Hans Dieter Huber
Das Netz als ein Mediensystem und als ein soziales System

First Installation: 03.10.1999 Last Update: 03.10.1999

Vortrag auf der 8. Internationalen Performance-Konferenz, networking meeting '99, Frankfurt/M., 13.- 16.Mai 1999

Vorbemerkung

Die 8. Internationale Performancekonferenz mit dem Titel performance art und networking ist ein merkwürdiger Zwitter. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob eine in die Jahre geratene Generation alternder Performance-Künstler Anschluss sucht an die jüngere Generation der Netzaktivisten und Netzkünstler. Auf der anderen Seite erlebt die Live- Performance in einer jüngeren Künstlergeneration wieder eine gewisse Auferstehung. Von seiten der Netzaktivstien und -künstler kann ich eine solche Bewegung nicht beobachten. Hier sieht das Bild ganz anders aus. Das Thema der virtual community, das der virtuellen Gemeinschaft, welches eines der Themen und utopischen Träume von Netzaktivisten und Netzkünstler Anfang bis Mitte der neunziger Jahre war, hat mit den Masenzugangsmöglichkeiten von AOL und T-Online schlicht und einfach jegliche Bedeutung verloren, die es einmal besaß. Die Internationale Stadt Berlin, das virtuelle Kontextsystem der neunziger Jahre, wurde im März 1998 ganz zugemacht und vom Netz genommen. The Thing in New York, das älteste und wichtigste Künstlernetzwerk, 1991 von Wolfgang Staehle gegründet, hat letzte Woche versucht, seine alten Webseiten in einer elektronischen Auktion für 1125 Dollar an das Guggenheim Museum New York zu versteigern. Adaweb wurde von Digital City rausgeworfen, mußte daraufhin seinen Betrieb einstellen und liegt nun als virtuelle Geisterstadt auf dem Server des Walker Art Centers in Minneapolis. Selbst nettime, die lebendigste networking-community der letzten Jahre, hat längst ihren Zenit überschritten und zerfällt langsam wieder in ihre Bestandteile. Das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien hat letztes Jahr einen internationalen Forschungsschwerpunkt zum Thema communities ausgeschrieben - den kulturwissenschaftlichen Sargdeckel zu einer Idee, die von der zeit überholt wurde. In dem Moment, in dem das Thema der virtuellen Gemeinschaften im Internet quasi tot, beendet und erledigt ist, können seine Überreste quasi wissenschaftlich erforscht, aufgearbeitet, klassifiziert und eingeordnet werden.

Meine erste Frage heute wäre also, was soll eine Konferenz zum Thema Künstlernetzwerke, virtuelle Gemeinschaften und Performance zu einem Zeitpunkt, an dem dieses Thema zumindestens im Netz selbst längst ausdiskutiert ist. Versucht hier die Performancebewegung oder ein Teil davon, auf einen Zug aufzuspringen, der nicht nur schon längst abgefahren ist, sondern der bereits auf ein Abstellgleis geschoben wurde und dort auf seine Verschrottung bzw. Musealisierung wartet. Es ist aber dennoch völlig unwichtig, ob meine Vermutungen richtig sind oder falsch. Denn es kommt vielmehr darauf an, daß wir alle heute hier in Frankfurt, uns in diesem Raum befinden aus irgendwelchen mehr oder weniger nachvollziehbaren Gründen. Das ist das Gegebene. Etant donné ...

Der zweite Punkt betrifft die Frage meiner Einladung, über die ich lange nachgedacht habe. Denn ich bin weder Performance-Künstler noch Netzaktivist, sondern ein akademischer Professor für Kunstgeschichte an einer Kunsthochschule. Ich habe mich daher gefragt, was könnte ich in meiner Person, als Hans Dieter Huber, für einen Beitrag leisten hinsichtlich eines noch zu beginnenden Diskurses über Performance-Kunst und Netzwerke. Ich bin dann zu der Schlussfolgerung gelangt, daß dies vielleicht geschehen könnte, indem ich möglicherweise verschiedene Begriffe, Konzepte oder Ideen vorstelle, in welche Richtung eine Diskussion auf diesem Gebiete gehen könnte.

