Hans Dieter Huber
Die Mediatisierung der Kunsterfahrung


(veröffentlicht in: Johannes Zahlten (Hrsg.): 125 Jahre Institut für Kunstgeschichte Universität Stuttgart. Herwarth Röttgen zum 60. Geburtstag. (= Reden und Aufsätze 41, Universitätsbibliothek Stuttgart), (1991), S. 108-130)

I

Wir sind heute einer zunehmenden Mediatisierung im Umgang mit Werken der Bildenden Kunst ausgesetzt. Fotoreproduktionen, Fernsehen, Video und Computersimulation suggerieren uns eine Realität, die indirekt und vermittelt wahrgenommen wird. Der Beobachter ist daher an dem jeweiligen Ereignis ebenfalls nur indirekt und auf Umwegen beteiligt. Denn es sieht lediglich so aus, als würde man direkt teilnehmen. Die Mediatisierung der Erfahrung wird zum Faktum, zur Tatsache und die Begegnung mit dem Original zum unwahrscheinlichen Science-Fiction-Erlebnis. Die gewöhnliche Form von Kunst-Erfahrung ist heute in der Regel das mediatisierte Erlebnis von Surrogaten, während die Teilnahme an Originalerfahrungen die Ausnahme bildet.

Zunächst möchte ich jedoch einige mögliche Mißverständnisse ausräumen. Erstens. Begriffe wie "ästhetische Erfahrung", "das Ästhetische" oder "ästhetische Wahrnehmung" importieren eine Menge ungelöster Probleme aus der traditionellen Ästhetik in den jeweiligen Diskurs hinein. Sie bilden sozusagen eine philosophische Altlast, welcher schwer zu entgehen ist. Wenn ich daher von Kunst-Erfahrung spreche, meine ich im Gegensatz zu traditionellen Ästhetiktheorien einfach die Wahrnehmung, das Erlebnis oder die Wirkung von Kunstwerken auf einen Beobachter. Das Anhängsel "Kunst-" fungiert dabei als sprachliche Unterscheidung zum Erleben und Erfahren von Gegenständen, die keine Kunst sind. Kunst-Erfahrung in meinem Verständnis ist unabhängig davon, ob dieses Erlebnis schön, interesselos oder etwa lustvoll ist. Während der Wahrnehmung von Kunstwerken können die Wirkungen, die von ihnen ausgehen, letzten Endes zu bedeutenden Veränderungen in den Strategien der Erfahrungsverarbeitung oder des kognitiven Stiles der jeweiligen Beobachter führen, die auch im entferntesten Sinne nichts mehr mit dem ursprünglichen Anlaß zu tun haben müssen.
Zweitens geht es mir nicht darum, zu behaupten, die Erfahrung der Kunst sei gut und das Fernsehen schlecht, sondern ich möchte aufzeigen, was sich durch die Mediatisierung der Kunst-Erfahrung heute verändert hat. Man muß zunächst einmal akzeptieren, daß im Vergleich zu gewöhnlichen




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Gegenständen oder Ereignissen das Gemälde oder die Skulptur ebenfalls Medien sind. Die Kunsterfahrung, die aus ihnen gewonnen werden kann, ist also mitnichten "direkt" oder "unmittelbar". Das Kunstwerk selbst ist schon in seinem Ursprung vom Bazillus der Mediatisierung befallen. Sie ist von jeher schon Erfahrung von Medien gewesen, da das Kunstwerk nicht den Gegenstand oder das Ereignis selbst, sondern lediglich eine hochselektive Darstellung dieses Ereignisses zeigt. Es kann also im Weiteren nicht darum gehen, innerhalb der Kunst-Erfahrung einen Bereich "echter" Erfahrung von einem Bereich "falscher" Erfahrung abzugrenzen und diesen dann in einem zweiten Schritt als negativ oder schädlich zu kennzeichnen. Ein solcher Gegensatz läßt sich sowieso nur konstruieren, wenn man eine Erfahrungsmöglichkeit zuläßt, die "direkt" und "unmittelbar", d. h. ohne Zwischenschaltung irgendeines Mediums abläuft. Eine solche "direkte", "unmittelbar" gegebene Sinneserfahrung gibt es jedoch überhaupt nicht. Jede Erfahrung ist medial vermittelt und sei es durch die Sinnesorgane und die Nervenleitungen des Organismus. Man kann also das gesamte System der Kunst-Erfahrung als eine Erfahrung von und durch Medien beschreiben. Die entscheidenden Differenzen müssen folglich im Kunst-System selbst bestimmt werden und nicht durch den Vergleich von mediatisierter Erfahrung mit irgendeiner "direkten", "unmittelbaren" Erfahrung. Mediatisierte Erfahrung ist so direkt und unmittelbar, wie Erfahrung überhaupt sein kann.

Vier Fragen sollen daher die weitere Orientierung leiten:
(1) Gibt es einen Unterschied zwischen der Wahrnehmung eines Originales und der Wahrnehmung seiner Reproduktion?
(2) Wenn ja, worin liegt dieser Unterschied und wie läßt er sich beschreiben? Oder allgemeiner formuliert: Worin liegt der Unterschied zwischen einer Kunst-Erfahrung am Original und einer mediatisierten Erfahrung?
(3) Welche Konsequenzen für die Kunst-Erfahrung ergeben sich aus dem ständigen Umgang mit Reproduktionen? Daraus folgt in Umkehrung eine vierte und letzte Frage. Sie ist diejenige Frage, die mich hier eigentlich interessiert:
(4) Welche Konsequenzen für die ästhetische Erfahrung ergeben sich aus dem ständigen Umgang mit Originalen?




