschiedene Beziehungen herrschen.
(8) Die Installation "ohne orte" bildet hiervon keine Ausnahme.
Doch schon bei der Beantwortung der einfachen Frage, welches die grundlegenden
Einzeldinge dieser Installation sind, geraten wir in Schwierigkeiten. Besteht
sie aus einem Teil, in dem Sinne, in dem wir von einer Installation sprechen?
Besteht sie aus fünf Teilen, nämlich den deutlich voneinander
getrennten einzelnen Werkgruppen? Besteht sie aus denjenigen sechs Teilen,
als die sie im Katalog angeführt wird? Die einzelnen Werkgruppen bestehen
aber selbst wiederum aus zwei bzw. vier Teilen. Handelt es sich also um
fünfzehn Einzelelemente? Zählt man dagegen die bemalte Wandfläche
als ein eigenes, selbständiges Teilstück der Installation, würde
sie aus sechzehn Teilen bestehen. Nimmt man den dreidimensionalen Raum,
in dem die Arbeit installiert ist, als notwendiges Dispositiv hinzu, wird
deutlich, daß sich die Frage nach den grundlegenden Einzeldingen endlos
fortsetzen lassen würde, ohne daß wir die einzig mögliche,
richtige Antwort finden würden. Denn es gibt sie nicht. Es gibt nur
viele verschiedene mögliche Antworten.
Das Problem, das sich hier stellt, ist das der Individuation. Sie ist beobachterabhängig.
Es ist deshalb sinnvoll, sich an dieser Stelle noch einmal die Ausführungen
Werner Heisenbergs über die prinzipielle Unschärfe von Beobachtung
und den daraus resultierenden wesentlichen Eigenschaften des beobachteten
Gegenstandes ins Gedächtnis zu rufen. "Man erkennt daraus, daß
die Charakterisierung eines Systems ... nicht nur Eigenschaften dieses Systems
bezeichnet, sondern auch Angaben über den Grad der Kenntnis des Beobachters
über das System enthält." (9) Für unser Beispiel können
wir sagen,daß die Art und Weise der ästhetischen Individuierung
in relevante Einzelteile durch einen bestimmten Betrachter nicht nur Aussagen
über die beobachtete Installation enthält, sondern ebenfalls Aussagen
über den Grad der Kenntnisse des Betrachters über solche Installationen.
Die ästhetischen Erfahrungen zweier Beobachter können durchaus
komplementär zueinander sein, sie können sich ausdrücklich
widersprechen. Die fundamentale Unbestimmbarkeit der Individuation kann
zur Komplementarität der Beobachtungen führen. Zwei ästhetische
Befunde zweier verschiedener Personen mögen mit allen an der Installation
beobachtbaren Sachverhalten übereinstimmen, und dennoch können
sie zu miteinander unververträglichen, komplementären ästhetischen
Erlebnissen führen. (10)
Das grundlegende Paradox,das sich hier zeigt, ist das der sprachlichen
Unschärferelation der Beobachtung, welche die Unbestimmbarkeit solcher
Fragen zur Folge hat. (11) Sicher können wir uns als Individuen immer
für eine Antwort entscheiden und sie fällt uns auch überhaupt
nicht schwer. Dennoch müssen wir uns vor Augen halten, daß immer
mehrere verschiedene Antworten gleichzeitig möglich sein werden, ohne
daß wir eindeutig und ohne Willkür entscheiden könnten,
welche davon die einzig richtige ist. Dieses Problem mag uns vielleicht
gar nicht bewußt werden. Dennoch besteht es aber und die Arbeiten
MCs spielen genau auf diesen Punkt an.