Das Einzige, was ich also heute hier machen kann, ist darauf zu hoffen oder darauf zu vertrauen, daß der eine oder andere Begriff, den ich heute hier erläutern werde, bei dem einen oder anderen Zuhörer eine Inspiration, eine Eingebung, eine Vorstellung oder eine Anregung hervorruft, die nicht in meiner Kontrolle liegt und die ihn selbst in der Beantwortung dieser Frage persönlich ein Stück weiter bringt. Denn das Gesagte trifft immer auf völlig unterschiedlich vorkonfigurierte kognitive Oberflächen des Publikums.

 

Grundlagen

Ich werde also zunächst eine kurze Einführung in die Grundlagen eines systemischen Modells von networking geben, das vielleicht ein differenzierteres Verständnis von Struktur und Funktion dieser Kommunikaktionsprozesse ermöglicht. In einem zweiten Teil werde ich dann in unverbundener und collagehafter Weise einige Begriffe diskutieren, von denen ich meine , daß sie für die Diskussion einer neuen und vielleicht erst noch zu etablierenden Beziehung zwischen Performance Art und Netz.Kunst.Aktivisten vielleicht von Bedeutung sein könnten.

 

Das Internet als ein Mediensystem

Wenn man danach fragt, was das Internet 'eigentlich' ist, fällt einem auf, daß es in der bisherigen Auseinandersetzung von Metaphern nur so wimmelt.(1) Der verstärkte Gebrauch von Vergleichen und Analogien ist ein Indiz für die allgemeine Unsicherheit hinsichtlich der Frage, mit welchem Phänomen man es hier zu tun hat und wie man seine Struktur angemessen beschreiben kann. Ist das WWW ein information highway, ein globales Dorf, eine Architektur, eine Bibliothek, ein Netz, ein Organismus, ein Supersystem (Frank Radermacher), oder ein Geschwür? Jede dieser Metaphern erzeugt letztlich ein unbrauchbares Bild. Denn diese Metaphern sind eine Mystifizierung des Netzes. Sie setzen etwas, das wir nicht kennen und nicht sehen können, in Verbindung zu etwas, was wir sehr gut zu kennen scheinen. Aber dieses Anthropomorphisieren mit etwas, was man schon kennt, führt u.U. zu Wahrnehmungsverzerrungen und semantischen Verschiebungen, die einen zu einem falschen Verständnis oder zu falschen Schlußfolgerungen über die Funktionsweise des Internets gelangen lassen. Denn die Physikalität und Materialität des Netzes ist eine ganz andere. (2)

Das WWW läßt sich am besten als ein operational geschlossenes System beschreiben, in dem es weder einen Input noch einen Output gibt. Das klingt seltsam. Im Grunde läuft diese These jedoch auf die einfache Einsicht hinaus, daß kein System außerhalb seiner eigenen Grenzen operieren kann, auch das Internet nicht. Es kann lediglich Kommunikationsangebote bereithalten, die von anderen Systemen aber nur aufgrund deren Eigenleistung, Eigenaktivität und Eigendynamik operativ verarbeitet werden können. Halten wir also noch einmal fest, daß das Internet als ein operational geschlossenes Mediensystem nichts außerhalb von sich selbst bewirken oder verändern kann. Genau betrachtet ist das Internet aber kein homogenes Mediensystem, sondern ein Medienverbund aus verschiedenen Einzelmedien, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Protolkollstruktur definieren.