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II

Die erste Frage ist schnell beantwortet: Ich setze voraus, daß es einen Erfahrungsunterschied ausmacht, vor einem Original zu stehen bzw. dessen Reproduktion zu betrachten (Abb. 1). Zur zweiten Frage: Die entscheidenden Unterschiede zwischen einer solchen "Original"erfahrung und einer mediatisierten Erfahrung liegen in der Präsenz des Werkes. Diese Präsenz ist in einer Reproduktion nicht vorhanden und wird durch eine andere, eine Pseudo-Präsenz, ersetzt. Die Verschiebungen, die ein Original im Prozesse seiner Mediatisierung zu einer Reproduktion, zum Film, zum Dia, zum Katalog oder zum Poster durchläuft, betreffen vor allem zwei Felder. Zum einen wird die physikalische Struktur des Werkes selbst verändert, indem es in ein anderes physikalisches Medium transformiert wird. Zum anderen wird die originale Umgebung, in der sich das Kunstwerk befand, vollständig durch eine andere ersetzt. Reproduktionen sind ort- und zeitlos verfügbar und können an wechselnden Schauplätzen zu wechselnden Zei-




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ten gleichzeitig auftreten, wie es das Original in dieser Geschwindigkeit nicht vermag. Ob sich nun die Veränderungen in der physikalischen Werkstruktur oder die Substitution der Umgebung gravierender für den Verlauf der Erfahrung auswirken, läßt sich schwer entscheiden. Denn beide Felder stehen in ständiger Wechselwirkung miteinander und sind analytisch nur schwer voneinander zu separieren.

Wenden wir uns daher zunächst den Strukturveränderungen zu, die das Original im Prozesse seiner Mediatisierung durchläuft. Als Katalogabbildung oder Poster wird die Bildfläche in feine Vierfarbrasterpunkte zerlegt, deren Wahrnehmung im Auge aufgrund der begrenzten Auflösungsfähigkeit der Netzhaut als optische Farbmischung erscheint. Im Dia und auf der Filmschicht wird das physikalische Medium der Malerei in transparente Schichten von Silberhalogenid-Kristallen mit einer bestimmten Körnigkeit übertragen. Im Video oder Fernsehbild werden seine Farb- und Helligkeitsverteilungen in magnetisch ausgerichtete Partikel transformiert, die in Form von Teilchenstrahlung auf einem farbig beschichteten Bildschirm sichtbar gemacht werden. In der Computersimulation werden Farbtöne in digitale Zahlenreihen umgewandelt, denen jeweils ein bestimmter Helligkeits-, Sättigungs- und Tonwert aus maximal 256 Möglichkeiten auf dem Bildschirm zugeordnet werden kann.

Folgende Zusammenhänge lassen sich dagegen nicht in ein anderes Medium transformieren:

(1) Die originale Farbigkeit eines Kunstwerkes ist trotz aller technischen Finessen und Laser-Scanner nicht reproduzierbar. Farben lassen sich im Vierfarbdruck nur unzureichend wiedergeben. Gerade bei komplizierten Lasurmalereien ist die Leuchtkraft der Farbe aufgrund des unterschiedlichen Lichtbrechungsindex an der Oberfläche ziemlich verschieden von der optischen Wirkung einer aufgerasterten Fläche im Vierfarbdruck. Ein Farberlebnis, das durch optische Mischung im Auge entstanden ist, wird nie die Leuchtkraft und Intensität erlangen können wie ein in vielen dünnen Schichten Harzölmalerei aufgebautes und mit Azurit untermaltes Ultramarin.
(2) Die farbige Erscheinung eines Originales ist darüber hinaus von der jeweils herrschenden Beleuchtungsintensität (der sogenannten Lux-Zahl) des Raumes abhängig. In einer Beleuchtung mit sehr hoher Lux-Zahl werden die Kontraste zwischen einzelnen Farbnuancen deutlich und stark voneinander getrennt wahrgenommen, während bei sinkender oder niedriger Beleuchtungsstärke die Kontraste und Farbintensitäten zunehmend verschwinden. Dasselbe Bild schmilzt in seinem Kontrastumfang, dem Unter-




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schied zwischen der hellsten und der dunkelsten Stelle eines Bildes, zusammen. Es wirkt dadurch enger, harmonischer und einheitlicher als bei grellem, starken Tageslicht. Dieses Erlebnis verschwindet in der ästhetischen Erfahrung einer Reproduktion völlig, da durch die phototechnische Aufnahme eine bestimmte Beleuchtungssituation fixiert wird, die sich in der Reproduktion nicht verändert.
(3) Außerdem enthält Tageslicht in geringer Lux-Zahl eine andere spektrale Farbzusammensetzung als Tageslicht mit hoher Lichtstärke. Bei natürlichem Tageslicht ist je nach Tageszeit und Bewölkung der Anteil an kurzwelligem (ultraviolettem) oder langwelligem (infrarotem) Licht unterschiedlich hoch. Morgenlicht mit hohem Blauanteil läßt die Farben eines Originales anders aussehen als Abendlicht. Keine einzige dieser außerordentlichen




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ästhetischen Randbedingungen ist in einer Reproduktion präsent. (Abb. 2)
(4) Sind außerdem noch künstliche Lichtquellen im Spiel, verändert sich das ästhetische Erlebnis der Farbharmonik mit der jeweiligen spektralen Strahlungsverteilung des Beleuchtungskörpers auf bedeutende Weise und ohne daß es das Auge bemerkt. (Abb. 3)

Wenn man sich dagegen den Bedeutungsverschiebungen zuwendet, die aus der Substitution der Umgebung resultieren, lassen sich folgende Feststellungen treffen:

(1) Die Größe eines Bildes im Verhältnis zur Größe des Raumes und zur Größe des Menschen ist ein bedeutender Wirkungsfaktor eines Kunstwer-




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kes. Die Wirkung eines kleinen Andachtsbildes ist eine völlig andere als die eines großen Altarbildes. Für die Wirkung ist es daher ausschlaggebend, ob es sich um ein kleines Format handelt, welches aus einer nahen Entfernung, sozusagen intim und "heimlich", betrachtet werden muß oder ob es sich um ein großes Altarbild handelt, das in einer kollektiven Betrachtungs- und Andachtsform aus großer Entfernung wahrgenommen wird. (Abb. 4 + 5) Das Gegenüberstehen und das daraus resultierende ästhetische Erlebnis ist jeweils ein ganz anderes. Barnett Newman hat einmal gesagt:

In einem großen Bild ist man selbst mittendrin, während man bei einem kleinen davor steht.