Zweitens. Auf die Frage, welche Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen
der Installation bestehen, gibt es mehrere mögliche Antworten, die
sich nicht auf eine einzige richtige reduzieren lassen. Je nachdem, für
welche Gruppierungen sich der Betrachter in der Wahrnehmung entscheidet,
ergeben sich als dessen Folge andere Relationen der so gruppierten Werkteile
untereinander. Man kann z.B. die vier kleinen, quadratischen Bilder als
ein Werk mit den vier Würfeln aus Aluminium als einem anderen Werk
in Beziehung setzen .aber auch mit dem einzelnen und einfachen Quadratbild
gleich am Anfang der Installation. Man kann die vier am Boden liegenden
Röhren mit den Würfeln in Relation setzen, aber auch mit dem Boden
des Raumes oder dem Aluminium der Bilderrahmen. Beziehungen zwischen Dingen
werden vom Betrachter meist nur selektiv realisiert. Nur ein Teil aller
möglichen Beziehungen wird überhaupt wahrgenommen. Hier zeigt
sich wiederum, daß eine Antwort nicht von der Installation selbst
kommen kann, sondern daß sie beobachterabhängig ist, d.h. daß
wir sie, als lebende Individuen aktiv formulieren müssen.
Betrachten wir als Beispiel die Farbbeziehungen. Die Farbigkeit der Installation
pendelt zwischen Blau und Grün hin und her, ohne daß man sie
eindeutig als "blau" oder eindeutig als "grün"
benennen könnte. Man könnte sich zwar auf Spezifizierungen hinauszuretten
versuchen, wie "ein grünliches Blau" oder "ein bläuliches
Grün". Immer aber unterbestimmt der Farbbegriff doch das ästhetische
Erlebnis,das sich auf der direkten Farboberfläche ereignet. (12) Die
Farbe hält sich bewußt in einem Grenzbereich sprachlicher Benennung
auf, dort wo wir nicht mehr "eindeutig grün" oder "eindeutig
blau" sagen können. Sie wird zu einem unentscheidbaren Grenzfall,
einem "borderline case". Es läßt sich auch nicht behaupten,
daß die Farbe monochrom wäre, denn bei genauerem Hinsehen entdeckt
man ganz minimale Farbtonverschiebungen auf den Bildoberflächen. Es
läßt sich auch nicht sagen, daß die Farbe flächig
gemalt sei, denn sie besitzt eine starke räumliche Wirkung, tendiert
nach vorne und hinten, unten und oben.
Eines scheint jedoch bisher ganz klar zu sein: Je nachdem, für welche
Version man sich entscheiden will, hat man auch eine andere Installation
aus anderen Grundelementen und andeen Beziehungen untereinandervor sich.
Aufgrund dieser fundamentalen Unschärfe zwischen Beobachtung und Werk
sieht jeder Betrachter ein jeweils anders konstituiertes "Bild"
vor sich. Die Arbeit von MC ist von einem Raum von Realisierungsmöglichkeiten
umgeben und jede Realisierung des Werkes durch einen Beobachter führt
seine Möglichkeiten zu einer spezifischen Faktizität aus. Das
Werk selbst, zu dem wir keinerlei gearteten Zugang besitzen, ist eine transzendentale
und offene Struktur von Möglichkeiten, eine Vorgabe an die Rezeption.
Die Installation "ohne orte" führt ihren Beobachtern vor,
daß Faktizität, dasjenige, was wir Realität oder Wirklichkeit
nennen, nicht vorgefunden wird, sondern von uns ebenso aktiv erzeugt und
hergestellt wird wie die Bilder vom Künstler. (13)
Drittens. Die Art der Beziehung, in der die Elemente eines Werkes zueinander
stehen, entscheidet mit darüber, welche Eigenschaften und damit welche
Bedeutung die Einzelteile annehmen (14) Setzt man die Aluminiumröhren
zu den Aluminiumrahmen in Beziehung, wird sichtbar, daß der Rahmen
ein plastisches, dreidimensionales Objekt ist, also kein Bild, sondern eine
Skulptur. Das verändert wesentlich seine Bedeutung. Auf der anderen
Seite wird sichtbar, daß die Aluminiumröhren eine farbige, monochrome
Oberfläche besitzen, wodurch sie spezifisch malerische Qualitäten
erhalten. In der Relation der bemalten Raumecke zur Bemalung der Leinwandoberfläche
wiederum wird deutlich, daß die Leinwand eine bemalte Oberfläche
ist und kein plastisches Objekt.