Als Medienverbund ist das Internet ein System aus operational geschlossenen Festspeichern, in denen informierte Materie bzw. materialisierte Informationen bereitliegen. (3) Aber es ist ein geschlossener Speicher. Nichts dringt hinein, nichts dringt heraus. Das erscheint paradox. Alles was passiert, passiert innerhalb des Systems, das auf dieser Ebene keinerlei Verbindung mit seiner Umwelt besitzt. Alles, was hinein will oder heraus will, muß in die Sprache des Systems übersetzt werden. Dies geschieht durch die Schnittstellen. Mit ihrer Hilfe unterhält der Medienverbund Internet seinen Kontakt zur Umwelt aufrecht. Auf der einen Seite gibt es sensorische Schnittstellen wie Tastatur, Touchscreen, Maus, Scanner, Mikrfone und WebCams, sowie auf der anderen Seite effektorische Schnittstellen wie Bildschirme, Lautsprecher oder Drucker. Über diese Oberflächen schließt der Benutzer an das geschlossene System an. Er kann damit im System und nur im System selbst unterschiedliche elektronische Zustände generieren oder verändern. Erst über eine tatsächliche Anschlußkommunikationen durch den Aufruf einer bestimmten Seite, das Laden eines Bildes, das Klicken eines Hyperlinks, das elektonische Versenden eines Textes wird das Internet zu einem sozialen System. Erst der tatsächliche Gebrauch macht das Netz von einem operational geschlossenen Medienverbund zu einem sozialen System.

 

 

Das Internet als ein soziales System

Für sich alleine betrachtet, d.h. ohne seinen tatsächlichen Gebrauch, ist das Internet aber noch lange kein soziales System, sondern nur ein Mediensystem bzw. ein Verbund von Einzelmedien, in dem Informationen in einer bestimmten Form gespeichert, verändert oder hin und her transportiert werden. Zu einem sozialen System unserer Gesellschaft wird es erst durch seinen tatsächlichen Gebrauch, durch seine Benutzer. 4Der Benutzer ist aber kein Bestandteil des Hypermediums Internet, sondern er ist Bestandteil seiner Umwelt.

Dieser Gedanke erzeugt zunächst einige Irritationen. Denn die Benutzer sind keine Bestandteile des Mediensystems Internet, sondern sie gehören seiner Peripherie an. Jeder Benutzer beobachtet das Internet von außen, aus einer externen Perspektive. Sein privates und anderen daher strikt unzugängliches Bewußtsein kann nur über die sensorischen und effektorischen Oberflächen und Schnittstellen des Internets gekoppelt werden. Seine Hand wird über die Maus in das kleine digitale Ikon des Browsers hinein verlängert. Tastatur, Scanner, Video-In, Audio-In und Maus sind die wichtigsten sensorischen Schnittstellen des Internet, mit denen das Mediensystem in sensorischem Kontakt zu seiner Umwelt steht, mit dem es seine Umwelt wahrnehmen kann, können wir auch sagen. So paradox es klingt, aber das Internet ist in der Lage, sowohl sich selbst als auch seine Umwelt mit Hilfe seiner senorischen Peripherie zu beobachten und diese Beobachtung nach Maßgabe seiner operationalen Eigendynamik zu verarbeiten. Man denke hier nur an die sog. log files, die jede Bewegung im Netz aufzeichnen und genau zurückverfolgen lassen, wer welche Seite wie lange angesehen hat.

Soziale Systeme sind allgemein gesprochen, Kommunikationssysteme, die ihre Systemgrenzen aufgrund ihrer tatsächlichen Eigenaktivität erzeugen. Das Internet (als ein soziales Kommunikationssystem und nicht als Hardwaresystem) erzeugt sich aus diesen Bestandteilen und reproduziert sich aus diesen Bestandteilen. Es erhält sich in einem Zyklus beständiger Reproduktion von Aufruf, Routing und Schicken aufrecht. Es stabilisiert sich durch die beständige Reprodutkion von Interaktionen in einem bestimmten historischen Zustand, der sich durch geeignete Werkzeuge von aussen beobachten läßt und der insofern wandelbar ist, als sich die Art und Weise der Selbstreproduktion ändert. Dennoch stabilisieren sich letztendlich über wiederholte Reproduktionszyklen von Kommunikationen und Anschlußkommunikationen im Internet bestimmte Gewohnheiten, Traditionen, Innovationen, Rituale, Normen, Erwartungshaltungen, Vorurteile, usw. aus; eben alles das, was ein soziales System in seinem Gebrauch und seinem tatsächlichen Reichtum an Komplexität auszeichnet.

