erschienen in: Nicolas Schaffhausen (Hrsg.):
Neue Kunstkritik. New York: Lukas&Sternberg 2001, S.
25-28
ATTRIBUTIONEN
In der Kunstkritik spielen Erwartungshaltungen eine große
Rolle. Von der Presse wird erwartet, dass sie Ausstellungen möglichst
gut und ausführlich rezensiert, von den Kritikern, dass sie
die Ausstellungen besuchen und möglichst kompetent darüber
berichten, und von den Lesern, dass sie die Kritiken mit Begeisterung
und Aufmerksamkeit lesen. Im Falle dieser Erwartungshaltungen
kann man im Prinzip Selbsterwartungen und Fremderwartungen voneinander
unterscheiden. Aus dem ständigen Wechselspiel von Selbstattribution
und Fremdattribution konstruiert sich die kunstkritische Identität
einer Person. Es kristallisiert sich ein bestimmter sozialer Habitus
heraus, eine oszillierende Mischung aus mehr oder weniger wechselnden
oder stabilen Selbsteinschätzungen und Fremdeinschätzungen
bestimmter Publikumsgruppen.
INDUKTIONEN
Entscheidend für die Lektüre von Kunstkritiken ist nicht
das Angebot der Zeitschriften, sondern das Interesse des Lesers.
Der jeweilige Leser selegiert aufgrund seiner Gewohnheiten, Einstellungen,
Interessen, Vorurteile, Werthaltungen usw. dasjenige aus dem ihm
zur Verfügung stehenden Medienangebot, was ihm lesenswert
erscheint. Dabei ist natürlich zu bedenken, dass nur dasjenige
aus dem Medienangebot von Kunstkritiken selegiert werden kann,
was von der Redaktion bereits als berichtenswert ausgewählt
wurde. Wer allerdings über die aktuelle Kunstszene gut informiert
ist, weiß auch um die Fehlstellen in der Berichterstattung,
die blinden Flecken der Kunstkritik.
Die Rezeption von Kunstkritiken ist daher immer von zwei verschiedenen Selektionen geprägt. Die erste Selektion findet in der Redaktion der Zeitschrift statt, die entscheidet, was veröffentlicht wird und was nicht. Diese Entscheidung stellt bereits eine erste Reduktion der Komplexität und Ausdifferenzierung des Kunstgeschehens dar. Die Selektionen der Redaktion sind kontingent. Sie sind immer auch anders möglich. Dabei kann man vermuten, dass sich ein Nachrichtenmedium wie die Kunstkritik stark nach ähnlichen Selektionsgesichtspunkten richtet, wie sie von Niklas Luhmann in Bezug auf Nachrichten aufgestellt wurden: Neuheit, Aktualität, Konfliktgehalt, Quantität, lokaler Bezug, Verletzung von Normen, moralische Bewertbarkeit, Interesse an Personen, Wiedergabe von Meinungen.
Die Selektivität von Kunstkritik verdichtet, bestätigt, verallgemeinert und schematisiert das zu berichtende Ereignis in einer kontingenten Form, dem jeweiligen kunstkritischen Textangebot, das nun seine Aufmerksamkeit bei einem Leser finden muss. Dieser ersten Selektion, die als Modienangebot in Form einer gedruckten Kunstkritik erscheint, steht eine zweite Selektion auf Seiten des Lesers gegenüber, der wiederum aus dem Medienangebot der Kunstkritiken selegiert. Diese Selektion aus dem Angebot der jeweiligen Zeitschriften hängt von zahlreichen intrinsischen oder extrinsischen Faktoren ab. Sie kann von Leser zu Leser immer anders erfolgen. Sie ist daher ebenfalls hochgradig kontingent. Die Selektionen eines Lesers und damit seine tatsächliche Lektüre von Kunstkritiken gehen auf eine unkontrollierbare und von Seiten der Zeitschrift unvorhersagbare Weise über dasjenige hinaus, was im Textangebot oder im Medienangebot potenziell für eine Lektüre bereitgehalten wird.