Die Aktivierung der Eigenschaften und damit der Bedeutungen der Installation
geschieht ganz einfach über Inbeziehungssetzungen durch das Mittel
von Unterscheiden und Vergleichen. Je nachdem, welche Beziehungen man gerade
ins Auge fasst, erhalten die Einzeldinge der Installation andere Eigenschaften.
Die Gegenstände der Installation verändern also wie Chamäleons
ständig ihre Eigenschaften und Bedeutungen, je nachdem, in welchem
Zusammenhang sie gerade gesehen werden. Steht man vor den beiden großen
Leinwänden, kann man intuitiv spüren, daß sie unser eigenes
Körpermaß , unsere eigene Größe als Proportion enthalten.
Sie stehen uns gleichberechtigt, sozusagen 1:1 gegenüber. In Relation
zu den kleinen Quadratbildern gesetzt, wirken sie dagegen riesig und monumental.
Wie sind sie nun "wirklich"? Kann man sagen, daß sie monumental
sind oder sind sie es nicht? Man kann es nicht in einem eindeutigen, absoluten
Sinne sagen. Es sind dennoch mehrere ,widersprüchliche Antworten denkbar
und auch möglich.
III
Eine Untersuchung der Grundsituation der hier ausgestellten Arbeit zeigt,
daß nicht das Werk selbst eine Antwort oder eine ästhetische
Botschaft enthält, sondern daß erst in dem heiklen und komplizierten
Wechselwirkungsprozeß zwischen Beobachter und zu beobachtendem Gegenstand
so etwas wie ein ästhetisches Erlebnis zustandekommt. Wir antworten
in unserer existentiellen Situation, mit unseren Intuitionen, Stimmungen,
Erwartungen, Überzeugungen und Vorurteilen auf das Werk, nicht das
Werk auf uns. Das Werk selbst sagt gar nichts. Und es wird zweitens klar,
daß es mehrere verschiedene, zueinander widersprüchliche ästhetische
Erlebnisse geben kann, die alle für sich durchaus mit allen beobachtbaren
Sachverhalten übereinstimmen können und dennoch zu unverträglichen,
miteinander nicht kompatiblen Resultaten führen können. Diese
verschiedenen ästhetischen Erlebnisse lassen sich nicht auf eine einzige
"objektiv richtige" Antwort reduzieren.
Die Installation "ohne orte" untersucht und präsentiert
somit zwei wesentliche Grundbedingungen von Kunst überhaupt:
(1) Daß das Werk selbst keinen Inhalt oder eine Botschaft enthält,
sondern daß der Mensch als Beobachter mit seinem Verhalten und seinen
Einstellungen, Meinungen, Vorurteilen und Gewohnheiten in einen unscharfen
Wechselwirkungsprozeß von Beobachtung und beobachtetem Gegenstand
eintritt und in diesem Wechselwirkungsprozeß dasjenige produziert,
was wir im Allgemeinen ein Bild oder ein ästhetisches Erlebnis nennen.
Die ontologische Grundsituation der Installation "ohne orte" verdeutlicht,
daß der Beobachter das Bild herstellt und nicht der Künstler,
der lediglich die Vorgabe liefert.
Damit wird die Arbeit des Künstlers natürlich nicht unterschätzt.
Im Gegenteil, es kommt exakt auf die präzise Konstellation dieser Vorgabesituation
an, damit die Wirkungen im Beobachtungsprozeß wirksam werden können.
Damit ist dem Betrachter eine große Verantwortung übergeben.