 

TEIL II

Soviel zunächst zu einem grundlegenden Verständnis von Netzwerken als Mediensystemen bzw. als sozialen Systemen. Ich komme nun zu Teil II, in welchem ich einige zentrale Konzepte dieser Theorie auf die spezifische Fragesellung der Konferenz hin befragen möchte. Es handelt sich um die Begriffe Interaktion, Kommunikation, Verstehen, Ausdifferenzierung und networking.

 

Interaktion

In der früheren Systemtheorie hatte man den Begriff der Beziehung oder der Relation zwischen zwei Einheiten eines Systems verwendet, um die Art der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen ihnen zu beschreiben. Der Begriff der Relation suggerierte jedoch eine konstante, starre und gleichbleibende Verbindungsform. Dies war aber in den meisten sozialen Systemen keineswegs der Fall. Die neuere Systemtheorie ist demzufolge dazu übergegangen, den Begriff der Interaktion zu bevorzugen. Denn die Interaktionen zwischen zwei Einheiten eines Systems können sich je nach Beobachterstandort und Beobachtungszeitraum verändern. Der Begriff der Interaktion in Performance und Netzwerken weist auf die Möglichkeit der wechselseitigen Beeinflußung des Verhaltens beteiligter Komponenten in der Interaktion hin. Eine Interaktion zwischen zwei Individuen eines sozialen Systems kann erfolgen, aber sie kann auch unterbleiben. Sie kann sich ferner durch oftmalige Wiederholung stabilisieren und dadurch zu einer relativ festen Verbindung werden. Die durch wiederholte, rekurrente Interaktion stabilisierten Beziehungsmuster eines Systems werden auch rekursive Interaktion oder Konnektivitäten genannt. (5) Darunter werden relativ feste oder zumindest regelmäßig genutzte Verbindungen zwischen interaktionsfähigen Komponenten eines (sozialen) Systems verstanden.

Wer oder was interagiert nun im Internet miteinander? Wenn man es als geschlossenes Mediensystem ohne Benutzer auffasst, interagieren einzelne Rechner in komplexer Weise über Router, Domain Name Server und Telefonleitungen miteinander. Wenn man das Netz als ein soziales System betrachtet, interagieren verschiedene Menschen aus der peripheren Systemumwelt mit Hilfe des geschlossenen Mediums. In diesem Gebrauch differenziert sich das Mediensystem selbständig aus. Es organisiert sich selbst weitgehend unabhängig von äußeren Eingriffen.

 

Kommunikation

Das Internet ist in erster Linie ein Kommunikationsmedium. In dem Maße, wie sich das Netz global ausdehnt, wird auch die Kommunikation zunehmend globalisiert. Die elektronischen Informationsflüße überschreiten längst nationale Grenzen, die raumzeitlichen Distanzen schrumpfen und die sozialen Beziehungen intensivieren sich, so zumindestens Anthony Giddens in "Konsequenzen der Moderne".(6) Ohne eine tatsächliche Kommunikationssituation funktioniert das Internet aber nur als ein geschlossenes Archiv, auf das der Kommunikationsprozeß, und das ist immer auch eine Performance, zugreift.(7) Die lateinische Wurzel des Wortes lautet communicare : Das heißt, teilhaben lassen, etwas gemeinschaftlich machen. Gemeint ist etwas, das man mit anderen teilt und zum Gegenstand einer Gemeinschaft macht. Das Adjektiv communis bedeutet "gemeinsam dienstbereit, mitverpflichtet". In diesen Begriffen steckt die Wurzel munia: Leistungen, Amtspflichten, Berufsgeschäfte bzw. munus als 'Aufgabe, Pflicht, Leistung'.(8) Davon wiederum stammt der Begriff immunis im Sinne von 'nicht dienstbereit, frei von Leistungen, nichts beitragend'. Das Gegenteil von Kommunikation wäre nach diesem Sprachmuster Immunität. Kommunikation müßte dann analog als eine Art Immunschwäche verstanden werden. Wenn man über die Auswirkungen elektronischer Medien auf Kommunikation und Kultur spricht, muß man auch über Formen der Immunität oder Resistenz gegen die Globalisierung von Kommunikation und Kunst nachdenken.