In einer Reproduktion ist der Unterschied zwischen einem kleinen Bild und einem großen Bild verlorengegangen. Die Beziehung zwischen uns und




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der vor uns liegenden Reproduktion hat sich entscheidend geändert. Ich zeige hierzu als Beispiel zwei Bilder der Taufe Christi von Paolo Veronese (Abb. 6). In der Reproduktion nebeneinandergesetzt, sind sie gleich groß und - kunsthistorisch gesehen - gut zu vergleichen. Wenn man sie aber in ein proportionales Verhältnis zueinander setzt, dann sieht man deutlich, wie die Größe des Bildes im Verhältnis zum Beobachter eine Wirkung ausstrahlt, die in jeder Reproduktion verlorengeht. (Abb. 7)

(2) Eine weitere, nicht reproduzierbare Wirkung ist die relative Lage des Werkes im Raum und gegenüber dem Beobachter. Das Verhältnis der gemalten Licht- und Schattenpartien im Bild zu den tatsächlichen Licht- und Schattenverhältnissen im Raum ist nur in der Originalsituation beobachtbar und in einer Reproduktion nicht abzubilden. Die Position des Werkes in Beziehung zum Beobachter entscheidet ebenfalls wesentlich über dessen Wahrnehmungserfahrung. So macht es einen bedeutenden Unterschied aus, ob sich ein Kunstwerk auf Augenhöhe befindet oder weit über Augenhöhe installiert ist. (Abb. 8 + 9) Die Tatsache, daß man sich einem Kunstwerk entweder von rechts, von links oder frontal nähert, bildet ebenfalls einen wichtigen Unterschied für die daraus resultierende Erfahrung des Beobachters.

(3) Die Beleuchtungsfarbe, die in einem Raum herrscht, entsteht aus dem Mischungsverhältnis des Anteils des direkt in den Raum einfallenden Lichtes und dessen spektraler Farbigkeit und dem von Boden, Decken und Wänden reflektierten diffusen Streulicht, welches ebenfalls den Raum ausfüllt. Es ist ganz leicht einzusehen, daß ein heller, intensiver Lichtstrahl, der durch ein Oberlicht auf einen grünlichen Teppichboden in einem Museum fällt, überall im Raum verteilt wird, also auch auf dem Bild, das in diesem Raum hängt und es in eine grünliche Gesamttonalität färbt. Genau dasselbe geschieht bei einem braunen, grauen oder weißen Boden. Alle diese situativen Variablen, die Schwankungen in Farbigkeit, Beleuchtungsverhältnissen, Größe und relativer Lage finden sich meistens nicht in einer Reproduktion des Werkes wieder.

Man kann daher verallgemeinernd sagen, daß alle Eigenschaften und Zusammenhänge, die in der Originalsituation Variablen sind, d. h. sich in der Zeit verändern können, von der Mediatisierung fixiert und als Konstanten behandelt werden. Wir können daher die zweite Frage wie folgt beantworten: Der Unterschied zwischen der Erfahrung eines Originalkunstwerkes und dessen Reproduktion liegt in der Präsenz des Werkes. Diese Präsenz ist seine Situiertheit an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit. Die Komplexität der Präsenzsituation, in der sich Originalwerke befin-




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den, ist in einer Reproduktion nicht mit enthalten. Durch den Prozeß der sekundären Mediatisierung findet daher sowohl eine Präsenzverschiebung als auch eine Umgebungssubstitution statt. Das Original verwandelt sich zum einen von der Präsenz eines Ölgemäldes zur Präsenz einer Postkarte, einer SW-Abbildung in einem Buch oder einer Diaprojektion im Hörsaal eines kunsthistorischen Institutes. (Abb. 10 + 11) Zum anderen verlagern sich Ort und Zeitpunkt einer mediatisierten Erfahrung auf unvorhersehbare Weise in Situationen, die der Künstler nicht mehr unter Kontrolle hat. Man müßte also nun danach fragen, welcher Beteiligungsverlust durch die ort-




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und zeitlose Präsenz der Reproduktion eintritt und welche Bedeutungsverschiebungen in der Kunst-Erfahrung durch die Mediatisierung von Ort und Zeit stattfinden.

III

Dies führt zur dritten Frage: Welche Konsequenzen für die Kunst-Erfahrung ergeben sich aus dem ständigen Umgang mit Reproduktionen? Zunächst einmal ist schon sehr viel an Sensibilität und Verständnis gewonnen, wenn man diese Unterschiede kennt und ihren Einfluß auf die Erfahrung des Beobachters in Rechnung stellen kann. Was passiert jedoch mit unseren Er-




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lebnissen, unseren Kenntnissen und unserem Wissen, wenn sie auf dem ständigen Umgang mit mediatisierten Surrogaten basieren?

