Hans Dieter Huber
Materialität der Körper
Zu den Handzeichnungen von Käthe Kollwitz

(veröffentlicht in: Ausst. Kat. Käthe Kollwitz. Meisterwerke aus dem Käthe-Kollwitz-Museum Berlin. Zeichnungen, Graphik, Bronzen. Kulturhaus Wiesloch 24.9. - 1.11. 95, S. 42-48 )

I

Wenn man danach fragt, wie sich in einem Medium wie der Zeichnung Form und Bedeutung entwickeln können, muß man sein Augenmerk auf die spezifischen Materialitäten richten, in denen sich diese Formen und Bedeutungen in das Medium einschreiben. (1) Denn jeder formalen und inhaltlichen Entscheidung eines Künstlers liegt immer schon ein Medium voraus, dessen materielle Bedingungen und Möglichkeiten in die Formentscheidungen einfließen. Meistens werden im Blick auf Figuren und Inhalte die medienspezifischen Bedingungen solcher Formbildungen vergessen. Es handelt sich um Zusammenhänge, die auf den ersten Blick scheinbar bedeutungslos sind, weil sie vor jeder Inhaltlichkeit zu liegen scheinen. Die spezifische Materialität einer Zeichnung beeinflußt jedoch vom ersten Strich an den Prozeß der Sinngebung und der Bedeutungsproduktion. Die Materialität des Mediums fließt in die Bedeutung einer Zeichnung ein.

Ich möchte daher die Gelegenheit dieses Katalogbeitrages nutzen, um den Blick des Lesers/Betrachters auf die konstituierenden Materialitäten des Mediums Zeichnung bei Käthe Kollwitz zu lenken. Vor 7 Jahren haben die Siegener Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer zum erstenmal die Frage nach den materiellen Bedingungen von Kommunikation gestellt. Sie zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung zu machen, heißt, einen Schritt vor die üblichen Fragestellungen zu gehen und nach den selbst nicht sinnhaften, im klassischen Sinne "bedeutungslosen" Voraussetzungen und Bedingungen, nach dem Ort, den Trägern und den spezifischen Modalitäten zu fragen, in der sich die Bedeutungsproduktion eines Mediums vollzieht.2 In bezug auf die Zeichnungen von Käthe Kollwitz hieße das, nach den medienspezifischen Voraussetzungen, Trägerformen und Möglichkeiten der Konstruktion von Sinn und Bedeutung zu fragen.

Die bisherige Literatur über Käthe Kollwitz ist vorwiegend motivgeschichtlich oder biographisch orientiert. Ihre Kunst wird häufig als persönliches Erleben oder als Verarbeiten direkter Eindrücke der Künstlerin interpretiert. Eine ähnliche, stark biographisch gefärbte Kunstgeschichtsschreibung findet man in der Literatur über den fünf Jahre älteren Edvard Munch. So faszinierend eine an der Künstlerbiographie orientierte Texttradition sein mag, so sehr verstellt sie doch den Blick auf das Werk selbst, d.h. auf die Zeichnung als Zeichnung, die Plastik als Plastik, den Holzschnitt als Holzschnitt und damit letztendlich auf die Kunst als Kunst. Ich möchte daher aus der Sicht eines postmodernen Beobachters bestimmte materielle und mediale Voraussetzungen der Kunst von Käthe Kollwitz herausarbeiten, um vielleicht den Blick wieder frei zu bekommen auf das Werk selbst. Denn die Frage des Sentiments und des Mitleids ist bei Kollwitz so stark überbeansprucht worden, daß wir ihr Werk heute kaum mehr unbelastet von dieser Aura aus Gefühlsemphase und Betroffenheit rezipieren können. Zunächst müssen die Werke von Käthe Kollwitz, wie jedes andere Kunstwerk auch, erst einmal wahrgenommen werden. Und für dieses künstlerische Sehen ist bei Kollwitz ebensoviel




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Sensibilität, Erfahrung und Wissen nötig, wie beispielsweise bei Zeichnungen von Edvard Munch, Paul Cezanne oder Edgar Degas.