Er ist letzten Endes dafür verantwortlich, was er sieht und erlebt.
Der bekannte Unmut über zeitgenössische Kunst wird damit zu einem
Spiegel, der auf den Äußernden selbst zurückfällt.
Mark Rothko hat diese Verantwortung, die der Betrachter in diesem Wechselwirkungsprozeß
hat, so gut wie wohl kein anderer in Worte gefasst: "Ein Bild lebt
durch das Miteinander, sich ausweitend und belebend in den Augen des feinfühligen
Betrachters. Es stirbt auch daran. Es ist daher riskant, ein Bild in die
Welt zu senden. Wie oft geschieht es, daß ein Bild verkommt durch
die Augen der Fühllosen und die Grausamkeit der Unfähigen, die
ihren Jammer auf die ganze Welt erstrecken wollen!" (15)
(2) Die Arbeiten von MC zeigen, daß es immer mehrere und verschiedene
Antworten auf ihre Herausforderung geben kann. Und sie machen deutlich,
daß es nicht eine richtige und viele falsche gibt, sondern nur verschiedene
Versionen, die sich mehr oder weniger ähneln, sich aber auch explizit
widersprechen können. Etwas anderes als einzelne ästhetische Versonen
des Werkes können wir nicht bilden. Es wäre eine Illusion, zu
glauben, das Problem ließe sich dadurch auflösen, indem wir eine
Ebene unterhalb von Wort und Bild aufsuchten, so etwas wie die "reine","direkte","unverfälschte"
oder "wirkliche" Welt. Unsere einzelnen Versionen sind so grundlegend,
wie die Dinge unserer Welt nur sein können.
IV
In einem Rückblick auf die ältere europäische Kunst zeigt
sich, daß jegliche Form von Kunst, sei es Höhlenmalerei, Grafik,
Skulptur, Architektur keinen Inhalt und oder Botschaften enthält, sondern
daß der jeweilige Beobachter in Wechselwirkung mit dem jeweiligen
Gegenstand eine ästhetische Antwort auf die vor ihm oder um ihn herum
befindliche Situation produziert. Und diese Antwort wird zum Inhalt des
Bildes, zu seiner Form, zu seiner Farbigkeit, zu seiner Bedeutung und zu
seiner Funktion. Das Bild selbst enthält gar nichts davon.
Das einzelne Bild ist somit in seiner ontologischen Situation am Ende
des 20. Jahrhunderts von völlig anderen Voraussetzungen umgeben als
zu Beginn dieses Jahrhunderts. Als faktischer Wert, als ein realer Gegenstand,
ist es von einem Raum von Möglichkeiten umgeben, welcher aus der Art
und Weise, wie wir in der Wahrnehmung die Dinge zueinander in Beziehung
setzen, entsteht. Das Werk selbst, als ein physikalisches Faktum, ist im
Vergleich zu seinen Möglichkeiten, die es in der Wahrnehmung enthält,
so gut wie nichts. Das Werk an sich ist nämlich kein Gegenstand, den
wir auch nur irgendwie wahrnehmen oder beobachten könnten. Erst die
Möglichkeiten, welche durch die aktive Inbeziehungssetzung des beobachteten
Gegenstandes zu Anderem entstehen, zeigen das mögliche Umfeld und den
Umraum auf, in welchem der künstlerische Gegenstand hin- und herzuschwingen
in der Lage ist und in dem er seine Bedeutungen offenbart.
In dieser Situation des ausgehenden Jahrhunderts wird der Begriff des
Gebrauchs zu einem zentralen Schlüsselbegriff. Letztlich entscheidet
der Gebrauch, den wir von einem faktischen Gegenstand machen, über
die Möglichkeiten, die er erhalten kann.16 Und der Gebrauch, den wir
von einem Kunstwerk machen, entscheidet darüber, welchen Inhalt, welche
Form, welche Farbe, welche Bedeutung und welche Funktion er von uns zugesprochen
erhält.