Am einfachsten läßt sich Kommunikation als ein Übertragungsmodell zwischen Sender, Botschaft und Empfänger auffassen, der die codierte Nachricht erst entschlüsseln muß, um sie verstehen zu können. Dieses Modell, das aus der militärischen Nachrichtentechnik des 2. Weltkrieges stammt, beherrscht auch heute noch die landläufige Vorstellung von Kommunikation.(9) Dieser Begriff reicht aber nicht mehr aus, um die Komplexität der kommunikativen Leistungen unserer Gesellschaft zu beschreiben und erst recht nicht, um die Kommunikationsstrukturen elektronischen Datennetze angemessen zu verstehen.

Im letzten Jahrzehnt hat sich in der Auseinandersetzung mit dem Radikalen Konstruktivismus und der Theorie sozialer Systeme eine neue Kommunikationstheorie entwickelt. Ihr Ausgangspunkt ist das Konzept operational geschlossener Systeme. Nur die Kommunikation kann kommunizieren, nicht aber das Bewußtsein, das Denken oder die Wahrnehmung.(10) Kommunikation wird dabei als ein Orientierungsverhalten aus drei Selektionen verstanden, nämlich als ein Zusammenwirken von Information, Mitteilung und Verstehen.(11)

Aber erst der Vorgang des Verstehens generiert einen kognitiven Inhalt im mentalen System eines Beobachters oder Benutzers. Er wird von der Form, die in einem bestimmten Medium mitgeteilt wurde, zu kognitiver Aktivität angeregt(12) Alle drei Selektionen zusammen können als eine Form von Kommunikation aufgefasst werden. Im Zusammenhang von Information und Mitteilung geht es vor allem um die Fragen des Mediums: der Speicherung und der elektronischen Archivierung von Schrift, Bild und Ton. Im Kontext des Verstehens solcher intermedialer Speicherformen geht es dagegen um Kommunikation. Hier greifen die entscheidenden Mechanismen von Globalisierung bzw. Fundamentalismus. Denn das Verstehen hängt sowohl von individuellen wie von sozialen und kulturellen Bedingungen ab.

 

Verstehen

Während Form und Medium im Internet global produziert, distribuiert und reproduziert werden können, hängt das Verstehen des Inhalts immer noch von individuellen, milieuspezifischen, regionalen, nationalen und kulturellen Umständen ab. Hier tritt also die Kultur auf Seiten des urteilenden Subjekts ins Spiel. In dem Maße, in dem der Zug zur Globalisierung wächst und es zu einer lateralen Ausdehnung sozialer Beziehungen durch das Internet kommt, verstärkt sich auch der Druck auf die Formen lokaler Autonomie und regionaler Identität.(13)

In kulturtheoretischen Diskussionen der letzten Jahre wurde Kultur als ein Standardmodell von Verhaltensweisen beschrieben, das durch bestimmte kognitive und kommunikative Prozesse als eine Form kollektiven Wissens erzeugt wird. Kultur wird als ein System kollektiver Sinnstrukturen aufgefasst, mit dem Menschen ihre Wirklichkeit definieren.(14) Kultur sorgt dafür, daß das Wirklichkeitssystem einer Gesellschaft sowie seine soziale Semantik auf Dauer gestellt und institutionalisiert werden kann. Sie federt wechselseitige Kommunikationsrisiken ab, indem es Strategien zur Regulierung und Kanalisierung von kognitiven Überkapazitäten durch Sinnsysteme bereitstellt. Dabei werden zwei Aufgaben gelöst. Auf der einen Seite wird die Reproduktion gesellschaftlich relevanter Problemlösungen und Verfahrensweisen auf Dauer gestellt, also eine Tradition ausgebildet. Auf der anderen Seite wird die Kontrolle des Individuums durch Sozialisation, Macht, Sprache und verschiedene soziale Semantiken wie Kleiderordnungen und Standards angemessenen Verhaltens gewährleistet.