II

Ich beginne also, nach der Materialität der Zeichnung zu fragen, d.h. nach den konstituierenden Rahmenbedingungen ihres künstlerischen Schaffens. Das Papier, das sie für ihre Zeichnungen benutzt, ist in den meisten Fällen ein weißes, gelbliches oder grünliches Ingres-Bütten. Man sieht im Papier oftmals das Wasserzeichen, die parallelen Nähte des Papiersiebes, die diesem Papiertyp seine unverwechselbare, typische Struktur verleihen. Kohle und Kreide stehen hervorragend auf der rauhen, erhabenen Oberfläche des Büttens und lösen den Strich der Kreide oder der Kohle in einzelne, impressionistische Punkte auf, die zu einem starken, optischen Vibrieren der Kreide- bzw. Kohlepartien führt. Hinzu kommen glatte, farbige, meist graue Tonpapiere sowie gelegentlich Zeichenpapier und Zeichenkarton.

Gezeichnet hat Kollwitz vorwiegend mit Holzkohle, schwarzer Kreide und Feder, seltener mit Pastellfarben und Bleistift. Holzkohle ist ein schwierig zu handhabendes Material. Es ist, da es durch Verkohlung von Birkenzweigen gewonnen wird, immer von unterschiedlicher Stärke, im Farbauftrag schlecht haftend und meist nie richtig schwarz, sondern eher silbriggrau. Die Vorteile liegen jedoch in den unendlich feinen Grauabstufungen, die mit Kohle zu erreichen sind. Aufgrund der schlechten Haftung besitzt Kohle eine extreme Wischfähigkeit, die zu einer plastischen Modellierung der Grauwerte benutzt werden kann. Mit einem Stück Knetgummi oder frischem Brot kann das Gezeichnete relativ leicht aufgehellt oder weggenommen werden. Holzkohle produziert also durch ihre Materialität eine gewisse Übergänglichkeit und Vorläufigkeit des Gezeichneten zwischen der leeren Fläche des Papiers und der mit Mitteln der Zeichnung verdichteten Form. Die Kreide besitzt demgegenüber eine größere Konturenschärfe, Härte und Sättigung. Sie kann angespitzt werden und ist gegenüber der Kohle zu einer feineren Linienbildung in der Lage. Gleichzeitig ist die Haftung auf dem Papier besser, und man erreicht einen höheren Schwärzungsgrad als mit der Kohle. Aus diesen Gründen findet man die Kohle bei Käthe Kollwitz vor allem in sehr schnell hingeworfenen Studien und ersten Ideenformulierungen, in denen es ihr auf eine Verwischung und Verunklärung der Konturen ankommt, wie bei Konrad ruft der Tod, (NT 1235)3 und Vor der Wallfahrtskapelle, 1932 (NT 1242).

Kommt es ihr dagegen auf eine präzise Konturenführung und Detailgetreue der Zeichnung an, wird die spitzere Kreide eingesetzt, z. B. in Kaisers Geburtstag, um 1885 oder in Abschied, 1909/10 (NT 595). Sehr gut vergleichen kann man den unterschiedlichen Einfluß von Kreide bzw. von Kohle auf die Differenzierung der Formen in den beiden Studien zum Gedenkblatt für Karl Liebknecht aus dem Jahr 1919 (NT 774, Kreide und NT 778, Kohle). Hier sieht man deutlich, welche Auswirkungen die unterschiedliche Materia-




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lität auf die Sinngenese des jeweiligen Blattes hat. Auf der Kreidezeichung werden die einzelnen Personen als separierte und voneinander abgetrennte Formen bzw. Körper sichtbar. Auch die Hände spielen als einzelne, in sich abgegrenzte Formzonen eine relativ autonome Rolle. In der Kohlezeichnung dagegen verschmilzt diese Gruppe sehr stark zu einer plastischen Gesamtform. Die Grenzen der Oberflächen sind für das Auge nicht mehr nachvollziehbar. Die einzelnen Formen bzw. Körper werden zu einem plastischen Block, "dem Volk", das von der harten, weissen Negativform des Leichentuchs angeschnitten wird.