Ein wesentliches Kennzeichen ist ihre Flüchtigkeit und ihre beliebige Verfügbarkeit. Schaltet man den Diaprojektor aus, ist das Kunstwerk verschwunden. Aus der zeitlichen Flüchtigkeit ergibt sich eine thematische Beliebigkeit. Was ich zeige, ist egal. Die Hauptsache ist, es gibt irgendetwas zu sehen. So zählt lediglich der Augenkitzel. Weil für einen kurzen Augenblick alles von Interesse sein kann, oder weil es ganz ohne Belang ist, welches Thema behandelt wird, macht es keinen großen Unterschied mehr, ob man in einem Hörsaal über englische Kathedralgotik redet oder sich einen Fernsehfilm über die Entstehung der Barockkunst in Rom ansieht. Somit lässt sich in der mediatisierten Surrogatsituation ein Wahrheitsanspruch aufgrund der weitgehenden Beliebigkeit und Austauschbarkeit




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der Thematiken gar nicht mehr ernsthaft stellen. Manets Erschießung Kaiser Maximilians als Dia ist harmlos. Schaltet man den Projektor ab, ist er ebenso verschwunden wie alle Fragen und Einwände. Steht man allerdings in der Kunsthalle Mannheim vor dem Original, wird es ernst. Der Prüfstein kunsthistorischer Interpretationen befindet sich vor uns und fällt ein Verdikt über unsere geistigen Auslassungen.

Der Kunstkatalog, das Dia, der Fernsehbericht, das Video zur Ausstellung sind heute allgegenwärtige und allumfassende Medien, durch welche Kunst erlebt wird. Die Auseinandersetzung mit dem Original gleicht einem unwahrscheinlichen Science-Fiction-Erlebnis, einer Begegnung mit Darth Vader. Die stetig steigende Nachfrage der Ausstellungsbesucher nach "sachkundiger" verbaler Vermittlung des Gesehenen verrät die Sucht nach Mediatisierung der Kunsterfahrung. Die ständige Gewöhnung an den Umgang mit Reproduktionen führt zu folgenschweren Verwechslungen, die das Dia im Hörsaal für das Kunstwerk selbst halten bzw. das mündliche Gerede vor einem Bild mit dem Kunstwerk selbst verwechseln. Die Abbildungen im Katalog, das Dia im Hörsaal, der Fernsehfilm zuhause, das Video unter dem Arm, die Tausend Meisterwerke der Kunst werden mit den Meisterwerken der Kunst verwechselt.

Die Flüchtigkeit und Beliebigkeit der sekundären Medien erzeugt ihrerseits einen Prozeß der Mediatisierung des Zuschauers.

Die Mediatisierung ist eine Wirkung, die erst im Laufe einer langen Zeit zustande kommt, sie ist der Erziehung oder den Erziehungsmaßnahmen früherer Zeiten vergleichbar. Je mehr die Mediatisierung, gleich der Erziehung, sich so gebärdet, als wäre sie keine, ja ihre Absicht verstecken kann oder gar vorgeben kann, keine Absicht zu haben, umso besser erreicht sie ihr Ziel, die Infiltration oder heimliche Gefügigmachung.1

Die Passivisierung der Zuhörer im Hörsaal, der Ausstellungsbesucher bei einer sonntäglichen Führung oder der Familie vor dem Fernsehapparat entsteht durch die Suggestion, bei irgend etwas Wichtigem dabeizusein oder etwas geschenkt zu bekommen. Aber von welcher Art ist die Anwesenheit bei einer Führung, im Hörsaal oder in der ersten Reihe vor dem Fernsehgerät? Die Mediatisierung eines Originales wirkt wie ein Selektionsfilter, der bestimmt, welche Erfahrungen während einer Führung, im Hörsaal, beim Kataloganschauen oder vor dem Fernseher gemacht werden können. Die Zwischenschaltung eines sekundären Mediums zwischen Kunstwerk und




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Beobachter fungiert also wie ein Informationsfilter. Bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten werden ausgewählt und durchgelassen, andere bleiben im Filter hängen und können in der mediatisierten Erfahrungssituation nicht wahrgenommen werden. Vor allem die Präsenz des Werkes bleibt auf der Strecke. Seine Farbigkeit, seine Beleuchtung, die Umgebung, in der es hängt, seine relative Größe, seine Rahmung, seine relative Lage im Raum, dies alles und noch viel mehr bleibt im Filter der Medien stecken und dringt nicht mehr an unser Auge.

IV

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich für die Wahrnehmungserfahrung vor Originalen zweierlei.

Erstens. Es wird immer deutlicher, daß man ohne die Annahme eines Beobachters, der das Kunstwerk wahrnimmt, keinen hinreichenden Begriff von Kunst-Erfahrung formulieren kann. Die Komplexität großer Teile der Gegenwartskunst zwingt dazu, den Vorgang des subjektiven Beobachtens als absolut notwendig für jede weitere Interpretationstätigkeit, gerade auch sprachlich-verbaler Art, zu beschreiben. Das Betrachtetwerden durch einen Beobachter ist die unabdingbare Voraussetzung für die verschiedenartigsten Interpretationen, und ein Vorgang, welcher den einzelnen interpretatorischen Zugriffen stets weit vorausliegt. Die Beziehung zwischen dem Werk und dem Beobachter ist eine notwendige Voraussetzung für jegliche Erfahrung von Kunst. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, sei sie ästhetischer, naturwissenschaftlicher oder welcher Art auch immer.

Zweitens. Die bisherigen Ausführungen zur Mediatisierung der Kunst-Erfahrung deuten jedoch darauf hin, daß es hier noch eine andere Komponente geben muß, die bisher noch nicht genügend in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt ist. Ich meine den Begriff der Umgebung. Wenn man von der Beziehung zwischen Werk und Beobachter als einer notwendigen und unauflösbaren Relation spricht, neigt man leicht dazu, die Tatsache zu übersehen, daß dieser Dialog immer in einer bestimmten Umgebung stattfindet und nicht in einem luftleeren, abstrakten Raum. Die Begegnung mit einem Originalwerk geschieht in einer Umgebung, in der man zunächst mit etwas konfrontiert wird, dessen Wirkung nicht von einem selbst, sondern von der Umgebung ausgeht.