Wenn Information und Mitteilung auf ein bestimmtes Individuum treffen, das diese Medienform verstehen will, dann treffen sie zunächst auf individuelle, soziale und kulturelle Voreinstellungen, Gewohnheiten, Vorurteile, Traditionen, usw. Jede Kommunikation durchläuft also im Verstehensprozeß einen kulturellen Filter, der die jeweilige Medienform bewertet, beurteilt und kontrolliert. Dieser kulturelle Filter als ein Programm der Thematisierung, Bewertung und Einschätzung von Kommunikation läßt sich auch als regulative Idee (15) oder als binäre Codierung verstehen.(16) Kultur konditioniert Kommunikation auf Ausmaße, die für das jeweilige Individuum gerade noch verarbeitbar, verstehbar oder überschaubar sind.

Wenn sich Information und Mitteilung durch das Internet globalisieren und die jeweilige Kultur als eine Form von regionaler, kultureller Identität diese Formen bewertet, thematisiert und kontrolliert, dann durchlaufen sämtliche globalisierenden Mechanismen einen lokalen, kulturellen Filter. Wie kann man sich solche kulturellen Filter vorstellen? Man kann sie als Entscheidungs- und Bewertungsprogramme auffassen, als binäre Codierungen wie z.B. gut/schlecht, brauchbar/unbrauchbar, neu/altmodisch, wichtig/unwichtig, bekannt/unbekannt, etc. Sie beurteilen die global eintreffenden Formen des Internets und selegieren die für das jeweilige Individuum und seine Kultur relevanten Informationen.

Kultur konditioniert also die Globalität von Netz-Informationen auf ein für das jeweilige Individuum vertretbare kognitive Maß. Soweit gesehen, sind Globalisierung der Kommunikation und kultureller Fundamentalismus zwei Seiten eines Systems von 'checks and balances', in denen der globale information overload des Internets auf individuell und kognitiv verarbeitbare Kapazitäten reduziert wird.

 

Ausdifferenzierung

Das allmähliche Sich-Verdichten von Kommunikationsbeziehungen durch regelmäßig wiederkehrende Interaktionen bezeichnnet man mit dem Begriff der Konnektivität. Durch Konnektivitäten, also durch relativ regelmäßig, fest, dicht und wiederholt miteinander interagierende Teilbereiche des Internets entsteht eine spezifische Struktur und Dynamik von Interaktionsbeziehungen. Sie autonomisiert sich einerseits zunehmend durch eine Intensivierung bestimmter Verbindungen, andererseits schliesst sie sich durch eine gleichzeitige Vernachlässigung bzw. Ausdünnung anderer Kommunikationsbeziehungen und Interaktionsmöglichkeiten von diesen anderen Teilbereichen ab und errichtet dadurch eine Grenze. Entscheidend dabei ist das Gedanke, daß das soziale System selbst, also das Mediensystem und die User, durch die Art und Weise ihrer spezifischen Interaktionen diese Grenze sozusagen von selbst, von innen heraus, erschaffen. Durch rekursive Interaktionsmuster entstehen also bestimmte Regelmäßigkeiten der Kommunikation, andererseits Grenzen und Ausschlüsse. Das Resultat von Kommunikation und Interaktion, also von sozialem Gebrauch des Netzes, ist daher sowohl Autonomisierung als auch Schließung. Operationale Schließung eines Teilsystems durch rekursive Kommunikation und Abschottung nach außen sind also ein und derselbe Aspekt eines Prozesses innersystemischer Ausdifferenzierung.