Verfolgt man die Entwicklung dieser Skizzen im Medium Holzschnitt weiter, so stellt man fest, daß die Formverdichtung, wie sie sich in der Kreidezeichnung noch zonenhaft materialisierte, sich im Holzschnitt Gedenkblatt für Karl Liebknecht, 1920 (Kl. 139) völlig ins Medium des Holzstocks hinein aufgelöst hat. Die Körper der Trauernden sind in der schwarzen Fläche des Druckstocks zusammengefaßt worden und stehen wie eine schwarze Mauer gegen die weiße Fläche des Leichentuches. Im Medium des Holzschnittes löst sich die Materialität der Körper in ein "unsichtbares" Schwarz auf, das nur noch symbolisch zu verstehen ist als fehlendes Licht, als höchste Verdichtung des Materiell-Existentiellen. Ihm steht das Weiße als Licht, als Leerstelle,4 als geistige Immaterialie5 gegenüber. Das Schwarz der Druckerschwärze, das mit hohem Druck auf das Papier gequetscht wird, wäre in dieser Sicht als ein dialektischer Gegenpol zum Weiß des Papiers aufzufassen. Es müßte als höchste Materialität verstanden werden, als höchste Gegenwart oder höchste Anwesenheit. Das Rußschwarz der Druckfarbe ist identisch mit der Materialität des Mediums Holzschnitt, aus der sich Form konstituiert und auf das sie rückwirkend wieder einwirkt.


III

In den frühen Selbstbildnissen von 1888/89 (NT 7) und 1890 (NT 28) durchzieht ein scharfer, schnell über das Papier gerissener Federstrich die Anlage des Gesichts. Die Schraffuren folgen einerseits der plastischen Form der Körperoberfläche. Sie bezeichnen die Topographie von Augenbrauen, Wangen und Lippen. Andererseits formen schnell gezogene Parallelschraffuren die Hell-Dunkel-Verteilung des Motivs. Der Formstrich, der die Plastizität der Oberfläche konstruiert und der Parallelstrich, der die Lichtwerte konstruiert, die sich auf der Projektionsfolie des Körpers bilden, bilden die grundlegende Dialektik der Kollwitzschen Formensprache.

Bei Käthe Kollwitz wird die Feder oftmals von einer Pinsellavierung in Tusche umlagert, mit deren Hilfe sie die großen Verteilungen der Flächenwerte setzt. So wird hartes Rußschwarz gegen die weiße Kontur des Gesichtes gesetzt, z. B. in Selbstbildnis, um 1891/92, (NT 32). Kollwitz arbeitet das Hell-Dunkel als eine grundlegende, konstitutive Bedingung für Räumlichkeit in ihren Zeichnungen heraus. Im Selbstbildnis, um 1888/89 (NT 7) wird der Oberkörper der Künstlerin, der zuerst mit nur zwei, drei Strichen sicher angedeutet wurde, mit deckender Tusche richtiggehend




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zugestrichen, als gälte es, eine zweite Haut über den - nur in der Vorstellung des Betrachters existierenden - Körper zu legen. Lediglich im Hintergrund flockt die Tusche blasenartig aus. In der Verdünnung wird sie wolkig und hellgrau. Dieser Befund gilt auch für die Selbstbildnisse von 1889 und 1890.

Der Körper verdichtet sich primär als plastische Form auf der Fläche des Papiers. Der gesamten Kollwitz-Zeichnung und auch großen Teilen ihrer Druckgraphik ist diese grundlegende Differenz zwischen der Flächigkeit des Papiers und der plastischen Verdichtung der Form wesentlich. Auf dem Papier entwickeln sich Kristallisationskerne, die sich auf der einen Seite partiell zu einer Form verdichten und auf der anderen Seite partiell ausdünnen, wie z.B. in Kopfstudien, 1895/96 (NT 100). Das Papier wird wie ein Reliefgrund aufgefaßt, in den sich die Form mittels Verdichtung durch Formstrich/Parallelstrich/Lavierung plastisch einschreibt. Vergleicht man die Zeichung Kopfstudien mit dem Bronzerelief Ruhet im Frieden seiner Hände, von 1935/36, dann erkennt man dieselbe visuelle Logik. Während in der Zeichnung die Fläche des Papiers partiell versucht, plastisch zu werden und sich zu dreidimensionaler Form zu verdichten, strahlt die Plastizität des Reliefs in die Fläche zurück und versucht, partiell zur Zeichnung zu werden. Strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Zeichnung und Plastik lassen sich immer wieder im Îuvre von Käthe Kollwitz beobachten. Hier sind insbesondere die Zeichnung Mutter, ihre Kinder beschirmend, von 1934 (NT 1245) und die Lithographie Frau, ein Kind an sich drückend, um 1934 (Kl. 253) zu nennen. Immer besteht das Ziel darin, die Differenz zwischen Plastizität und Fläche im jeweiligen Medium in eine gewisse Balance zu bringen. Dadurch entsteht eine Grenze der Formen zu ihrem Medium (dem Papier oder der Bronze), die gleichzeitig eine Grenze zum Raum, eine Grenze zum Hintergrund, eine Grenze zur Umwelt bilden.