Erst durch die Einbettung des menschlichen Organismus und des Kunst-




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werkes in den gleichen Systemzusammenhang kann sich eine konkrete Begegnung zwischen Mensch und Bild überhaupt erst ereignen. Sie geschieht nie ohne eine solche Einbettung. Die chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela haben die Einbettung des Organismus in seine speziell auf ihn zugeschnittene Umgebung mit dem Begriff der strukturellen Koppelung beschrieben.2 Nach ihrem Verständnis findet jede Veränderung oder Entwicklung eines Lebewesens innerhalb einer bestimmten Umwelt oder eines Milieus statt. Die Umwelt eines Lebewesens fassen Maturana und Varela als ein Medium auf, "welches wir als Beobachter als ausgestattet mit einer besonderen Struktur wie etwa Strahlung, Geschwindigkeit, Dichte und so weiter beschreiben können."3 Die Interaktionen zwischen dem Lebewesen und dem Milieu, der Umgebung, oder dem Medium, in dem es sich befindet, sind wechselseitig. Das heißt, daß auf der einen Seite die Struktur der Umgebung im menschlichen Organismus Veränderungen auslöst, wobei diese Veränderungen von der Umgebung her gesehen, weder determiniert noch vorgeschrieben, sondern lediglich ausgelöst sind. Dasselbe gilt umgekehrt auch für die Einflußmöglichkeiten des Individuums auf seine Umgebung. Das Ergebnis dieser reziproken Interaktion ist nach Maturana und Varela, - solange sich das Verhältnis zwischen Individuum und Milieu nicht aufgelöst hat -, eine Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen. Diese Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen zwischen dem Individuum und seiner Umgebung nennen die Autoren "strukturelle Koppelung". Die wechselseitige Aufeinanderbezogenheit von Mensch, Kunstwerk und Umwelt läßt sich also durchaus als eine Art Dialog oder als wechselseitiger Austausch zwischen zwei Systemen und ihrer gemeinsamen Umwelt verstehen. Die strukturelle Koppelung von Milieu, Beobachter und Kunstwerk bildet daher die Grundlage der dialogischen Struktur des Wahrnehmungserlebnisses von Kunst.

Einer der ersten, der auf diese Koppelung der ästhetischen Erfahrung hingewiesen hat, war der amerikanische Philosoph John Dewey. Bereits 1934 be-




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schrieb Dewey in seinem Buch Art as Experience die Koppelung der Erfahrungsmöglichkeiten eines Lebewesens an seine jeweilige konkrete Umgebung als die notwendige Voraussetzung und Basis speziell für die ästhetische Erfahrung von Kunst. Sein Ansatzpunkt war, die kontinuierliche Beziehung zwischen ästhetischer Erfahrung und den gewöhnlichen Lebensprozessen aufzudecken und zu untersuchen.

...; man muß auf das Gewöhnliche oder den Alltag des Lebens zurückgehen, um die ästhetischen Eigenschaften zu entdecken, die solcher Art von Erfahrung innewohnen.4

Für Dewey war das Wesen der Erfahrung durch die Grundbedingungen des Lebens bestimmt. Dieses Leben spielt sich in einer bestimmten Umgebung ab, "und zwar nicht nur in einer Umgebung, sondern auf Grund dieser, durch Interaktion mit ihr."5 Aus der Interaktion des Organismus mit seiner Umwelt entsteht Erfahrung und Erfahrungen werden ständig gemacht, da die Interaktion von Lebewesen und Umwelt Teil des eigentlichen Lebensprozesses ist.

Erfahrung ist das Resultat, das Zeichen und der Lohn einer jeden Interaktion von Organismus und Umwelt, die, wenn sie voll zum Tragen kommt, die Interaktion in gegenseitige Teilnahme und Kommunikation verwandelt.6

Für Dewey sind dies mehr als bloße biologische Tatsachen; sie rühren nach seinem Verständnis an die Wurzeln des Ästhetischen. Das Wesen der ästhetischen Erfahrung kann daher adäquat nur aus der Interaktion des Lebewesens mit seiner Umwelt verstanden werden.

Das Erlebnis von Kunst ist also stets mit einer bestimmten Umgebungssituation strukturell gekoppelt, wie wir gesehen haben. Im Gegensatz zum Lesen eines Buches muß sich der Mensch im Falle der Betrachtung eines Bildes zuerst an den Ort begeben, an dem sich das Werk befindet. Er muß sich also in das gleiche Umgebungssystem hineinbegeben, welches für das Kunstwerk maßgebend ist und welches, - falls sich das Bild immer noch an seinem ursprünglichen Aufstellungsort, für den es geschaffen wurde, befindet -, auch das für den Künstler maßgebliche war. Der Beobachter stellt den Kontakt mit dem Kunstwerk folglich dadurch her, daß er sich absichtlich und willentlich in den gleichen Systemzusammenhang hineinbegibt, in dem das Werk wirksam ist und für den es unter Umständen




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vom Künstler geschaffen worden ist. In dieser strukturellen Koppelung löst das Kunstwerk im Beobachter bestimmte Veränderungen aus. Von daher ist stets mit Einflüssen aus der Umgebung in Richtung auf die Art und Weise des jeweiligen Verlaufes der Wahrnehmungsauseinandersetzung des Beobachters mit dem Kunstwerk zu rechnen.

Die Kunstwahrnehmung und das damit zusammenhängende Erlebnis sind also keinesfalls ein einseitiger, sondern stets ein wechselseitiger Prozeß. Das Kunstwerk gibt die Richtung der Wahrnehmungsauseinandersetzung in groben Zügen vor. Es definiert sozusagen das Thema des Dialoges. Der Beobachter als lebender Organismus nimmt diese Rezeptionsvorgabe auf, stellt sich auf sie ein, verarbeitet und verändert sie. Schließlich engt die Umgebung als institutionalisiertes Medium bereits vor Beginn der eigentlichen Wahrnehmungsauseinandersetzung einen Großteil der möglichen Bedeutungsstrukturen ein.