 

networking

Was heißt das nun für die Fragestellung von Performance art und networking? Das bedeutet, daß durch eine Intensivierung der Kommunikationsbeziehungen durch rekursive Interaktion sich das jeweilige Teilsystem (also hier entweder der Performance-Künstler bzw. der Netzkünstler) zunehmend autonomisiert, dadurch eine Grenze bildet und gleichzeitig seine Interaktionen mit anderen Teilbereichen ausdünnt oder ganz einstellt. Hier haben wir also eine systemische Beschreibung des Prozesses der Bildung von Subkulturen, Insidergruppen usw. Wenn die Intensivierung der Kommunikation so weit betrieben wird, daß immer nur die selben Mitglieder miteinander kommunizieren, dann ist aus dem autonomisierten Teilsystem eine Clique von Performancekünstlern, Netzkünstlern oder sogar eine quasi-religiöse Sekte geworden. Man kann nur noch durch ein Initatiationsritual aufgenommen werden, das für eine verzerrte Wahrnehmung in Form einer künstlich erhöhten Gruppenattraktivität spricht. Eine zu hohe Intensivierung der networking-Beziehungen erzeugt also durch zu starke Schliessung Probleme für das System, während eine Ausdünnung und Vernachlässigung rekursiver Interaktion für Entdifferenzieung und Öffnung sorgt. Aus dieser Einsicht heraus möchte ich also für die Diskussion die These aufstellen, daß vielleicht eine Ausdünnung und De-Intensivierung der bisherigen Interaktionsbeziehungen der Performance-Künstler zu der heutigen Öffnung und De-Differenzierung in Richtung auf networking geführt haben.

Die Frage stellt sich nun, wie sieht es auf Seiten der Netzaktivisten und Netzkünstler aus. Dort ist die Tendenz zu rekursiver Interaktion immer noch sehr hoch und führt teilweise zu völlig abgehobenen Insider-Debatten, die wiederum massenweise Ausschlüsse produzieren. Siehe auch "Texte zu Kunst" (selbes Beispiel).

Systemisch gesehen, muß man also aufpassen, daß die Rekursivät der Interaktionen nicht zu hoch wird, da sonst lediglich Insider-Effekte produziert werden. Wenn man networking erfolgreich betreiben will, kommt es wesentlich darauf an, eine Balance zwischen Intensivierung und Ausdünnung von Kommunikation anzustreben, ein oszillierendes Hin- und Herschwingen zwischen Ausdifferenzierung und Autonomisierung sowie zwischen De-Differenzierung und Heteronomisierung auf einem mittleren Level von operationaler Schliessung und Öffnung. Der networker befindet sich also in einer paradoxalen Situation, der man nur durch die zeitweilige, temporäre Auflösung der Paradoxie auf die eine oder andere Seite hin ausschalten kann. (17)

 

Anmerkungen:

1 Das Motiv für den Gebrauch von Metaphern könnte in der logischen Funktion solcher Metaphern liegen. Denn eine Metapher organisiert ein neues, unbekanntes Gebiet nach der logischen Struktur eines alten, bekannten Bereiches. Einen Hinwies darauf liefert Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie. Frankfurt/M.1973, S.81-83

2 vgl. Hans Dieter Huber: Materialität und Immaterialität der Netzkunst. In: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Sonderheft Netzkunst, Jg. 26, 1998, Heft 1, S.39-53

3 Giesecke, Michael: Der Buchdruck der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/M. 1991

4 Das Internet ohne Benutzer ist ein statischer und vollkommen geschlossener Medienverbund. Zusammen mit seinen Benutzern wird es dagegen zu einem sozialen System.

5 Hejl, Peter M.: Die zwei Seiten der Eigengesetzlichkeit. Zur Konstruktion natürlicher Sozialsysteme und zum Problem ihrer Regelung. In: Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2. Frankfurt/M. 1992, S. 188, Anm.48 sowie Hejl, Peter M.: Selbstorganisation und Emergenz in sozialen Systemen; In: Krohn, Wolfgang/Küppers, Günter (Hrsg.): Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt/M. 1992, S. 276

6 Vgl. Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1995, S. 85f., sowie Anthony Giddens: Beyond Left and Right. The Future of Radical Politics, Oxford 1994, S.80f.; sowie Harvey, a.a.O., S.346-349

7 Assmann, Aleida/ Assmann, Jan: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. in: Merten, Klaus/ Schmidt, Siegfried J./ Weischenberg, Siegfried (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft . Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 114-140

8 siehe hierzu auch Emanuel Richter: Der Zerfall der Welteinheit. Vernunft und Globalisierung in der Moderne. Frankfurt/New York 1992, S.24 ff.