IV

Auch in der Druckgraphik und in der Skulptur ist diese Differenz von konstitutiver Flächigkeit und plastischer Verdichtung immer mitgedacht. Will man daher das Künstlerische am Werk von Käthe Kollwitz sehen, muß man diese fundamentale Dialektik immer mit sehen und mit bedenken. Das Eine ist stets die Bedingung des Anderen. Die Fläche ist die Bedingung für die Dreidimensionalität. Die plastische Form ist die Bedingung für die Fläche, die sich entweder als Papier, als Bronze oder als Druckerschwärze materialisiert. Erst im Begreifen dieser Leerstelle, die sich als Papier, Ton, Bronze oder Schwärze materialisiert, sieht man, daß der Körper, wie er sich aus dieser Fläche heraus festigt und verdichtet, immer wieder von seiner potentiellen Auflösung in diese leere Fläche hinein bedroht ist. Gerade dies macht die besondere Transitorik der Werke von Käthe Kollwitz aus.

Damit besitzt die Kunst von Käthe Kollwitz eine ihr eigentümliche Paradoxie, in der das Eine das Andere bedingt. Die gezeichnete Form ist stets von ihrer Auflösung in die Unbestimmtheit des Papiers, der Bronze, des Holzes oder des




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Kupfers bedroht. Aber das ist nur eine Seite der Differenz, die man hier beobachten kann. Man muß die Verhältnisse in ihren sich gegenseitig bedingenden Unterschieden sehen. Die eine Seite dieser Differenz, nämlich die Entstehung von Form aus dem Medium, muß in der anderen Seite, dem Verschwinden der Form im Medium, stets mitgedacht und präsent gehalten werden. Denn erst das bedeutet, daß dem Medium des Papiers, der Bronze und des Holzes eine Potentialität zu eigen ist, die jederzeit Form verdichten und wieder auflösen kann.

Kollwitz läßt ihre Zeichnungen stets in dieser offenen Transitorik zwischen Potentialität und Aktualität bestehen. In der Unbestimmtheit des Offengelassenen handelt es sich um sog. Leerstellen, die durch die Imagination und Vorstellungsbildung des Betrachters auf jeweils eigene Art und Weise aufgefüllt werden können. Das Entscheidende an Zeichnungen wie Abschied von 1907/10 (NT 595) oder Nachdenkende Frau, 1920 (NT 869) ist eben das Offenlassen näherer Bestimmungen, die sozusagen erst in zweiter Lektüre durch den Betrachter präzisiert werden können. Das Îuvre von Käthe Kollwitz arbeitet mit dieser Differenz von Bestimmtheit und Leerstelle, von Vorgabe und aktivem Nachvollzug durch den Betrachter. Und genau darin liegt der ästhetische Reiz dieser Blätter als Kunst.


V

Das Verhältnis von Form und Medium kann auf der Ebene des Dargestellten auch als ein Verhältnis von Körper und Umwelt aufgefaßt werden. Dabei fällt auf, daß die Umwelt in den Zeichnungen von Käthe Kollwitz eigentlich bis auf wenige Ausnahmen stets weggelassen wird.6 Alles vollzieht sich am Körper und durch den Körper. Umwelt wird höchstens als eine diffuse, schwarze Fläche, als ein graues, abstraktes Vibrieren der Kreide oder Kohle oder als das flächige Rauschen des Papiers verstanden. Der Körper bildet die Projektionsfläche der sozialen Verhältnisse. Sie werden nicht an dem Ort aufgezeigt, an dem sie stattfinden, sondern auf der Oberfläche des menschlichen Körpers, dort, wo der Mensch seine Umwelt erleidet, wo er von ihr "be"-drückt wird. Der Kontur des Körpers und seiner Binnenfläche wird die Qualität einer Projektionsleinwand zugeschrieben, einer Ober- und Grenzfläche, an der sich die Immaterialien sozialen Leides immer wieder re-materialisieren können.