Die Ansprache geht zuerst vom Kunstwerk aus und nicht vom Beobachter. (Abb. 12) Das wird schon durch die physikalische Tatsache deutlich, daß es sich um farbig strukturierte Lichtstrahlen handelt, die den ersten Kontakt herstellen, indem sie vom gesehenen Gegenstand ins menschliche Auge und dort auf die Netzhaut fallen. Josef Albers hat diese Beobachtung in einem Gedicht beschrieben:

Kunst vorerst/ ist nicht zum ansehen/ denn kunst sieht uns an7

Meiner Meinung nach spielt Jackson Pollock auf genau denselben Sachverhalt an, wenn er auf die Frage eines Interviewers, wie die Menschen seine Bilder sehen sollten, antwortet:

Ich meine, sie sollten ... passiv an ein Bild herangehen und das aufnehmen, was es ihnen bieten kann.8

Pollock betont ebenfalls die passive Komponente des primären Affiziertseins durch den künstlerischen Gegenstand.

Wenn also eine Person mit einem Bild in Kontakt tritt, dann eröffnet das Werk einen Dialog mit dieser Person, in dem das Kunstwerk und der Beobachter gleichwertige Partner einer Situation sind, in welcher beide als unabhängige Systeme sich wechselseitig aufeinander beziehen. Ohne diesen grundlegenden Dialog kann kein Kunstwerk erfahren werden. Für jegliche auch noch so rudimentäre Form von Kunst-Erfahrung ist die




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Wechselbeziehung zwischen Kunstwerk, Beobachter und Umgebung eine absolut notwendige Bedingung. Ohne diese dialogische Einbettung gibt es nichts zu beobachten, zu beschreiben oder zu interpretieren. Die Eigenschaften des Raumes, seine Härte oder Glätte, seine Akustik spielen hierfür ebenso eine Rolle wie Säulen, Wände, Decken, Lichtverhältnisse, Möblierung, Weihrauch, Gesang oder die Anwesenheit anderer Menschen. Erst dann läßt sich diese ganzheitliche, physische Konfrontation in visuelle, haptische, auditive, olfaktorische oder sensumotorische Teilerfahrungen aufgliedern. Die Art der Begegnung mit der spezifischen Konfrontationssituation des Werkes entscheidet über den ersten Eindruck, den man von dem Werk hat, gleich dem ersten Eindruck, den man von einer Person, wenn man ihr zum ersten Mal begegnet, erhält. Trotzdem legt dieser erste Eindruck nur ganz global die weitere Richtung der Wahrnehmungsauseinandersetzung fest. Er selbst aber bleibt stets revidierbar.




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V

Die Erfahrung von Kunst ist deshalb durch eine mehrfache Perspektivität gekennzeichnet. Man könnte sie grob gesprochen in die Perspektive des Künstlers, die Perspektive des Werkes und in die Perspektive des Beobachters unterscheiden. So kann der Künstler nicht alles, was er auf der Welt vorfindet, in einem Bild darstellen. Er muß notwendigerweise auswählen und sich in der Wahl der Elemente und deren Zusammensetzung beschränken. Die Perspektivität künstlerischer Darstellungssysteme resultiert aus der hohen Selektivität der Elemente, da der Künstler während des Herstellungsprozeßes entscheiden muß, welche Zusammenhänge er darstellen will und welche nicht.

Zur Perspektive des Beobachters läßt sich folgendes festhalten:
Für jeden Wahrnehmungsvorgang gilt generell, daß sich der Wahrnehmungsgegenstand, also in unserem Falle das jeweilige Kunstwerk, in Abhängigkeit vom Standpunkt des Beobachters unterschiedlich präsentiert. Eine Veränderung des Standortes ergibt verschiedene Ansichten und Aspekte des gleichen Kunstwerkes. Daher sehen wir den künstlerischen Gegenstand in jeweils einer seiner Erscheinungsweisen oder Aspekte. Wenn sich ein Beobachter im Raum umherbewegt, erfährt er nicht nur die Veränderungen in der Erscheinungsweise des künstlerischen Gegenstandes, sondern er erfährt auch den strikten Zusammenhang zwischen seiner eingenommenen Position und der daraus resultierenden ästhetischen Erfahrung. (Abb. 13a-d) Denn jede nach außen, auf ein bestimmtes Wahrnehmungsobjekt hin gerichtete Wahrnehmung ist immer auch gleichzeitig von einer nach innen gerichteten, propriozeptiven Selbstwahrnehmung begleitet.9

Dasselbe gilt von Denkvorgängen. Wenn man über etwas nachdenkt, geschieht dies immer von einer bestimmten Position aus, nämlich dem eigenen Standpunkt. Von diesem Standpunkt aus gesehen, erscheint der Gegenstand des Denkens in einer bestimmten Art und Weise. Er erscheint innerhalb eines bestimmten Bezugsrahmens, welcher dem in Frage stehenden Gegenstand seine spezifische Bedeutung verleiht. Auch im Denken können wir, wie in der räumlichen Bewegung, einen anderen Stand-




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punkt einnehmen und den Gegenstand des Denkens in einer neuen, ungewohnten Weise sehen. Nehmen wir zum Beispiel die Assunta von Tizian. (Abb. 13 a-d) Es ist relativ leicht einzusehen, daß verschiedene Menschen, die von unterschiedlichen räumlichen und geistigen Standpunkten aus das Werk betrachten, unterschiedliche Aspekte dieses Werkes für wesentlich