In diesem Verständnis ist die räumliche Anordnung und Präsentation
der Installation "ohne orte" keine notwendige oder logische. Die
Teile der Installation können beliebig miteinander vertauscht und anders
aufgebaut werden. Die tatsächliche Präsentation ist nur eine Möglichkeit
von vielen. MC stellt in seinen Werkkomplexen immer wieder die Frage nach
der Faktizität der Dinge und ihren unendlichen Möglichkeiten,
welche die Antwort auf diese Fragestellung liefern. Viele seiner Arbeiten
bestehen aus einer Anzahl von Grundelementen, die beliebig miteinander kombiniert
werden können und in der jeweiligen konkreten Kombination bestimmte
ästhetische Möglichkeiten entfalten. Erst in der speziellen Installationsanordnung
kann eine Antwort auf die Frage gegeben werden, was die Dinge sind. Die
Antwort lautet: "Jetzt sind sie das!". In der nächsten Anordnung
sind sie schon wieder etwas ganz anderes. Das ist die Unschärfe, von
der ich vorhin gesprochen habe und die sich nicht wegreduzieren läßt.
In dieser dialektischen Spannung von Faktizität und Possibilität
läßt sich der Möglichkeitsraum eines künstlerischen
Gegenstandes ausloten und es läßt sich der jeweilige Ort des
Gegenstandes, der faktische Fixpunkt seiner Identität bestimmen. Das
ist der Grundgedanke einer nicht- bildlichen und nicht-metaphysischen Malerei.
Die Antwort, die MC daraus ableitet, ist die, daß der Ort eines künstlerischen
Gegenstandes ein relativer Begriff ist, je nachdem, in welcher Beziehung
er zu anderen Dingen steht. Wir können den Ort und damit die Identität
eines künstlerischen Gegenstandes nicht absolut und zweifelsfrei bestimmen,
sondern immer nur relativ zu einer jeweiligen Situation, in der er sich
kraft seiner Möglichkeiten befindet und immer nur relativ zu einem
Betrachter oder Beobachter, der diesen Ort innerhalb des Möglichkeitsraumes
konstituiert, aber nie zu einer eineindeutigen Antwort diesbezüglich
gelangen kann.
Auf diese Weise thematisiert MC die Nicht-Bildlichkeit der Kunst am Ende
des 20. Jahrhunderts und ihre Schwierigkeiten der Beobachtbarkeit. Er zeigt
ihre Bedingungen und Möglichkeiten radikal auf, auch ihre Begrenztheit
als Repräsentationssystem für Erfahrungen. Er zeigt, was wir niemals
können werden, nämlich den Ort eines Kunstwerkes eindeutig und
zweifelsfrei zu bestimmen. Aus diesem Grunde trägt die Installation
den Titel "ohne orte". Er ist ein Hinweis auf die Unbestimmbarkeit
der Unschärfe und auch auf unsere Heimatlosigkeit angesichtes dieses
Verlustes von Welt.
Anmerkungen:
1 Erhard Scheibe, Einführung zu 'Objektivität und Beobachter',in:
Lorenz Krüger (Hrsg.) Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Texte
zur Einführung in die Philosophie der Wissenschaft. Köln 1970,
S.406
2 Vgl. dazu Fred I. Dretske, Seeing and Knowing, London 1969, Kap.II 'Non-Epistemic
Seeing'
3 Willard Van Orman Quine, Word and Object, Cambridge, Massachusetts, 1960,
S.3
4 Barnett Newman in einem 1948 für die Zeitschrift "The Nation"
geschriebenen Text, den diese jedoch nicht veröffentlicht hat. Abgedruckt
in :Max Imdahl, Who is Afraid of Red,Yellow and Blue III,,Stuttgart 1971,
S.29
5 Zum Begriff des Transzendentalen vgl. Rüdiger Bittner, Transzendental;
in:Hermann Krings/H.M. Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.) Handbuch philosophischer
Grundbegriffe,München 1973, S. 1525: "transzendental heißt
die Untersuchung der Bedingungen a priori der Möglichkeit von Erfahrung."