Die Übergänglichkeit zwischen Materialität und Immaterialie kann aber stets in beide Richtungen gelesen werden. Denn der Körper grenzt sich auch gegen seine Umwelt ab. Er behauptet eine gewisse Teilautonomie, eine Teilwürde gegen die Immaterialien seiner Umwelt. Interessant zu sehen ist nun, wie diese Grenzziehung der Oberflächen materiell realisiert wird. Im Medium der Handzeichnung wird dies durch eine besonders scharfe Konturlinie erreicht, die erst relativ spät mit spitzer Kreide, Kohle oder Pinsel eingezogen wird. Wie ein scharfer Schnitt mit einem Skalpell wird die verwaschene Binnenzeichnung der Kreide, Kohle oder Feder von ihrer Umwelt abgeschnitten, wie im Gedenkblatt für Karl Liebknecht, 1919




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(NT 778), in den späten Blättern wie Konrad ruft der Tod, 1932 (NT 1235) oder auch Vor der Wallfahrtskapelle, 1933 (NT 1242). Während wir in vielen Handzeichnungen von Käthe Kollwitz eine scharfe Konturlinie, eine harte Grenzsetzung und Autonomisierung des Körpers von seiner Umwelt beobachten können, wie z.B. in Selbstbildnis im Profil nach links, 1924 (NT 1001) oder in Studie zu >Das Leben<, 1900 wird auf der anderen Seite die Differenz zwischen Körper und Umwelt bewußt verschliffen oder verunklärt. Als ob die Grenzen zwischen der Identität der Person und der Alterität der Welt nicht deutlich wären, wird eine exakte Grenzziehung verunklärt bzw. der Vorstellung des Betrachters überlassen, so z.B. in Arbeiterfrau in Profil nach links, 1903 (Kl. 67 I), in Selbstbildnis von vorne,1911 (NT 690), Selbstbildnis en face mit rechter Hand , um 1900 (NT 168) oder Selbstbildnis mit Dreiviertelprofil nach links, 1908 (NT 457).

Besonders in den Holzschnitten, in denen sie sich stilistisch sehr stark an Felix Valloton orientiert, materialisiert sich diese stetige Übergänglichkeit zwischen Körper und Umwelt im satten Schwarz der Druckfarbe. In Blättern wie Schlafende mit Kind, 1929 (Kl. 235) oder Selbstbildnis, um 1924 (Kl. 201) ist keinerlei Differenz mehr gesetzt zwischen Körper und Welt, zwischen Form und Medium, zwischen Licht und Dunkel. Beide gehen als Kontinua ineinander über. Körper und Welt sind identisch. Sie bestehen aus derselben Materialität. Sie sind nur zwei verschiedene Seiten der gleichen Unterscheidung. Das Spezifische der Kunst besteht ja gerade in der Handhabung dieser Differenz von Körper und Welt, Form und Medium, Licht und Dunkel.


VI

Hinzu kommt ein weiteres, formales Mittel der Künstlerin, das ich als framing bezeichnen möchte. In vielen Zeichnungen grenzt Kollwitz die szenische Verdichtung durch einen gezeichneten Rahmen von der Fläche des Papiers ab, z.B. in Kampf in der Kneipe, 1893 (NT 99), Sitzende Frau, um 1894 (NT 113) oder Bittstellerin, 1909 (NT 486).

Die Dialektik der Darstellung (ihre Ambivalenz zwischen Fläche und Dreidimensionalität, zwischen Bestimmung und Leere) wird durch dieses Mittel einem starken Druck ausgesetzt. Das framing positioniert die Darstellung in der Weite des Mediums und grenzt sie gleichzeitig von ihm ab. Es gibt ihr einen Rahmen, einen Kontext als Grenze. Dieser Kontext ist die Welt. Der mit der Kreide oder Kohle gezogene Rahmen gibt der Darstellung auf der einen Seite Raum und Autonomie. Auf der anderen Seite nimmt er ihr diesen Raum auch wieder weg, indem er ihn auf Enge setzt. Den Körpern wird die Grenze ihrer Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Es ist die Grenze zur Welt. Die Welt engt sie ein. Oft werden die Figuren durch das framing scharf angeschnitten oder überschnitten, so daß sie unter die Bedinung einer unheimlichen Monumentalität geraten, in welcher der frame die Entfaltung der Form/des Körpers unterbindet und verhindert. Die Figuren wirken, als würden sie ersticken, als wären sie in eine Kiste eingesperrt, als würden sie vom Rahmen/der Welt zer-




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quetscht; z.B. in der Zeichnung Bewaffnung in einem Gewölbe, 1906 (NT 216) oder in Frau mit totem Kind, um 1903 (NT 250), Die Überlebenden, 1923 (NT 985), Tod mit Frau im Schoß, 1921 (NT 880).