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erachten werden. Ein Restaurator, der das Bild restaurieren soll, ein Versicherungsagent, der den momentanen Zeitwert des Bildes bestimmen will, ein Aufseher, der darauf aufpassen soll, daß ihm niemand zu nahe kommt, ein gläubiger Christ, der vor dem Altar zur Muttergottes beten will, ein Tourist aus Japan, ein Kunsthistoriker, der eine wissenschaftliche Untersuchung schreiben will, - sie alle werden dasselbe Bild unter verschiedenen Bezugsrahmen sehen und daher völlig verschiedene Aspekte für zentral und wesentlich halten. Verschiedene Beobachter sehen also gewöhnlicherweise nicht nur unterschiedliche Aspekte des in Frage stehenden Werkes, sondern sehen es auch in teilweise völlig verschiedene Bezugssysteme eingebettet. Ein bestimmter Beobachter kann nun auf seinem Standpunkt beharren und ihn für wichtiger als die anderen halten, - was ja häufig genug vorkommt und im Alltag für die hinreichend bekannten Verständigungsschwierigkeiten sorgt - und nicht in der Lage sein, andere Aspekte der Sache als nur die seinen zu sehen. Oder er kann einen anderen Standpunkt beziehen und durch diesen Einstellungswechsel die daraus resultierenden Veränderungen in seiner ästhetischen Erfahrung als Selbst-Erfahrung an sich selbst erfahren. So kann der Kunsthistoriker z. B. versuchen, die Assunta Tizians aus der Perspektive des Gemälderestaurators zu sehen, aus der Perspektive eines gläubigen Christen des 16. Jahrhunderts, oder aus der Sicht des Fotografen, der ihm eine Abbildung für seine Publikation liefern soll. Die Übernahme einer fremden Perspektive ist in der ästhetischen Erfahrung möglich und auch gang und gäbe.

Man kann also davon sprechen, daß es im ästhetischen Dialog sowohl eine Perspektivität von seiten des Künstlers gibt wie auch von seiten des Beobachters. Man könnte sie die Erzählperspektive und die Beobachterperspektive nennen. Darüber hinaus ist es immer auch möglich, die Perspektive des jeweils Anderen einzunehmen. Der Künstler kann sich z. B. in die Rolle des Beobachters versetzen und der Beobachter in die Rolle des Künstlers. Der Künstler ist gleichzeitig der erste Beobachter seines Werkes. In dieser Perspektivenübernahme schlüpft er momentan in die Rolle eines Beobachters und überprüft das Werk in dieser Einstellung auf seine Wirksamkeit. Das Verhältnis des Künstlers zu seinem eigenen Werk ist daher bereits während des Herstellungsvorganges ein reziprokes, dialogisches Verhältnis. Der amerikanische Maler Barnett Newman hat dieses perspective taking in einem Interview mit David Sylvester angesprochen:

Eine Sache, die mich im Zusammenhang mit der Malerei interessiert, ist die, daß das Bild dem Menschen einen Sinn für seine Position geben sollte, daß er weiß, daß er dort ist, so daß er sich selbst bewußt ist. In diesem




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Sinne setzt er sich mit mir in Beziehung, als ich das Bild machte, nämlich in dem Sinne, in dem ich dort war. 10

Der Beobachter wiederum kann sich über das Werk in die Erzählperspektive des Künstlers hineinversetzen, um das Werk so zu verstehen, wie es möglicherweise der Künstler selbst verstanden haben könnte und verstanden haben wollte. Künstler und Beobachter interagieren jedoch nicht direkt miteinander.11 Sie können sich den jeweils Anderen nur denken. Der Künstler hat während des Entstehungsprozesses des Bildes nur eine fiktive oder implizite Vorstellung von seinem Publikum; und in dieses kann er sich nur über die gemeinsame strukturelle Koppelung mit der Umgebung hineinversetzen. Die Ansprache des Bildes richtet sich daher in den meisten Fällen nur an einen generalisierten Anderen, wie es George Herbert Mead bezeichnet hat, an einen impliziten Beobachter und nicht an ein bestimmtes reales Individuum. Den tatsächlichen Zuschauer jedoch spricht nur das Werk selbst an. In ihm erscheint der Künstler als eine Person, deren Absichten vom Beobachter intentional rekonstruiert werden können. Der Beobachter interagiert also nicht mit dem realen Künstler, sondern nur mit einer intentionalen Rekonstruktion, in der er sich die Person des Künstlers durch das Werk hindurch vorstellt und dessen Erzählperspektive übernimmt. Die Kunst-Erfahrung funktioniert also durchaus mit zahlreichen Vorannahmen, Voraussetzungen, Überraschungen und Erwartungen. Diese Präsuppositionen werden vor allem durch die jeweilige strukturelle Koppelung des Werkes mit seiner Umgebung bestimmt.


VI

Ich fasse am Schluß noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse zusammen. Wir haben es in der Erfahrung von Originalwerken mit einer dialogischen Grundsituation zu tun, in der die Ansprache von den Bildern ausgeht und