6 Raimer Jochims, Visuelle Identität. Konzeptionelle Malerei von Piero
della Francesca bis zur Gegenwart, Frankfurt 1975, insbes. S.118 - 173
7 Jean-Francois Lyotard, Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens,
Berlin 1986, S.14
8 Zu den hier verwendeten Begriffen von System,Einzelteil und Beziehung
vgl. Hans Dieter Huber, System und Wirkung. Fragen der Interpretation und
Bedeutung zeitgenössischer Kunst. München 1988, S. 39-51
9 Heisenberg führt in diesem Zusammenhang das Begriffspaar von Möglichkeit
und Wirklichkeit eines Geschehens ein. Ein Objekt wird nur noch als ein
Spektrum von Möglichkeiten gesehen, das bei Messung einer seiner Größen
diesen oder jenen Wert mit dieser oder jener Wahrscheinlichkeit liefert,
ohne daß vom Objekt her der Ausgang einer solchen Messung im Voraus
bestimmt wäre. Jede der erwähnten Möglichkeiten kann durch
eine tatsächlich vollzogene Beobachtung des Systems faktisch werden.
Werner Heisenberg,Die Entwicklung der Deutung der Quantentheorie, in: Krüger
1970, S.424
10 Wie Quine dies jüngst für allgemeine Theorieformulierungen
in "Theorien und Dinge",Frankfurt 1985, S.44 gezeigt hat.
11 "Man könnte dies, so scheint es, im Prinzip vermeiden, wenn
man System und Meßapparat als Gesamtsystem völlig von der Außenwelt
trennen könnte. Bohr hat aber mit Recht immer wieder darauf hingewiesen,
daß für den Meßapparat die Verbindung mit der Außenwelt
zu den Voraussetzungen für sein Funktionieren gehört; denn das
Verhalten des Meßapparates muß als etwas Faktisches registriert
und damit in anschaulichen Begriffen beschrieben werden können, wenn
der Apparat überhaupt als Meßinstrument dienen soll,und dazu
ist die Verbindung mit der Außenwelt nötig." Werner Heisenberg,Die
Entwicklung der Deutung der Quantentheorie, a.a.O., S.425
12 "...Namen gibt man nicht genauen Farbtönen, sondern auf unsystematische
Weise breiteren Farbbereichen. Hier unterscheidet sich unser Farbwortschatz
von unserem Formwortschatz. Termini für genaue Formen gibt es in Fülle."
W.V.O. Quine, Die Wurzeln der Referenz, Frankfurt 1976, S.106f.
13 "Wir beginnen jedesmal mit irgendeiner alten Version oder Welt,
über die wir schon verfügen und an die wir auch so lange gebunden
sind, bis wir die Entschlossenheit und Fertigkeit haben, sie zu einer neuen
umzubilden. Zum Teil ist es die Macht der Gewohnheit, die uns im Griff hält,
wenn wir die Tatsachen als widerspenstig empfinden: unsere feste Grundlage
ist in der Tat unerschütterlich. Welterzeugung beginnt mit einer Version
und endet mit einer anderen." Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung,
Frankfurt 1984, S.121
14 Erwin Grochla (Hrsg.), Handwörterbuch der Organisation, Stuttgart
1969, S.
15 Mark Rothko,in: Tiger´s Eye,No.2,1947,p.44
16 Ludwig Wittgenstein, Logisch-Philosophische Abhandlung, Werkausgabe Bd.1,
Frankfurt 1984, S.23: "Um das Symbol am Zeichen zu erkennen, muß
man auf den sinnvollen Gebrauch achten. ... Wird ein Zeichen nicht gebraucht,
so ist es bedeutungslos."
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