VII

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Medium bei Käthe Kollwitz eine wichtige, auf den ersten Blick allerdings nicht immer gleich erkennbare, Bedeutung besitzt. In den spezifischen Bedingungen und Voraussetzungen des jeweiligen Mediums wird ein Feld von Möglichkeiten bereitgestellt, in dem sich die jeweilige Form als eine partielle Verdichtung dieser Möglichkeiten materialisieren kann. Die Form ruht also auf ihrem Medium auf. Sie wird durch das Medium und seine Möglichkeiten bedingt und ermöglicht. Rückwirkend definiert die in der Zeichnung letztendlich gefundene, verdichtete Form die Immaterialien des Mediums und verleiht ihnen eine spezifische Materialität, die diesem Medium nur in dieser Form und in keiner anderen zu eigen ist. An den Arbeiten von Käthe Kollwitz läßt sich eine fundamentale Übergänglichkeit zwischen Materialisierung und Verdichtung von Formen bzw. Körpern auf der einen Seite und ihrer Immaterialisierung und Auslassung auf der anderen Seite beobachten. Die Materialisierung der Form vollzieht sich stets am Körper. Er bildet die Projektionsfläche der Immaterialien sozialen Leides. Die Welt taucht in den meisten Arbeiten nur als Leerstelle oder als frame auf, die in der Vorstellungskraft der Betrachters auf ihre jeweils eigene Art und Weise ergänzt und präzisiert werden können. Das Îuvre von Käthe Kollwitz arbeitet im Prinzip mit dieser grundlegenden Differenz von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Diese stete Übergänglichkeit zwischen Figur und Fläche macht den ästhetischen Reiz ihrer Kunst als Kunst aus.


Fussnoten:
1 Siehe hierzu Niklas Luhmann: Das Medium der Kunst; In: Frederick D. Bunsen "Ohne Titel". Neue Orientierungen in der Kunst. Würzburg 1988, S.61-72 sowie Hans Dieter Huber: Materialität und Selbstreferenz bei Friedemann Hahn; in Ausst. Kat. Friedemann Hahn. Städtisches Museum Göttingen, Städtisches Kunstmuseum Singen 1995/96 (im Druck)
2 Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1988
3 Die hier und im Folgenden verwendeten Kürzel NT und Kl. verweisen auf das Werkverzeichnis der Handzeichnungen von Otto Nagel und Werner Timm (NT) bzw. auf das Verzeichnis des graphischen Werkes von August Klipstein (Kl.). Siehe Käthe Kollwitz. Die Handzeichnungen. Hrsg. von Otto Nagel. Wissenschaftliche Bearbeitung Dr. Werner Timm, Berlin 1972 (NT) sowie Käthe Kollwitz. Verzeichnis des graphischen Werkes von Dr. August Klipstein, Bern 1955. (Kl.)
4 Zum Begriff der Leerstelle bzw. Unbestimmtheitsstelle siehe Roman Ingarden: Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Tübingen 1962, S. 238 -241 sowie Hans Dieter Huber: Die Sprache der Bilder und die Bilder der Sprache: Sprachanalytische Anmerkungen zu Baruchellos ` La Correspondence`, in: Text und Bild - Bild und Text. Das Reisensburger Symposium 1988, (Hrsg.) Wolfgang Harms, Stuttgart: Metzler 1989, S. 399 - 413
5 Zum Begriff der Immaterialie siehe Jean-Francois Lyotard u.a.: Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S.77-89 sowie Marie-Anne Berr: Technologie und Imagination. Zur Rematerialisierung des Immateriellen; in:Christoph Wulf u.a.(Hrsg.): Ethik der Ästhetik, Berlin 1994, S. 173-191
6 Unter Umwelt wird hier das Umfeld der Formen, bzw. der Umraum oder Kontext der Figuren, in dem sie stehen, verstanden.



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