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nicht von den Beobachtern. Zahlreiche Umgebungseinflüsse steuern bereits vor der eigentlichen Begegnung des Beobachters mit dem Werk den weiteren Verlauf der Wahrnehmungsauseinandersetzung. Erst aufgrund der Tatsache, daß sich Beobachter und Kunstwerk in derselben Umgebung aufhalten, findet eine Kalibrierung, d. h. ein gegenseitiges Aufeinandereinstellen und Anpassen der für die Werk-Erfahrung maßgeblichen Wahrnehmungssysteme statt. Im Dialog zwischen Kunstwerk und Beobachter existiert also aufgrund struktureller Koppelung eine doppelte Gebundenheit des Erlebens. Zum einen existiert eine referentielle Gebundenheit des Kunst-Erlebnisses, indem sich Beobachter wie Künstler durch das Werk hindurch gemeinsam auf eine bestimmte Welt-Sicht - nämlich die des Kunstwerkes - beziehen und zum anderen eine situative Gebundenheit, welche aus der strukturellen Koppelung von Ort, Zeitpunkt, Werk und Beobachter resultiert. Diese wechselseitigen Einflüsse, bei denen es sich um nicht-sinnliche Randbedingungen handelt, beeinflussen das Kunst-Erlebnis von vorneherein in eine bestimmte Richtung. Bei der Reproduktion eines Kunstwerkes ist diese gemeinsame Umgebungseinbettung, die jeweils spezifische Weise der strukturellen Koppelung nicht mehr vorhanden. Das reproduzierte Werk ist, zusammen mit dem Beobachter, in ein anderes Umgebungssystem verlagert worden. Aus dieser Kontextverschiebung kann unter Umständen eine Bedeutungsverschiebung in der Konkretisation des wahrgenomenen Werkes resultieren, was unter Umständen zu entscheidenden Fehlkalibrierungen oder Fehlurteilen führen kann.

Die dialogische Struktur des Kunst-Erlebnisses ist nicht nur eine Frage der kognitiven Dispositionen und Fähigkeiten des Beobachters, sondern sie liegt in gleichem Maße sowohl in der strukturellen Kopplung von System und Umwelt wie in den Mikrostrukturen des Bildes selbst begründet. Die Umgebung, in welcher das Erlebnis von Kunstwerken stattfindet, prägt und beeinflußt von vorneherein die gesamte Ausrichtung bzw. seinen weiteren Verlauf. Es gilt von daher, die referentielle Perspektive, die Sicht auf die Welt, als eine Sichtweise des jeweils Anderen (des Künstlers bzw. des Beobachters) anzuerkennen und sie für den Dialog mit der Kunst in Rechnung zu stellen, sie aber selbst nicht unbedingt zu übernehmen. Der Künstler formuliert das Werk als Form nur soweit vor, daß der Beobachter es in seiner persönlichen Sichtweise vollenden und verstehen kann.




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Verzeichnis der Abbildungen

Abb.1 Robert Delaunay: Blick auf die Stadt, 1910/14 :Original und Poster (Städtische Kunsthalle Mannheim: )
Abb.2: Lichtemissionsspektren
Abb.3: Spektrale Strahlungsverteilungen
Abb.4: Betrachterin vor Robert Delaunay: Portugiesischer Markt, 1916 (Städtische Kunsthalle Mannheim)
Abb.5: Betrachterin vor Edouard Manet: Erschießung des Kaiser Maximilians von Mexiko, 1867 (Städtische Kunsthalle Mannheim)
Abb.6: Paolo Veronese: Taufe Christi (Venedig, Il Redentore; Sakristei und 2. Seitenaltar rechts)
Abb.7: Fotomontage der Größenverhältnisse
Abb.8: Michelangelo: David (Florenz, Accademia)
Abb.9: Betrachterin vor Auguste Rodin: Eva (Städtische Kunsthalle Mannheim)
Abb.10: SW-Abbildung einer Buchseite aus Richard Wollheim: Painting as an Art mit den beiden Bildern C.D. Friedrich: Landschaft mit dem Regenbogen, um1810 und Philips de Koninck: Landschaft mit Jagdpartie, um 1665-75
Abb.11: Diaprojektion der beiden Abbildungen im Hörsaal des Kunsthistorischen Institutes, Heidelberg
Abb.12: Betrachterin vor Jackson Pollock: Autumn Rhythm no. 30 (New York, Museum of Modern Art)
Abb. 13a-d: Fotosequenz einer schrittweisen Annäherung an Tizian´s Assunta, (Venedig, Santa Maria Gloriosa dei Frari)


Fussnoten:
1 Georg Johann Lischka: Über die Mediatisierung: MEDIEN UND RE-MEDIEN. Bern: Benteli Verlag (1988), p. 26.
2 "Die dynamischen strukturellen Beziehungen einer Einheit mit ihrem Medium, durch die diese Einheit ihre Identität bewahrt (...) nenne ich >strukturelle Koppelung< (oder >strukturelle Anpassung<). Diese Koppelung wird durch die alltägliche Praxis des Beobachters erkennbar." Humberto R. Maturana: Elemente einer Ontologie des Beobachtens; in: Hans Ulrich Gumbrecht / K.Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt: Suhrkamp (1988), p. 833.
3 Humberto Maturana/Francesco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Scherz Verlag (1987), p. 85.
4 John Dewey: Kunst als Erfahrung. Frankfurt: Suhrkamp (1980), p. 18.
5 ibd., p. 21.
6 ibd., p. 32.
7 Josef Albers: Kunst-Sehen ; in: Josef Albers: White Line Squares. Los Angeles County Museum of Art (1966), p. 11.
8 Elizabeth Frank: Jackson Pollock, München (1984), p. 110.
9 James J. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. Übers. und m. e. Vorwort versehen v. Gerhard Lücke und Ivo Kohler. München-Wien-Baltimore: Urban & Schwarzenberg (1982), pp. 120 ff sowie p. 196 f.
10 "One thing that I am involved in about painting is that the painting should give man a sense of place, that he knows that he's there, so he's aware of himself. In that sense he relates to me when I made the painting because in that sense I was there." Harold Rosenberg: Barnett Newman . New York: Abrams (1978). p. 246.
11 Carl Friedrich Graumann und Carlo Michael Sommer haben auf dieses bedeutende Detail in der Dialogsituation hingewiesen, welches in der mir bekannten rezeptionsästhetischen Literatur bisher übersehen wurde. C. F. Graumann/C. M. Sommer: Perspektivität und Sprache. I. Perspektivische Textproduktion. Arbeiten der Forschergruppe Sprechen und Sprachverstehen im sozialen Kontext ,Heidelberg/Mannheim, Bericht Nr. 8, Juli 1986, p. 15.



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