Von Seiten der Kunstkritik ist daher 1) nicht determinierbar, welche Artikel ein bestimmter Leser aus dem jeweiligen Medienangebot überhaupt lesen wird und 2), wie er das Gelesene in seinem eigenen kognitiven System verarbeitet.
Kunstkritik kann durch Irritationen Zustandsveränderungen im Leser nur auslösen, aber nicht bestimmen, ob oder in welche Richtung diese Beeinflussung geschehen wird. Denn ein bestimmtes kognitives System kann zu einem gegebenen Zeitpunkt nur dasjenige verarbeiten, was es zu diesem Zeitpunkt überhaupt kognitiv zu verarbeiten in der Lage ist. Was ein bestimmter Leser zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht zu verarbeiten in der Lage ist, kann er, schlicht und einfach gesagt, auch nicht verarbeiten, das heißt, er kann es nicht verstehen und es kann auch nicht auf ihn einwirken.
Die Lektüre von Kunstkritiken ist von einer doppelten Kontingenz gekennzeichnet. Die zweifache Selektivität der kunstkritischen Situation führt zu einer enormen Reduktion der Komplexität und Differenziertheit des Kunstgeschehens auf ein vom jeweiligen Leser gerade noch verarbeitbares Maß an Komplexität und Differenziertheit. Sie ist im Wesentlichen eine autopoietische Tätigkeit des lesenden Organismus, in der sich das Selbstverständnis des Lesers, seine so genannte kunstkritische Identität, während der Lektüre produziert und reproduziert und dadurch immer wieder auf einem stabilen Niveau letztlich wieder stabilisiert. Durch eine fortwährende kunstkritische Lektüre reproduziert sich das kognitive System des Lesers auf seine eigene Art und Weise. Es konstruiert seine kunstkritische Identität durch wiederkehrende Lektüre. Kommunikation erzeugt Anschluss-Kommunikation, Selektion erzeugt Anschluss-Selektionen. Auf diese Weise reproduziert sich das Kommunikationssystem der Kunstkritik.
EVOLUTIONEN
Wenn man die Frage nach den Möglichkeiten einer"Neuen
Kunstkritik" stellt, hängt eine Antwort in starkem Maße
davon ab, welche Begrifflichkeit man wählt, um das Feld der
Kunstkritik zu beschreiben. Sie hängt davon ab, wie man glaubt,
dass Kunstkritik in der Gesellschaft funktioniert. Wenn man Kunstkritik
als ein ausdifferenziertes Teilsystem des Kunstfeldes oder der
Kunstwelt beschreibt, kann man den sozialen Wandel dieses speziellen
Systems mit Begriffen der Evolution beschreiben. Kunstkritik entwickelt
sich in ihrer systemspezifischen Evolution durch drei miteinander
zusammenhängende Mechanismen: Variation, Selektion und Stabilisierung.
Die Selektion kann man wegen der doppelten Kontingenz der Kunstkritik
nicht beeinflussen, sehr wohl aber die Bandbreite der Variation.
Wenn man also Kunstkritik gezielt verändern möchte,
sollte man die Variationsbreite der einzelnen Kritiken stark erhöhen.
Auf diese Weise führt das System eine erhöhte Irritation
ein, auf die es wieder mit einer neuen Selektion und Stabilisierung
reagieren kann. Kunstkritik reagiert auf Irritationen wie jedes
evolutive System mit einer erhöhten Variationsbreite ihrer
Medienangebote. Einige dieser Variationen oder Varianten werden
vom Leser oder vom Publikum als die viel versprechendsten Varianten
angenommen, also positiv selegiert. Ihnen wird die Aufmerksamkeit
und die Anerkennung des Mediensystems zuteil. Die positive Selektionierung
auf Seiten des Lesers führt zu einer erneuten Ausdifferenzierung
des kunstkritischen Systems und zu seiner Restabilisierung. Darin
könnte man die gesellschaftliche Funktion der Kunstkritik
erkennen, dass sie die Evolution des Kunstsystems durch die Mechanismen
der Variation, Selektion und Re-Stabilisierung, also durch Komplexitätsreduktion
in ihrer Autopoieis aufrecht erhält.