9 Siehe hierzu als kritische Darstellung: Klaus Krippendorf: Der verschwundene Bote. Metaphern und Modelle der Kommunikation. In:Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegried Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen 1994, S. 79 - 113

10 Niklas Luhmann: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? In: Gumbrecht, Hans Ulrich /Pfeiffer, Karl-Ludwig 1988 (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M.1988, S. 884; ferner Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation?; in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung: Bd.6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, s.113-124

11 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1984, S. 193-200

12Vgl. zur Rolle des Verstehens in der Kommunikation Gebhard Rusch: Verstehen verstehen. Ein Versuch aus konstruktivistischer Sicht; in: Luhmann, Niklas/ Schorr, Karl Eberhard (Hrsg.): Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt/M. 1986, S.40-71; Luhmann, Niklas: Systeme verstehen Systeme. In: Luhmann, Niklas/ Schorr, Karl Eberhard (Hrsg.): Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt/M. 1986, S.72-117; ferner Heinz von Foerster: Verstehen verstehen, In: Heinz von Foerster: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Frankfurt/M. 1993, S.282-298;

13 Giddens Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1995, S.86

14 Siehe zu dieser Auffassung Schmidt, Siegfried J.(Hrsg.): Kognition und Gesllschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2. Frankfurt: Suhrkamp 1992 , S.425-450; Siegfried J. Schmidt: Medien = Kultur? Bern: Benteli 1994, S.28ff.; Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt/M.1994, S.202-260; Peter M. Hejl: Culture as a Network of Socially Constructed Realities; in: Ann Rigney/Douwe Fokkema (Hg.): Cultural Participation. Trends since the Middle Ages. Amsterdam 1993, S. 227-250; ferner Niklas Luhmann: Kultur als historischer Begriff; in: ders.: Gesellschaftstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd.4, Frankfurt/M. 1995, S. 31-54; Werner Faulstich: Was heißt Kultur? Aufsätze 1972-1982, Tübingen 1983, S.13-33 sowie speziell für die Kultursoziologie Raymond Williams: The Sociology of Culture. Chicago: University of Chicago Press 1995, S.11f.

15 Siehe hierzu Thierry de Duve: Kant nach Duchamp. München 1993, S.8-80

16 Siehe hierzu Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1995, S. 301-308

17 Vgl. die bisher noch nicht sehr umfangreiche Literatur zum Thema networking: Cyberspace: A New Battlefield for Human Interests Philosophy of Culture and the Politics of Electronic Networking Studien Vlg, 1998 ca. 180 S.; Ehrhardt, Johannes (Hg.): Netzwerk-Dimensionen. Kulturelle Konfigurationen und Management-Perspektiven. Bergheim. Datacom-Verlag 1992; Fey, Gudrun: Kontakte knüpfen und beruflich nutzen Erfolgreiches Networking (Fit for Business) Walhalla u. Praetoria, 1999; Hasse, Raimund: Organisierte Forschung Arbeitsteilung, Wettbewerb und Networking in Wissenschaft und Technik edition sigma, 1996; Christiani, Alexander: Networking - Verkauf vor dem Verkauf Wie Sie zum gesuchten Experten werden (Videocassetten) inmedia, 1997; Mackay, Harvey: Networking Das Buch über die Kunst, Beziehungen aufzubauen und zu nutzen Econ, 1997; Misner, Ivan R: Marketing zum Nulltarif. Mit Networking und Empfehlungsmarketing zu neuen Kunden moderne Industrie, 1999



 

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